Schweitzer Fachinformationen
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Kathi fürchtete die Finsternis. Besonders im Winter, wenn die Dunkelheit so lange bedrohlich über der kahlen Landschaft von Mürzzuschlag lag. Sie blickte sich nach allen Seiten um. Kein Mensch war im Ort zu sehen. Die Straße lag um diese Stunde noch dunkel und verlassen da. Das einzige Licht, das sie entdecken konnte, leuchtete in einer Werkstatt hinter dem Pfarrhof beim Tischlermeister Ignaz Grabler. Ein einsames Licht in einer unheimlichen Scheune. Dort, wo der Vater mit seinem behinderten Sohn ab den frühen Morgenstunden unter dem Kreischen und Klirren einer Säge Holz verarbeitete.
Sie hatte Angst vor den beiden groß gewachsenen Männern mit ihrer schmutzigen Arbeitskleidung und dem finsteren Blick. Selbst wenn die Mutter ihr von klein auf beizubringen versuchte, dass man nicht vom Aussehen der Leute auf ihren Charakter schließen könne, traute sie den beiden Männern nicht über den Weg. Gewisse Mürzzuschlager waren eben unheimlich und furchterregend. Sie hatte ein Gespür dafür.
Mutterseelenallein vor Tagesanbruch unterwegs, zählte sie leise die Schritte und holte tief Luft. Ihr Weg führte sie von der Hammergasse in die enge Königsbrunngasse, wo ein schmaler Weg entlang der Mürz bis zur Brücke nach Lambach ging. Irgendwo vor ihr, weit weg, hörte sie die Hammerwerke schlagen. Sie starrte in die Dunkelheit und gab sich Mühe, nicht darüber nachzudenken, was alles passieren könnte. Neben ihr wälzte sich der dunkle Fluss dahin, und ein kühler Wind wehte ihr entgegen.
Trotz dieser innerlichen Unruhe versuchte sie, ruhig zu atmen. Wie jeden Tag wurde ihr beim Aufbruch von zu Hause bewusst, wie sehr sie es fürchtete, sich um 5 Uhr morgens zur Backstube aufzumachen. Es war ihr vom Vater aufgetragen, jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe beim Bäcker Kleinschuster Brot und Semmeln für das Kaffeehaus abzuholen. Kuchen, Torten sowie Teegebäck wurden von ihrem Vater selbst gebacken.
Bis vor einem Jahr noch hatte die Mutter mit demselben Widerwillen wie sie jetzt den Weg nach Lambach auf sich genommen. Damals war es Kathi noch gegönnt, ein wenig auszuschlafen, bis sie ins väterliche Kaffeehaus zur Arbeit gehen musste. Gemeinsam mit einem Dienstmädchen war sie während der kühlen Jahreszeit für das Brennholz zuständig. Die beiden Mädchen hatten das Holz in aller Früh vom Keller herauf zu schleppen, um damit die Öfen im gesamten Kaffeehaus zu beheizen. Anschließend hieß es, schleunigst Küche und Gasträume sauber zu machen. In den Wintermonaten war es sehr unangenehm, bei kalten Temperaturen drinnen den Holzboden zu schrubben und vor dem Haus den Gehsteig von Schnee und Eis zu befreien. Dann dauerte es, bis alle Öfen die notwendige Wärme abgaben. Ihr Vater war darauf bedacht, dass es seine Gäste frühmorgens bereits gemütlich warm hatten. Sie mussten sich wohlfühlen und so viel wie möglich im Kaffeehaus konsumieren, damit er am Abend genug Geld in der Kasse vorfand. Viele Stammgäste kamen gerade wegen der wohligen Wärme, um sich auf dem Weg zur Arbeit bei einem frisch gebrühten Kaffee oder schwarzem Tee mit Buttersemmel aufzuwärmen. In einem Nebenraum stand für die Männer ein Billardtisch. Einige, die nichts Besseres zu tun wussten, blieben sogar bis zu Mittag im Kaffeehaus. Sie spielten Billard, Karten oder tratschten über die Geschehnisse im Ort. An brisantem Gesprächsstoff und Klatsch mangelte es nie im beschaulichen Mürzzuschlag. Es gab nichts Einfacheres und wohl auch nichts Schöneres für manche, als über ihre Mitmenschen zu reden und die Leute durch dumme Gerüchte in Aufruhr zu bringen.
Vor knapp einem Jahr befiel ihre Mutter dann diese furchtbare Krankheit mit den nächtlichen Atembeschwerden. Darauf folgten trockener Keuchhusten und stechende Schmerzen in der Brust. Der Arzt ging davon aus, dass es nur eine starke Erkältung wäre, die sie sich in der feuchten Luft eingefangen hatte. Ihr Hals schwoll an und schmerzte fürchterlich. Die arme Frau bekam kaum noch Luft. Dem schloss sich starker Schüttelfrost an, sodass sich ihr Zustand von Tag zu Tag verschlechterte. Das Fieber stieg und ließ die Mutter kraftlos werden. Eines traurigen Morgens war sie nicht mehr aufgewacht. Eine Lungenentzündung hatte sie in kürzester Zeit hinweggerafft.
Ihr Vater, der sich von diesem Tag an in eine depressive Hilflosigkeit flüchtete, übertrug der Tochter nun weitere Verpflichtungen. Ab sofort hatte sie zusätzlich - im Winter schon lange vor Tagesanbruch - mit dem Buckelkorb in die Backstube nach Lambach zu gehen. Auch wenn der Vater selbst nicht diese Mühe auf sich nehmen wollte, legte er Wert darauf, seinen Kunden weiterhin zum Frühstück frisches Gebäck zu servieren. Ihr geschäftstüchtiger Vater musste es wohl wissen, wie man einen gutgehenden Betrieb führte. Er hatte das Café Semmering von seinem Vater übernommen. Von jungen Jahren an befand er sich in dessen strenger Lehre und führte seit etlichen Jahren den Familienbetrieb zunächst mit seiner Frau, nun mit seiner Tochter weiter.
Er wusste, dass seine Kathi anders war als die übrigen 15-jährigen Mädchen im Ort. Sie war zart, schüchtern und ängstlich. Ihr hübsches Gesicht war makellos. Die langen blonden Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten, um bei den jungen Männern nicht aufzufallen. Nicht so wie ihre kräftig gebaute Freundin Rosa mit dem burschikosen Kurzhaarschnitt, die sich von den jungen Kerlen im Ort nichts gefallen ließ. Sogar mit den frechen Handwerksgehilfen hatte sich Rosa schon angelegt. Von Anfang an stellte das Mädchen klar, dass sie sich nicht hänseln ließ, und hatte somit für immer ihre Ruhe. Kathi hingegen hatte Angst vor den Rotznasen im Ort. Sie machte einen weiten Bogen um die Kerle, wenn sie in einer Gruppe beieinanderstanden. Außer einem, dem schüchternen Richard vom Nachbarhaus, dem vertraute sie. Er war der hübsche Sohn des wohlhabenden Kaufmanns Huber und genauso ängstlich wie sie. Vor dem großen zarten Jungen mit dem Blondschopf und dem Bubengesicht hatte sie keine Angst. Wann immer sie ihn traf, lächelte er ihr mit freundlichen Augen verstohlen zu. Sie wusste jedoch, dass er sie weder vor den anderen Raufbolden beschützen noch sich selbst zur Wehr setzen konnte, wenn sie ihn wegen seines unsicheren Auftretens und dem kindlichen Aussehen auslachten. Richard verstand ihre Ängste, gelegentlich wechselten sie ein paar Worte über die anderen Jugendlichen in Mürzzuschlag. Er war schüchtern und suchte auch keinen Anschluss. Tagsüber musste er seinem Vater im Kaufhaus in der Wienerstraße helfen, morgens und abends half er bei der Pflege seiner kranken Mutter mit.
Auch Kathi blieb keine Zeit dafür, sich mit anderen Jugendlichen zu treffen, geschweige denn, eine höhere Schule zu besuchen. Dafür zeigte der geschäftstüchtige Vater kein Verständnis. Bei ihm drehte sich alles ums Geld und sein Kaffeehaus in der Hammergasse. Während andere Jugendliche ihres Alters sich gelegentlich im Park aufhielten, musste sie wie Richard im elterlichen Betrieb hart arbeiten. Und gerade deshalb wurden sie beide oftmals ausgelacht und galten als Außenseiter im Ort.
Obendrein hatte sie nach dem frühen Tod der Mutter auch den Haushalt zu führen. Putzen, Kochen, Wäsche machen - und das ebenfalls für ihren ein paar Jahre älteren Bruder Hans - zählte zum harten Tagesablauf von Kathi. Ihr Vater meinte immer, der Hans sei für das Geschäft und die Arbeit nicht zu gebrauchen, deshalb hatte er nichts dagegen, als dieser vor zwei Jahren eine Stelle als Amtsdiener antrat. Kathi liebte ihren Bruder von Herzen und vertrat an dem unsicheren jungen Mann trotz ihrer Jugend gerne die Mutterstelle.
Ängstlich betrachtete sie den lang gezogenen Holzsteg über den dunklen Fluss. Es war die einzige Überquerung der Mürz, die vom Ortskern in Richtung Lambach führte. Dort befand sich die abgelegene Backstube des Bäckermeisters Kleinschuster. Sie hörte das stürmische Wasser rauschen, den Wind in den Bäumen pfeifen und die Hammerwerke arbeiten. Der Duft von Brot und Semmeln, der sie in Lambach erwartete, sowie die Vorfreude auf eine Buttersemmel vom Bäckermeister, die sie jeden Tag mit auf den Rückweg bekam, vermochten ihr Unwohlsein kaum zu mindern.
Das Herz schlug ihr an diesem kühlen Novembermorgen wie so oft bis zum Hals. Sie musste noch bei Dunkelheit über den schmalen Holzsteg auf die andere Seite der Mürz gehen. Feuchtigkeit und Kälte krochen ihr unerbittlich in die Glieder. Den Teil über den knarrenden Steg wollte sie wie immer rennen, dann brauchte sie nur noch den Weg an den kahlen Büschen und Bäumen entlang der Mürz weiterzugehen, um ein paar Minuten später den Bäckerbetrieb zu erreichen. Dort, in einem kleinen Innenhof, befand sich die aus Ziegeln gemauerte Backstube mit dem rauchenden Kamin, den man bei Tag von Weitem sehen konnte. Beim etwas dicklichen Meister mit den roten Wangen und der Bäckermütze auf dem Kopf durfte sie sich gerne ein paar Minuten am heißen Backofen wärmen. Es blieb jedoch nur wenig Zeit dafür. Sie musste rasch zurück ins Kaffeehaus, um rechtzeitig mit der Arbeit fertig zu sein, bevor die ersten Gäste eintrafen. Der rüstige Bürgermeister war meist der Erste, der auf eine Tasse Kaffee vorbeikam und genüsslich seine Zigarre rauchte, ehe er stolzen Hauptes in die Kanzlei im Rathaus ging. Später kam der alte Apotheker mit dem schwergewichtigen Fleischermeister, bevor auch sie für ihre Kunden den Laden öffneten.
Wenn mir nur niemand entgegenkommt, ging es ihr im Kopf herum. Und als ob sie mit ihrer Befürchtung das Unheil heraufbeschworen hätte, tauchte plötzlich eine finstere Gestalt am Ende des Steges auf und versperrte ihr breitbeinig den Weg. Eine dicke Wollmütze verdeckte das Gesicht....
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