Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Jahre später
1 Die ersten Vorboten des nahenden Schnees nennt man hierzulande Flankerl. Zarte Flankerl wurden also vom Wind zu lustigen Wirbeln gedreht und landeten auf der klaffenden Kopfwunde der Frau.
Dabei hatte der Tag so wunderbar begonnen.
Weihnachtszeit in Graz, in der Stadt mit dem schönsten Adventmarkt Österreichs, wie eine Umfrage unter Touristen vor Kurzem ergeben hatte. Wobei die Verwendung des Singulars in diesem Fall etwas untertrieben war, bestand doch die halbe Grazer Innenstadt quasi aus einem riesigen Adventmarktzentrum.
In den engen Gassen und auf den gepflasterten Plätzen des UNESCO-Weltkulturerbes waren die Holzhütten in kleinen Grüppchen arrangiert. Die Standbetreiber boten neben Schilcher-Glühwein und Langos auch noch Selbstgestricktes und Glasperlen an - wobei jeder wusste, dass die Kunsthandwerker lediglich die Legitimation für das öffentliche Saufgelage darstellten, das sich während der stillsten Zeit des Jahres auf dem Hauptplatz, dem Franziskanerplatz, im Joanneumsviertel, am Eisernen Tor und auf dem Schloßberg abspielte. Ein Saufgelage für Tausende und Abertausende Besucher.
Sie quetschte sich nicht in die Zahnradbahn, um den Markt in den Kasematten des Schloßbergs zu sehen. Sie war ja keine vertrottelte Touristin. Auch die süßen, mit Rum versetzten Punschgetränke, die es vor dem Rathaus gab, ersparte sie sich und bemitleidete die Trinker für deren Kopfweh am nächsten Tag.
Zusammen mit ihrem Mann hatte sie an den vergangenen Wochenenden den viel kleineren, aber beschaulicheren Märkten in der Umgebung einen Besuch abgestattet, in der Weihermühle von Gratwein, in Kainbach, Stainz und Hitzendorf. Dem Massenauflauf in Graz wollte sie wenn möglich aus dem Weg gehen.
Dennoch war es einmalig, montags ganz allein durch die Grazer Häuserschluchten zu flanieren und den Duft von Zimt und Vanillezucker einzuatmen. Wie bestellt hielt sich der Smog hartnäckig, und es blieb grau und trüb. So kam die bunte Weihnachtsbeleuchtung in den Auslagen erst richtig zur Geltung.
Für ihren Johann hatte sie bereits Pyjama und Eau de Toilette beim Kastner in der Sackstraße besorgt. Das war genug. Ihr Mann schenkte ihr zu Weihnachten stets eine kurze Städtereise, die er schon für Mitte Jänner buchte. So war die Vorfreude bereits am Heiligen Abend groß. Wo würde es heuer hingehen?, überlegte sie. Amsterdam? Paris? Wolgograd, das ehemalige Stalingrad?
Sie musste schmunzeln. Das war ein Faible vom Hansi, sich Kriegsschauplätze anzuschauen. Da leuchteten seine Augen immer wie die kleiner Buben, wenn sie Lego-Polizeistationen oder Spielzeugpistolen geschenkt bekommen. Das hatte sie bei ihrer Schwägerin gesehen, die drei Kinder hatte. Sie und Hansi hatten keine. Kinder. Spielzeugpistolen auch nicht. Gott sei Dank.
Aber konnte man Wolgograd überhaupt noch anschauen? War das nicht total zerstört worden? Bei den unweihnachtlichen Gedanken schüttelte sie den Kopf.
Mit ihrem Johann hatte sie es gut getroffen. Eine Führungskraft mit fixen Arbeitszeiten, ein Mann, der zu genießen verstand, auf sein Äußeres achtete und jenes seiner Frau sehr zu schätzen wusste. Dass sie keinen Nachwuchs hatten, tat ihrer Lebensfreude gerade in der Weihnachtszeit keinen Abbruch. So hatte sie weniger Stress mit dem Besorgen von Geschenken und mehr Zeit für sich. Zum Beispiel für eine Feuerzangenbowle mittags und ein Glaserl Sekt im »Kaiserfeld« oder im Operncafé am Nachmittag.
Das Einzige, was sie störte, war der Weihnachtsmann, der ihr dauernd nachstellte.
Natürlich war es nicht immer derselbe Weihnachtsmann, das wäre ja noch schöner gewesen. Obwohl sie sich nicht hundertprozentig sicher sein konnte, diese Typen schauten ja alle gleich aus. Aber wenn es nicht derselbe war, dann war das Vorkommen der Weihnachtsmänner in dieser Anzahl allein schon empörenswert. Sie nahm sich vor, am Abend einen Leserbrief an die »Große Tageszeitung« zu schreiben. Im katholischen Graz gab es das Christkind und keinen Weihnachtsmann. Der sollte von ihr aus in der Cola-Werbung auftreten und in Amerika, Deutschland oder sonst wo bleiben, aber nicht in Graz.
Nicht, dass sie besonders gläubig gewesen wäre, ganz und gar nicht, sie gingen ja nicht einmal zu Weihnachten in die Mette, dennoch bestand sie auf das echte Weihnachten, das keiner Verkaufsveranstaltung ähnelte. Reichte es denn nicht, dass das melancholische Allerheiligen mit seinen Kerzen, dem ersten Jungwein und den Kastanienschalen, die auf den Gehsteig fielen, schon seit Jahren mit dem bizarr-schrillen Halloween konkurrieren musste? Mit »Süßes oder Saures« drohenden Teufelsfratzen? Musste man jetzt auch noch Weihnachten verfremden?
Als sie zwischen den Hütten von einem »Last Christmas« zum nächsten flanierte, glaubte sie, den roten Mantel und die lächerliche lange Mütze immer wieder auftauchen zu sehen. Aber sie konnte sich natürlich täuschen, zu dieser Jahreszeit war schließlich alles bunt und schillernd.
Im Bus täuschte sie sich dann nicht mehr. Ein Weihnachtsmann saß ihr gegenüber und döste vor sich hin. Er trug keinen Bart, sah jugendlich aus und dürfte schon einiges getrunken gehabt haben. Seine Mütze war ihm wie ein Basecap über die Stirn gerutscht, und er schnarchte. Plötzlich bekam sie Mitleid mit den Weihnachtsmännern von Graz. Es schien, als wären sie entweder nur verkleidete Besoffene oder Männer, die für einen Hungerlohn in irgendeinem Kaufhaus Zuckerl verteilen und sich zum Affen machen mussten.
Sie begann zu kichern. Mitleid mit dem Weihnachtsmann, das war lustig.
Als der 85er-Bus an der Endstation stehen blieb, stieg sie aus und ging die Plabutscherstraße entlang bis zu ihrem Haus. Ein Haus mit Garten und Garage in dieser Gegend von Graz, dachte sie lächelnd. Ja, mit ihrem Hansi hatte sie Glück gehabt.
Sie öffnete die Gartentür, während sie »Last Christmas« vor sich hin pfiff und sich sogleich zurechtwies, weil ihr der Ohrwurm einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte. Da sah sie aus den Augenwinkeln eine rote Mütze auf sich zustürzen.
Und jetzt die zärtlich kühlenden Flankerl. Wie schön. Dabei waren für Graz grüne Weihnachten vorhergesagt worden. Wie fast jedes Jahr.
Sie versuchte, sich aufzurichten, doch der Kreislauf spielte ihr einen Streich. Ihr war so schwindelig, dass nichts in ihrer Umgebung sie an ihr Haus oder ihren Garten erinnerte. Nicht einmal an ihre Stadt. Nur Bäume um sie herum und ein schmaler Forstweg.
Sie wollte etwas sagen, hatte es aber im nächsten Moment schon wieder vergessen. Wollte sie um ihr Leben flehen? Aber warum?
Das Duo »Wham!« tauchte vor ihrem geistigen Auge auf, der Blonde mit der Dauerwelle und der andere an der Gitarre, von dem man später nur noch selten etwas hören sollte. George und Andrew. Prompt vernahm sie schon wieder die ersten Klänge des Refrains von »Last Christmas« und sah einen Weihnachtsmann, der zu einem Lieferwagen ging, kurz einstieg und das Radio ausschaltete.
Die Musik verstummte augenblicklich, auch wenn sie nicht mit Bestimmtheit hätte sagen können, ob nicht noch ein letztes Echo aus dem Wald zurückgeworfen wurde.
Die darauffolgende Stille war einen Moment lang wohltuend. Aber nur einen Moment lang. Dann flößte sie ihr Angst ein.
Sie blickte an sich hinunter und konnte nicht glauben, was sie sah. Ihr Mantel, der wunderschöne schwarze mit dem unechten Pelzkragen, war verschmutzt. Erde und Staub klebten an ihm - sie lag tatsächlich auf dem Boden eines Waldweges. Wann hatte sie jemals auf dem Boden gelegen?
Ihre Hände waren an den Innenflächen aufgeschürft und zitterten. Erst als sie ihren Kopf abtastete, kehrte jener Schmerz zurück, vor dem ihr Bewusstsein offenbar in die Ohnmacht geflüchtet war.
Sie erinnerte sich: an die Schläge und Tritte des Weihnachtsmannes. Er hatte sie an den Haaren mit sich gezerrt und in den Lieferwagen geworfen. Alles war so schnell gegangen. Alles war so schmerzvoll gewesen.
Nach einer halben Ewigkeit in völliger Dunkelheit und einer holprigen Fahrt, die mit Sicherheit blaue Flecken zur Folge haben würde, war die Schiebetür aufgegangen, der Grobian hatte sie wieder an den Haaren gezogen, neuerlich nach ihr getreten und sie auf die Straße geworfen.
Meine Güte, Johann, wo bist du? Hast du gesehen, was der mir angetan hat? Den musst du einsperren.
Sie dachte daran, dass sie stets auf ihr Äußeres Wert legte, auf eine schöne Wohnung, ein schönes Leben, auf schöne Weihnachten. Mit einem selbst gebundenen Adventkranz und dem gemütlichen Beisammensein mit Freunden bei Hot Aperol und Vanillekipferln am Sonntag.
Gestern war der vierte Adventsonntag gewesen, heute somit Montag. Als befürchtete sie, ihr Gehirn könnte sich abschalten, war ihr die zeitliche Bestimmung des Jetzt plötzlich wichtig. Nur noch ein paar Tage bis zum Heiligen Abend. Dann würden sie und Johann Eierlikör und vielleicht einen Schnaps gegen das Sodbrennen trinken.
Die Frau blinzelte fassungslos. Die Ahnung, dass dies alles bald nicht mehr von Bedeutung sein würde, stieg in ihr auf. Wenn sie nur verstehen könnte, warum.
Sie befanden sich am Rande eines ihr fremden Dorfes, so viel konnte sie jetzt erkennen. Vor ihr stand eine Scheune, die Bretter waren bereits morsch, dahinter begann der Wald.
»Lassen Sie mich gehen«, brachte sie hervor, doch mit jedem Wort ging ein ganz spezieller Kopfschmerz einher, der sich so anfühlte, als würde jeder Laut ein anderes Nervenbündel verärgern.
Als sie abermals an den Haaren emporgerissen wurde, konnte sie den Schmerz nicht fassen, so entwürdigend und pietätlos war er. Ja, pietätlos. Mit ihrem Haar hatte sie immer...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.