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Wie ein ganz normaler Familientag beginnt
Ich stelle mir gerne vor, wie es wäre, im Lotto zu gewinnen. Was würde ich dann machen? »Gar nichts, mein Leben geht weiter wie bisher« ist natürlich Blödsinn.
aus Charlottes Tagebuch
Als Armin Trost vor die Tür geht, weiß er, was er will. Aus, Schluss und vorbei. Er wird seinen Schreibtisch räumen, sich von seinen Kollegen verabschieden und seinen Job an den Nagel hängen. Noch heute. Er malt es sich aus wie in einem Film. Also mit Hintergrundmusik. Eine rockige Ballade. Irgendetwas Cooles auf jeden Fall. Etwas, das ausdrückt, dass er Herr über die Situation ist. Ein Typ, der die richtige Entscheidung trifft.
Als Armin Trost vor die Tür geht, fallen ihm außerdem zwei Dinge sofort auf. Erstens ist es viel zu kalt und feucht, um im kurzen Pyjama hinauszulaufen und die Zeitung zu holen. Und zweitens graut der Morgen mit sattem Violett. Das ist das Licht, das noch vor dem Morgenrot auftaucht. Es ähnelt einem frischen, noch feuchten Aquarellbild. Die Kinder nennen dieses Phänomen »Wenn die Engel Kekse backen«.
Trost legt die zehn Meter bis zum Gartentor so rasch wie möglich zurück. Doch er hat die am Zaun angebrachte Zeitungsbox noch nicht erreicht, als er abrupt innehält. Er stellt sich vor, wie kalte Eisfinger über sein Rückgrat streichen. Im Zaun steckt ein Messer, dessen Klinge etwa halb so lang ist wie sein Unterarm.
Trost zögert. Er blickt sich um. Es ist windstill. Im nahen Wald vermeint er, knickende Äste zu hören. Sich nähernde und sich entfernende Fahrzeuge, obwohl er keine Autos sehen kann. Sogar Stimmen glaubt er zu hören. Ein Flüstern.
Doch nichts von alldem passiert wirklich. Keine knickenden Äste, Autos und flüsternden Stimmen, vermutet Trost.
Es ist nur der Wind.
Der Wind kann einem hier am Waldrand alle möglichen Dinge vorgaukeln. Vor allem in der Zwischenzeit - so nennt er die Dämmerung gerne -, in der Zeit zwischen Nacht und Tag. Zwischenzeit.
Er nähert sich dem Messer wie einem Tier, von dem man nicht weiß, was es im nächsten Moment tun wird. Er bemerkt den sonderbaren Griff der Waffe. In den Teil, der aus Holz gefertigt ist, sind feine, kunstvolle Formen graviert. Die Parierstange ist wuchtig geformt, und im Eisenknauf erkennt er flüchtig ein Gesicht, eine Fratze. Die Waffe sieht sehr alt aus. Wie ein Relikt aus dem Lager eines Grazer Antiquitätenladens. Oder wie eines der Stücke in der riesigen Waffenkammer des Zeughauses. Auf alle Fälle passt es nicht in diese Zeit und schon gar nicht in seinen Zaun.
Als Trost näher tritt, bemerkt er, dass die Waffe ein Stück Papier an der Latte befestigt. Ein zerfranstes, vergilbtes Blatt, das aussieht wie ein Teil der Schatzkarten, die man aus Piratenfilmen und Kinderbüchern kennt. Unwillkürlich erinnert er sich an ein großformatiges Bilderbuch, das er als kleiner Bub so oft gelesen hat, bis sich die geklebten Seiten lösten. Es handelte vom Oloneser, von Henry Morgan und der berüchtigten Pirateninsel Tortuga. Von merkwürdigen Typen, die Schiffe anzünden, ihre eigenen Leute bestehlen und letzten Endes selbst irgendwann irgendwo von irgendjemandem massakriert werden.
Wieder blickt Trost sich um. Die Geräusche sind verstummt. Die Kälte kehrt zurück. Ihn fröstelt.
Mit plötzlicher Hast versucht er, das Messer aus dem Holz zu ziehen. Er schafft es erst beim zweiten Versuch, als er mit beiden Händen daran zerrt. Dann steht er einen Augenblick atemlos da. Das Messer liegt schwerer in seiner Hand, als er vermutet hat. Das Stück Papier ist zu Boden gefallen. Er hebt es auf. Es handelt sich um steifes, dickes Material, das sich ziemlich teuer anfühlt. Auf dem Papier ist eine Zeichnung dargestellt. Ein Baum. An dem Baum ist eine Tafel angebracht. Die Tafel enthält ein Kreuz. Mehr ist nicht zu erkennen.
Nur ein Baum, eine Tafel, ein Kreuz. Sonst nichts.
Ratlos blickt Trost sich noch einmal um. Dann fällt sein Blick auf den weißen Opel Kombi in der Einfahrt, und er rennt hin. Zum Glück hat er am Vorabend wieder einmal vergessen, den Wagen abzuschließen. Er versteckt Messer und Papier unter der Fußmatte auf der Fahrerseite. Danach hetzt er zurück zum Zaun, schnappt sich die Zeitung und eilt ins Haus.
Als er die Tür öffnet, steht Charlotte vor ihm, und er erschrickt.
»Hast du dich verirrt?«, fragt sie mit großen Augen. Sie scheint überraschend munter zu sein, dafür, dass es gerade einmal sechs Uhr in der Früh ist. Ihre Lippen umspielt ein Schmunzeln, und die Augen blitzen ausgeschlafen. Ob sie ihn durch den Türspion hindurch beobachtet hat?
»Nein«, murmelt er und ärgert sich gleichzeitig, überhaupt eine Antwort gegeben zu haben. Seinen Mangel an Schlagfertigkeit kann er allerdings mühelos der frühen Morgenstunde zuschreiben. Er schiebt sich an seiner Frau vorbei ins Haus.
»Schon wieder schlecht geschlafen?«, forscht Charlotte nach und folgt ihm.
»Es geht.«
Drinnen schlägt er die Zeitung auf und nippt am Kaffee. Sie fragt nicht weiter, ein gutes Zeichen. Es wäre ohnedies zu befürchten gewesen, dass er wieder dieselbe Geschichte erzählt: Ein Geräusch hatte ihn geweckt, er musste aufs Klo, danach konnte er nicht einschlafen, bis vier oder fünf, wieder zurück ins Bett, unruhiges Wälzen bis zum Morgengrauen. Das passierte ihm fast jede Nacht.
In der Mitte irgendeines Artikels, der von einer Zechtour, einem Autounfall und einem Baum handelt, reibt er sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Er muss es Charlotte auch beibringen. Das mit dem Job, den er heute an den Nagel hängen wird. Und er hätte es vielleicht auch schon gesagt, wenn ihm nicht ein Messer im Zaun dazwischengekommen wäre. Er muss das erst verarbeiten.
Eine Stunde später sitzen sie alle im Wagen. Jonas hat es wieder einmal geschafft, vom Aufstehen bis zum Einsteigen kein einziges Wort zu verlieren, dagegen hat Elsa in derselben Zeit kaum Luft geholt vor lauter Reden.
Jonas ist fünfzehn und befindet sich gerade in jener Phase, in der er niemanden mehr hasst als seine Eltern. Wenn er mit seinen Jeans, die stets nur das halbe Hinterteil verdecken, und in Turnschuhen, deren Schuhbänder kaum jemals zugebunden sind, über die Schwelle des Hauses tritt, legt sich ein Schatten über sein Gesicht, und er verschanzt sich hinter einer dicken Mauer des Schweigens.
Trost findet, sein Sohn sieht manchmal auch aus wie ein Kloster mit Schweigegelübde; das Gesicht blass wie Steinmauern, die Augen finster wie Beichtstühle. Wenn überhaupt irgendetwas dazu imstande ist, dann ist es nur Jonas' Zorn, der diese Mauern durchbrechen kann. Und Jonas ärgert sich über vieles. Über sein väterliches »Na, was gibt's Neues, Großer?« oder Charlottes »Wie war's in der Schule, mein Schatz?« oder Elsas »Mama, Jonas lässt mich nicht in sein Zimmer«.
Irgendwann jedoch arrangierten sich alle mit ihm, denn solange man Jonas in Ruhe lässt, ihn weder anspricht noch anschaut, läuft alles friedlicher ab. Keine ins Schloss krachenden Türen, keine beleidigenden Wortfetzen, kein böser Blick, der seinen Opfern jahrhundertelanges Unglück bringen müsste.
Trost glaubt zu wissen, was sein Sohn hat: Ihm ist fad. Charlotte würde wahrscheinlich eher annehmen, er sei verliebt, und Elsa - davon ist Trost überzeugt - ist der Meinung, dass Jonas »einfach nur blöd« ist.
Elsa ist aber auch der Meinung, von Engeln beschützt zu werden. Sie spricht immerzu von ihnen, träumt von ihnen und will nur Engel-Gutenachtgeschichten hören. Sie ist ein Kind mit kaputten Strumpfhosen, hellen Augen und Tausenden Fragen. Sie kommt im nächsten Jahr in die Schule. Wenn er seine Tochter heute ansieht, dann weiß Trost einfach, dass das nicht stimmen kann. Sie kann ganz einfach nicht schon so alt sein. Unmöglich. Er betrachtet sein Gesicht im Rückspiegel.
Während sich sein Atem in Wölkchen auflöst, spiegeln sich Tränen in seinen Augen. Vielleicht weil er gerade gegähnt hat oder weil ihm die Oktoberkälte zuvor zu abrupt entgegengeschlagen ist.
Sie rollen durchs morgendliche Farbenspiel zwischen Zinnober und Ultramarin der nun wirklich Kekse backenden Engel. Die Talsenke, in der sich Trost und seine Familie niedergelassen haben, ist eine Art Wetterscheide, die die seltsamsten Kapriolen hervorbringen kann. Man sieht die Gewitter von Weitem, die verschleierten Regenflächen, die Hagelfronten und Blitzgewitter. Und man kann sehr genau feststellen, welches gefährlich und welches ungefährlich ist. Je nachdem aus welcher Richtung die Wolkentürme kommen. Fast jeder hier hat einmal erlebt, wie es auf einer Straßenseite regnet, auf der anderen aber nicht. Wie der Himmel sich in Gut und Böse teilt und vereinzelte Windböen wüten wie verirrte Hooligans auf der Suche nach Streit.
Im Oktober ist das alles aber ohnedies eher unbedeutend. Richtige Gewitter gibt es hier nur im Sommer. Oktober, November, das sind eher die grauen Monate. Regen, pausenloser Regen. Und dazwischen herrlicher Sonnenschein bei eisig kaltem Wind.
Von der CD dröhnt die Nummer, die sie Elsa zuliebe jeden Morgen spielen: ». Zwei mal drei macht vier, widdewiddewitt, und drei macht neune. Ich mach mir die Welt, widdewidde, wie sie mir gefällt .«
Als sich die morgendliche Aufregung endlich gelegt hat, sie alle aus dem Fenster des Wagens starren und die Scheiben nicht mehr anlaufen, ist nur mehr das Brummen des Kombis zu hören. Natürlich auch das Lied, aber Trost blendet es einfach aus. Sekundenlang sagt niemand etwas. Trost erscheint es wie eine Ewigkeit. Es ist ungewöhnlich. Fast so, als sei etwas passiert. Charlotte denkt offenbar das Gleiche. Sie werfen einander einen Blick zu, der von Erleichterung zeugt. Die Stille...
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