Schweitzer Fachinformationen
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Mutter ist weg. Stimmt nicht, sie liegt noch im Bett, aber Matuschek kann nichts anderes mehr denken. Er rennt durch das Haus, als gäbe es kein Morgen, eher ein Tier als ein Mensch so früh um sechs. Eine halbe Stunde zu spät ist er schon, weil sie ihn nicht geweckt hat. Der Tisch ist nicht gedeckt und der Ofen kalt. Matuschek fasst an die Heizung, aber auch die ist aus. Bevor er losfährt, muss er aufs Klo. Eine Dreiviertelstunde dauert es bis zum Flughafen, und wenn dann noch was in ihm steckt, wird es eng. Man hat so seine Zeiten, und bei ihm kommt es immer morgens. Essen ist nicht das Problem, dafür hat er Brote und eine Thermoskanne Tee, nur keinen schwarzen, sonst muss er zu oft pinkeln. Hagebutte mit Hibiskus macht sie ihm oft, manchmal auch Pfefferminze. Das hat sich eingespielt, so wohnen sie seit Jahren zusammen, sie unten, er oben. Morgens macht sie ihm Frühstück, und wenn er von der Spätschicht kommt, steht der Teller in der Mikrowelle, da muss er nur den Knopf drücken. Auch seine Wäsche wäscht sie. Du weißt doch gar nicht, wie das geht, schimpft sie dann immer. Wenn du mal keine Frau findest.
Aber das fehlt heute wie überhaupt alles. Matuschek redet vor sich hin. Da ist etwas ganz und gar nicht in Ordnung und er muss gleich los. Schon fangen seine Hände an zu zittern. Die Stille drückt und lässt ihn schwer atmen. Sonst klopft sie immer mit dem Besenstiel von unten an die Decke. Seine Stimme überschlägt sich. Auch dass er sich atmen hört, ist nicht gut.
Er stellt das Radio an und ist gleich beim Wetter. Eine Luftmassengrenze über dem Norden und Osten trennt sehr warme und labil geschichtete Luft von deutlich kühlerer in den übrigen Landesteilen und bewegt sich kaum von der Stelle. Er will nicht, aber er geht nochmal alles ab, es sind ihre Wege, vom Bad in die Küche ins Wohnzimmer und zurück, und vielleicht lässt sich ja dadurch etwas wiederherstellen von der gewohnten Ordnung. Aber in der Küche ist sie nicht, im Wohnzimmer ist sie nicht, im hinteren Zimmer auch nicht, und die Haustür ist abgeschlossen. Bleibt nur das Schlafzimmer und da liegt sie dann, hat die Augen offen, macht aber immer noch keine Anstalten aufzustehen oder irgendwas zu tun.
Seitdem läuft er durchs Haus und spricht mit ihr. Er muss zur Arbeit und nichts ist gepackt. Scheiße, Mutter, brüllt es auf einmal aus ihm heraus, und er haut mit der Hand gegen die Tür. Aber die gibt nach, und er stolpert und fällt fast hin.
Über sich hört er es scharren, die Tauben, wer soll die füttern, das macht sonst sie, und fliegen müssen die auch. Geht heute nicht, geht alles gar nicht. Matuschek lässt sich auf den Stuhl sinken, der sein Frühstücksplatz ist. Was soll er jetzt machen, was macht man denn überhaupt??
Draußen geht Licht an, das ist vom Russen, ist der schon auf?? Mutter mag ihn nicht, kaum sind wir sie los, kommen die wieder an, hat sie immer geschimpft, seit der Russe mit seiner Frau neben ihnen wohnt. Jetzt aber, denkt Matuschek, wenn man das noch Denken nennen kann, eher ist es ein Impuls, dem er folgt, als er ohne Jacke in die Kälte tritt. Es ist noch dunkel draußen.
Nicht der Russe öffnet, sondern seine Frau. Als sie Matuschek sieht, weicht sie zurück und macht gleich wieder zu. Er hört sie etwas nach hinten rufen und dann steht plötzlich der Russe da. Matuschek bringt bloß ein Wort raus und deutet mit der Hand auf sein Haus.
Was ist mit Mutter, fragt der Russe.
Mutter, sagt Matuschek wieder, entlang seiner Hand.
Also gut, sagt der Russe, ruft was ins Haus, zieht eine Jacke über und geht mit.
Das Schlafzimmer riecht nach ihr und etwas anderem. Matuschek macht erstmal Licht. Mutter liegt da und starrt an die Decke. Der Russe tut erstmal gar nichts, presst bloß die Hände zusammen und murmelt irgendwas. Dann geht er zum Fenster und öffnet es.
Bessere Luft, sagt er, auch für sie.
Er geht zum Bett und fährt ihr mit der Hand über die Augen. Die sind jetzt zu.
Komm, sagt er zu Matuschek, ist nicht mehr unsere Welt.
In der Stube drückt er ihn auf einen Stuhl.
Kaffee??
Dann holt er sein Handy aus der Hosentasche und ruft den Arzt.
Als der Arzt kommt, steht Kaffee auf dem Tisch. Der Russe hat drei Tassen hingestellt und der Arzt nimmt gern eine. Der Arzt ist eine Ärztin und jung obendrein. Dass sie nicht von hier sein kann, merkt man am R, das rollt sie weiter hinten, aber anders als der Russe.
Todeszeitpunkt ist etwa gegen drei. Im eigenen Bett eingeschlafen. Das schaffen nicht mehr viele. Sie sind der Sohn, fragt sie den Russen. Der deutet auf Matuschek.
Sie sind der Sohn, fragt die Ärztin mit unveränderter Stimme, nur dass sie jetzt Matuschek ansieht. Der hebt den Kopf und nickt. Dann nimmt er die Milchtüte vom Tisch und will sie der Ärztin reichen, aber die sagt, danke, keine Milch.
Zucker??
Auch nicht. Sie müssen das hier unterschreiben.
Matuschek nimmt den Stift und setzt seinen Namen ans Ende des Blattes. Seine Unterschrift wird zittrig, es ist auch ihr Name.
Mein Beileid. Sie können jetzt den Leichenwagen rufen. Zu welchem Bestatter gehen Sie??
Matuschek guckt sie nur an.
Die Ärztin wartet kurz, dann schaut sie zum Russen.
Wir kümmern uns, sagt der Russe.
Gut, sagt die Ärztin, für die Leichenschau muss ich Ihnen leider etwas berechnen. Zur Feststellung des Todes.
Sie trinkt einen Schluck, wartet und schaut wieder zum Russen. Der berührt Matuschek leicht an der Schulter.
Matuschek steht auf und schlurft zu ihrem Nähtisch. In der mittleren Schublade bewahrt sie immer das Geld auf. Er tastet, bis er die zusammengerollten Scheine findet, dann gibt er der Ärztin das Bündel und setzt sich wieder auf seinen Stuhl. Die Ärztin zieht ein paar Scheine heraus und gibt ihm den Rest zurück.
Ihre Quittung. Alles Weitere besprechen Sie bitte mit dem Bestatter. Nochmal mein Beileid.
Als die Ärztin sich verabschiedet, bleibt er sitzen. Der Russe telefoniert wieder, aber das ist weit weg. Wieder hält oben ein Auto, schwarz diesmal, mit langem Heck. Die zwei Männer, die da aussteigen, tragen Anzüge. Der Russe empfängt sie, spricht mit ihnen und leitet sie ins Schlafzimmer. Matuschek kann das durch die Flurtür sehen. Mittlerweile ist es nicht mehr dunkel, aber hell wird es auch nicht, geschlossene Wolkendecke heute und eine Temperatur um den Gefrierpunkt. Nicht mal richtig geschneit hat es, liegt nur Griesel auf dem welken Gras. Sie gehen wieder raus, um eine Trage zu holen. Als sie damit zurück zum Auto gehen, liegt Mutter drauf.
Der Russe ist die ganze Zeit geblieben, aber jetzt steht er auf, geht in den Flur und nochmal in ihr Zimmer. Es klickt, dann ist das Licht aus und der Russe zurück.
Komm mit, sagt er, was du jetzt brauchst, ist Schnaps, in deinem Haus ist es zu kalt dafür.
Beim Aufwachen sitzt Matuschek ein Wespenschwarm im Schädel, obwohl doch Winter ist. Er steht auf und geht vor die Tür, vielleicht verzieht sich dann der Schwarm. Draußen ist es glatt, über Nacht muss es gefroren haben, der wenige Schnee ist verharscht. Matuschek stellt sich an die Hecke und will gerade eine Anklage in den Schnee pissen, da kommt der Russe raus.
Das ist gestern alles sehr unglücklich gelaufen, sagt er, wir sind doch Freunde?? Und fängt auf einmal laut an zu lachen, weil Matuschek ihn nur blöd anschaut und lieber schnell die Hose hochzieht. Towarischtsch, du siehst furchtbar aus, komm nachher zum Mittag rüber, es gibt Hecht.
Gestern ist Matuschek einfach mitgegangen. Du musst trinken, hat der Russe gesagt, aber nicht allein, nur wer allein trinkt, ist auch Alkoholiker.
Er holt zwei Gläser und eine Flasche Klaren aus der Vitrine und stellt sie auf den Tisch.
Ist guter Wodka aus der Heimat, nicht das Zeug von hier.
Matuschek zögert, es ist früh und er hat noch nichts gegessen, aber an Essen ist gerade nicht zu denken, also nickt er nur, leert sein Glas und stellt es wieder hin, damit der Russe nachschenkt.
Nun mal langsam, brummt der und ruft was in die Küche.
Sie sitzen im Wohnzimmer auf der Couch. Die Couch gefällt ihm. Sie geht über Eck, dass man sich auch gut hinlegen kann, und am liebsten würde er das jetzt tun, doch da sind überall Kissen, also bleibt er sitzen. Er sieht sich um. Der Couchtisch ist aus Glas und hat ein Unterfach für Illustrierte. Obenauf liegt eine übers Angeln, das interessiert Matuschek, da schaut er gleich mal rein. Ein Mann mit einem Hecht im Arm hält dessen Maul in Richtung Linse. Auch die Vitrine an der Wand ist aus Glas, auf ihr stehen Fotos in...
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