Schweitzer Fachinformationen
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Die Frau mit den veilchenblauen Augen schritt langsam unter den Bäumen des Central Park dahin, die Hände tief in den Taschen ihres Trenchcoats. Neben ihr ging ihr älterer Bruder, sein ruheloser Blick nahm alles um sie herum wahr.
»Wie spät ist es?«, fragte sie zum wiederholten Mal.
»Punkt achtzehn Uhr.«
Es war ein milder Abend Mitte November, und die untergehende Sonne warf gesprenkelte Schatten auf die weiten Grünflächen. Sie überquerten den East Drive, kamen am Standbild von Hans Christian Andersen vorbei und gingen eine leichte Anhöhe hinauf. Und dann - als hätten sie denselben Gedanken - blieben sie stehen. Direkt vor ihnen, hinter der glatten Oberfläche des Conservatory Water, stand das Kerbs Memorial Boathouse einem Spielzeughaus gleich eingerahmt von den riesigen Fassaden der Gebäude, die die Fifth Avenue säumten. Es war eine Postkartenidylle: der kleine See, in dem sich der blutorangefarbene Himmel spiegelte, die kleinen Modellbau-Yachten, die durch das stille Wasser pflügten, die freudigen Rufe der Kinder. Soeben erschien ein Vollmond in der Lücke zwischen zwei Wolkenkratzern.
Ihre Kehle fühlte sich eng und trocken an, und ihre Halskette aus Süßwasserperlen kam ihr einengend vor. »Judson«, sagte sie. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann.«
Sie spürte, wie er den brüderlichen Griff um ihren Arm beruhigend anspannte. »Es wird schon nichts passieren.«
Mit pochendem Herzen blickte sie sich um und betrachtete die Szenerie, die sich vor ihr ausbreitete. Auf dem Podest vor dem See fiedelte ein Geiger vor sich hin. Auf einer der Parkbänke vor dem Bootshaus saß ein Liebespärchen, das nur Augen füreinander hatte. Auf der Bank daneben las ein Mann mit kurzem Haar und dem Körperbau eines Bodybuilders das Wall Street Journal. Hin und wieder kamen Pendler und Jogger vorbei. Im Schatten des Bootshauses bereitete ein Obdachloser seine Schlafstatt vor.
Und da stand er vor dem See - eine schlanke Gestalt, reglos, gekleidet in einen langen, hellen Mantel von vorzüglichem Schnitt, das blonde Haar im fahlen abendlichen Licht platinhell glänzend.
Die Frau holte tief Luft.
»Geh nur«, sagte Judson leise. »Ich bleibe in deiner Nähe.« Er ließ ihren Arm los.
Als die Frau losging, war ihr, als verschwände alles um sie herum, und sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Mann, der beobachtete, wie sie näher kam. Tausende Male hatte sie sich diesen Augenblick ausgemalt, hatte ihn in all seinen vielen Variationen durchgespielt, wobei er stets mit dem bitteren Gedanken endete, dass er nie wahr werden könnte, dass alles nur ein Traum bleiben würde. Und doch war er hier. Er sah älter aus, aber nicht viel: Die alabasterfarbene Haut, die feinen patrizischen Gesichtszüge, die funkelnden Augen, mit denen er sie aufmerksam betrachtete, erweckten in ihr einen Sturm der Gefühle, der Erinnerung und - selbst in dieser Zeit äußerster Gefahr - der Begierde.
Ein, zwei Schritte vor ihm blieb sie stehen.
»Bist du's wirklich?« In seiner Frage, die er mit seinem weichen, höflichen Südstaaten-Akzent stellte, lag so viel Gefühl.
Sie versuchte zu lächeln. »Es tut mir leid, Aloysius. So wahnsinnig leid.«
Er schwieg. Jetzt, nach all den Jahren, stellte sie fest, dass sie die Gedanken hinter seinen silberfarbenen Augen nicht mehr lesen konnte. Was empfand er wohl: Verrat? Groll? Liebe?
Auf einer Wange hatte er eine schmale, frische Narbe. Sie hob einen Finger und berührte sie leicht. Dann deutete sie impulsiv über seine Schulter.
»Schau mal«, flüsterte sie. »Nach all den Jahren bleibt uns immer noch der Mondaufgang.«
Er folgte ihrem Blick über die Skyline der Fifth Avenue. Zwischen den imposanten Gebäuden war der buttergelbe Mond aufgegangen, perfekt gerahmt vor einem perlmuttartigen, pinkfarbenen Himmel, der nach oben hin in ein kühles Violett überging. Er zitterte ein wenig. Als er wieder zu ihr hinschaute, hatte sich sein Gesichtsausdruck verändert.
»Helen«, flüsterte er. »Mein Gott, ich habe geglaubt, du bist tot.«
Wortlos hakte sie sich bei ihm unter und begann geistesabwesend mit ihm um den See zu gehen.
»Judson sagt, dass du mich aus . alldem hier herausholen wirst.«
»Ja. Wir fahren zurück in meine Wohnung im Dakota. Und von dort gehen wir dann nach -« Mitten im Satz hielt er inne. »Je weniger darüber gesprochen wird, desto besser. Es genügt, wenn ich sage: Dort, wo wir hingehen, hast du nichts zu befürchten.«
Sie umfasste seinen Arm fester. »Nichts zu befürchten. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut das klingt.«
»Es wird Zeit, dein Leben wieder aufzunehmen.« Er schob seine Hand in die Jacketttasche und zog einen goldenen Ring mit einem großen Sternsaphir hervor. »Fangen wir also am Anfang an. Erkennst du ihn wieder?«
Sie errötete, als sie ihn betrachtete. »Ich hätte nie geglaubt, dass ich ihn wiedersehen würde.«
»Und ich hätte nie gedacht, dass ich die Gelegenheit bekommen würde, ihn dir wieder anzustecken. Das heißt nicht bis zu dem Zeitpunkt, als Judson mir sagte, dass du noch lebst. Ich wusste, wusste, dass er die Wahrheit sagt - auch wenn niemand sonst mir geglaubt hat.«
Er fasste sie leicht am Unterarm und hob ihn an, als wollte er ihr den Ring anstecken. Seine Augen weiteten sich, als er an ihrem Handgelenk den Stumpf erblickte, an dessen Ende eine Narbe verlief.
»Ah, verstehe«, sagte er schlicht. »Natürlich.«
Es war, als sei der behutsame diplomatische Tanz, den sie aufgeführt hatten, plötzlich zu Ende. »Helen.« Auf einmal klang sein Tonfall ein wenig schroff. »Warum hast du bei diesem grauenvollen Plan mitgemacht? Wieso hast du mir so vieles verschwiegen? Weshalb hast du nicht .?«
»Bitte, ich möchte nicht darüber sprechen«, unterbrach sie ihn rasch. »Es gab für alles Gründe. Es ist eine schreckliche, eine schreckliche Geschichte. Ich werde sie dir erzählen - alles. Aber jetzt ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort dafür. Also bitte - steck mir den Ring an und lass uns gehen.«
Sie hob die rechte Hand, und er schob ihr den Ring auf den Finger. Gleichzeitig sah sie, wie sein Blick an ihr vorbeiging zu der hinter ihr liegenden Szenerie.
Plötzlich schrak er zusammen. Einen Moment stand er, ihre Hand immer noch in der seinen, reglos da. Dann wandte er sich anscheinend ruhig dorthin, wo ihr Bruder stand, und gab ihm ein Zeichen, er solle sich ihnen hinzugesellen.
»Judson«, hörte sie ihn leise sagen, »schaff Helen weg von hier - unauffällig, aber schnell.«
Die Furcht, die eben erst abgeklungen war, überfiel sie von neuem. »Aloysius, was -«
Aber mit einem kurzen Kopfschütteln schnitt er ihr das Wort ab. »Bring sie ins Dakota«, sagte er zu Judson. »Ich treffe euch dann dort. Bitte geht. Sofort.«
Judson griff nach Helens Hand und ging mit ihr davon, fast so, als hätte er diese Entwicklung vorhergesehen.
»Was ist denn?«, fragte sie ihn. Keine Antwort.
Sie blickte über die Schulter. Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass Aloysius eine Pistole gezogen hatte und auf einen der Modellyachtbesitzer richtete. »Stehen Sie auf«, sagte er jetzt. »Halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann.«
»Judson -«, begann sie noch einmal.
Aber er ging nur schneller und zog sie mit sich.
Plötzlich ertönte hinter ihnen ein Schuss. »Lauft!«, rief Pendergast.
Im nächsten Augenblick brach über die friedvolle Szenerie die Hölle herein. Menschen liefen schreiend auseinander. Judson packte Helen fester, und sie fielen in Laufschritt.
Schüsse aus automatischen Waffen knatterten. Judsons Hand wurde aus ihrer gerissen, und er stürzte.
Erst glaubte sie, er sei gestolpert, dann aber sah sie, dass aus seinem Mantel Blut hervorspritzte.
»Judson!«, schrie sie, blieb stehen und beugte sich über ihn.
Er lag auf der Seite, blickte zu ihr hoch und wand sich vor Schmerzen. »Lauf weiter«, stieß er röchelnd hervor. »Lauf .«
Wieder Geknatter aus der automatischen Waffe, und erneut zischte eine Linie zwitschernden Todes durchs Gras, als die Kugeln sich in die Erde bohrten. Dann wurde Judson von einer weiteren Kugel getroffen, und der Aufprall schleuderte ihn auf den Rücken.
»Nein!«, schrie Helen und zuckte zurück.
Das Chaos steigerte sich: Schreie, Schüsse, die Laufschritte fliehender Menschen. Helen nahm nichts davon wahr. Sie sank auf die Knie und starrte erschrocken in Judsons offene, aber blicklose Augen.
»Judson!«, rief sie. »Judson!«
Einige Sekunden, vielleicht auch mehr, waren vergangen - Helen wusste es einfach nicht -, als sie Aloysius ihren Namen rufen hörte. Sie hob den Kopf. Er kam mit gezogener Pistole auf sie zugerannt und schoss gleichzeitig zur Seite.
»Fifth Avenue!«, rief er. »Lauf zur Fifth Avenue!«
Wieder fiel ein Schuss, und auch Aloysius stürzte zu Boden. Das schreckte Helen aus ihren Gedanken. Sie rappelte sich auf, ihr Trenchcoat nass vom Blut des Bruders. Aloysius war noch am Leben, er hatte es geschafft, wieder auf die Beine zu kommen, war hinter einer Bank in Deckung gegangen und feuerte nach wie vor auf das Pärchen, das kurz zuvor noch herumgeknutscht hatte.
Er gibt mir Deckung, damit ich fliehen kann.
Blitzartig drehte sie sich um und rannte los, so schnell sie konnte. Sie würde zur Fifth Avenue laufen, die Schützen in der Menge abschütteln, sich dann zum...
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