Schweitzer Fachinformationen
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Das von einem Dunst aus Rauch und Staub gefilterte Morgenlicht fiel schwach auf die Kreuzung Broadway/Seventh Avenue. Die Straße war nicht besser als ein Feldweg, dessen schlaglochübersäte Oberfläche von Pferden und Wagen so festgetreten war, dass sie so undurchlässig wie Zement zu sein schien, abgesehen von den schlammigen Bereichen rund um die Gleise der Straßenbahn und den im Dung versinkenden Pfosten zum Anbinden der Pferde.
Die Kreuzung trug den Namen Longacre. Sie war das Zentrum der Fuhrgeschäfte, ein Randbezirk der rasch wachsenden Stadt, in dem Mietställe standen und die Stellmacher ihrem Handwerk nachgingen.
An diesem kühlen Morgen war es in Longacre und den davon abzweigenden Gassen und Straßen bis auf gelegentliche Fußgänger und vorbeifahrende Pferdekarren ruhig. Niemand schenkte der jungen Frau mit den kurzen dunklen Haaren, die in ein lilafarbenes Kleid von ungewöhnlichem Schnitt und Stoff gekleidet war, viel Aufmerksamkeit, als sie aus einer Gasse trat und sich mit zusammengekniffenen Augen und gerümpfter Nase umschaute.
Constance Greene blieb stehen und ließ die erste Welle der Eindrücke auf sich wirken, sorgsam darauf bedacht, sich den Aufruhr der Gefühle, der sie zu überwältigen drohte, nicht anmerken zu lassen. Die Anblicke, Klänge und Gerüche weckten unerwartet Tausende von Kindheitserinnerungen in ihr, Erinnerungen so fern, dass sie kaum wusste, dass sie sie besaß. Der Gestank der Stadt traf sie zuerst und am heftigsten, eine Mischung aus Erde, Schweiß, Pferdemist, Kohlenrauch, Urin, Leder, gegrilltem Fleisch und dem stechenden Ammoniakgeruch von Lauge. Als Nächstes die Anblicke, die einst alltäglich für sie gewesen und nun so fremd waren - die Telegrafenmasten, unweigerlich in geraden Reihen, die Gaslaternen an den Ecken, die zahllosen Karren, die auf oder neben den Gehsteigen standen, die allgegenwärtige Schäbigkeit. Alles kündete von einer Stadt, die so rasch wuchs, dass sie kaum mit sich selbst Schritt halten konnte. Seltsamerweise fehlte das weiße Rauschen des modernen Manhattan: das Tosen des Straßenverkehrs, das Hupen der Taxis, das Summen der Kompressoren, Turbinen, Klimaanlagen, das unterirdische Rumpeln der U-Bahn. Stattdessen war es relativ ruhig: klappernde Pferdehufe, Rufe, Pfiffe und Gelächter, gelegentliches Peitschenknallen und aus einem nahe gelegenen Saloon der blecherne Klang eines verstimmten Klaviers. Sie hatte sich so an den Anblick der Boulevards Manhattans als vertikale Stahlschluchten gewöhnt, dass es ihr schwerfiel, die Szenerie zu verarbeiten, in der, so weit das Auge reichte, die höchsten Gebäude nicht mehr als drei oder vier Stockwerke hatten.
Nach einer Weile holte Constance tief Luft. Dann wandte sie sich nach Süden.
Sie kam an einem schäbigen Restaurant vorbei, das Ochsenschwanzgulasch, Kalbssülze oder Schweinsfuß mit Kraut für jeweils fünf Cent anbot. Davor stand ein emsiger Zeitungsjunge mit dem Arm voller Zeitungen, dessen helle schrille Stimme die Schlagzeilen des Tages verkündete. Sie ging langsam weiter und starrte ihn an, als er ihr hoffnungsvoll eine entgegenstreckte. Sie schüttelte den Kopf und lief weiter, aber nicht, ehe sie das Datum registriert hatte: Dienstag, der 27. November 1880.
November 1880. Ihre neunzehn Jahre alte Schwester Mary wurde bei der Arbeit im Five Points House of Industry halb zu Tode geschunden. Und ihr Bruder Joseph, zwölf, saß seine Strafe auf Blackwell's Island ab.
Und ein gewisser Arzt hatte kürzlich mit seinen grausigen mörderischen Experimenten begonnen.
Bei der Vorstellung, dass sie alle am Leben waren, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Vielleicht kam sie noch rechtzeitig.
Sie langte in den Überwurf ihres Kleids und berührte den beruhigenden Griff ihres antiken Stiletts und die achthundertfünfzig Dollar in zeitgenössischen Scheinen. Sie schritt schneller aus, in Richtung Herald Square, einem besseren Teil der Stadt.
Ein Dutzend Blocks in Richtung Süden entdeckte sie eine Schneiderei, die zusätzlich zu maßgeschneiderten Kleidern auch vorgefertigte Ausstattungen verkaufte. Eine Stunde später trat sie wieder heraus, einen Verkäufer, beladen mit einer Hutschachtel und zwei großen Taschen, im Schlepptau. Statt des lilafarbenen Kleids trug Constance nun ein pfauenblaues Turnürenkleid aus Seide mit weißen Rüschen und dazu passend eine Haube und einen schweren Blazer. Als sie rasch zum Straßenrand schritt, folgten ihr eher bewundernde als neugierige Blicke. Constance wartete, während der Verkäufer einen Hanson für sie heranwinkte.
Der Kutscher wollte gerade vom Bock steigen, als Constance schon selbst den Schlag öffnete und - einen Fuß im Knöpfstiefel auf dem Trittbrett - mühelos in das Abteil sprang.
Der Kutscher zog die Augenbrauen hoch und kletterte zurück auf den Bock, während der Verkäufer die Hutschachtel und die Taschen in die Droschke stellte. »Wohin, Ma'am?«, fragte er und griff nach den Zügeln.
»Zum Fifth Avenue Hotel«, sagte Constance und hielt ihm eine Dollarnote hin.
»Sehr wohl, Ma'am«, erwiderte der Kutscher und steckte sie ein. Ohne ein weiteres Wort trieb er sein Pferd an, und innerhalb eines Augenblicks hatte sich das Gefährt nahtlos in den fließenden Mittagsverkehr eingereiht.
Es waren noch ein Dutzend Blocks bis zu ihrem Ziel, dem opulenten fünfstöckigen Palast aus Marmor und Backstein, der an der Fifth Avenue den gesamten Block gegenüber dem Madison Square Garden einnahm. Die Droschke kam vor dem Hotelportal zum Stillstand. »Brr, Rascal«, rief der Fahrer.
Constance öffnete die kleine Klappe auf der Rückseite des Dachs. »Würden Sie bitte auf mich warten?«, fragte sie.
Er sah von seinem erhöhten Sitz auf sie hinab. »Gewiss, Ma'am.« Er löste die Türverriegelung, und sie stieg aus. Augenblicklich stürzten zwei Türsteher nach vorn, um ihre Taschen und die Hutschachtel zu ergreifen. Ohne zu warten, schritt Constance zügig unter den Reihen korinthischer Säulen hindurch und über den weiß-roten Marmorboden der Eingangshalle.
Hinter einem Frisiersalon, dem Telegrafenbüro und einem Restaurant entdeckte sie den großen, aus Holz geschnitzten und auf Hochglanz polierten Empfangstresen. Dahinter standen mehrere Männer in identischen Livreen. Einer von ihnen sprach sie an.
»Sie suchen nach dem Damensalon, Madam?«, fragte er ehrerbietig. »Sie finden ihn in der ersten Etage.«
Constance schüttelte den Kopf. »Ich hätte bitte gern ein Zimmer.«
Der Mann zog die Augenbrauen hoch. »Für Sie und Ihren Gatten?«
»Ich reise allein.«
Die Augenbrauen wanderten diskret wieder nach unten. »Ich verstehe, Madam. Ich fürchte, unsere Standardzimmer sind bereits ausgebucht -«
»Dann eine Suite«, erwiderte Constance.
Die Empfangshalle des Hotels war ein großer Saal mit hoher Gewölbedecke, und die stete Prozession plaudernder Gäste, deren Schritte vom schachbrettgemusterten Marmor widerhallten, machte es ihr schwer zu hören.
»Sehr wohl, Madam.« Der Mann drehte sich zu einem Wandregal hinter ihm, zog ein ledergebundenes Buch heraus und schlug es auf. »Wir verfügen über zwei freie Suiten in der dritten Etage und mehrere in der ersten, wenn Sie nicht geneigt sind, die senkrechte Bahn zu nutzen.«
»Die was?«
»Die senkrechte Bahn. Sie hält in jeder Etage des Gebäudes.«
Constance begriff, dass er den Aufzug meinte. »Nun gut. Der erste Stock ist ausgezeichnet.«
»Hätten Sie gern Räume mit Ausblick auf -«
»Geben Sie mir einfach die beste verfügbare, wenn Sie so freundlich sein wollen.« Constance hätte schreien mögen. 27. November. In dem Wissen, dass sie rechtzeitig eingetroffen war, um ihre Schwester zu retten, schien jeder an solche Trivialitäten verschwendete Augenblick eine Ewigkeit.
Der Hotelmanager war zu gut ausgebildet, um ihre Ungeduld zu kommentieren. Er schlug eine schwere Seite im Gästebuch um und tauchte seine Feder in ein danebenstehendes Tintenfass. »Gewiss, Madam. Dort ist eine ausgezeichnete Ecksuite frei, komplett mit Salon, Schlafzimmer, Ankleideraum und Bad.« Er hob die Feder. »Wir berechnen sechs Dollar pro Tag oder dreißig Dollar die Woche. Wie lange möchten Sie bei uns bleiben?«
»Eine Woche.«
»Dienstmädchen?«
»Wie bitte?«
»Ihre Dienstmädchen? Wie viele reisen mit Ihnen, Madam?«
»Keine . Zwei.«
»Zwei. Sehr gut. Wir können sie im Dienstbotenquartier unterbringen. Natürlich mit Mahlzeiten?«
Constance, die immer unruhiger wurde, nickte.
»Darf ich um Ihren Namen bitten?«
»Mary Ulcisor«, sagte sie nach winzigem Zögern.
Er kritzelte in das Gästebuch. »Das macht dann fünfunddreißig Dollar und fünfzig Cent.«
Sie reichte ihm vier Zehn-Dollar-Noten. Als sie sich umdrehte, sah sie zwei Träger, die geduldig mit ihrem bescheidenen Gepäck auf sie warteten.
»Lassen Sie die bitte auf meine Zimmer bringen«, wies sie den Manager an, der ihr das Wechselgeld herausgab. »Ich komme später . gemeinsam mit meinen Dienstmädchen.«
»Gewiss.«
Constance gab jedem der Träger einen Vierteldollar und dem Manager einen ganzen. Er blickte überrascht und nahm ihn dankbar entgegen. Sie verließ die Hotelhalle und kehrte zum Eingang zurück, wobei sie nur kurz stehen blieb, um eine Straßenkarte von Manhattan zu erwerben.
Fahrer und Droschke warteten draußen vor dem Portal im Staub und Lärm der Fifth Avenue. Im Näherkommen musterte Constance den Mann genauer. Er war vermutlich Mitte...
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