Schweitzer Fachinformationen
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1Alexia Morgentaus Kopf verschwand und tauchte plötzlich an einer anderen Stelle der staubigen Grube wieder auf. Ein warmer Wind wischte über die Lichtung und trocknete den Schweiß auf ihrer Stirn. Sie kroch auf allen vieren und pinselte den Staub von der Oberfläche eines Steins mit einer Hingabe, als erwartete sie darunter etwas Kostbares, etwas lange Gesuchtes.
Unter dem Stein blitzte ein Gegenstand hervor. Ein scharfkantiger Gegenstand, den sie freilegte, fotografierte und schließlich vermaß. Die Daten trug sie in ein Handbuch ein, das sie dafür aus ihrer Hosentasche gezogen hatte. Ihre Schrift war winzig, aber deutlich, die Linien klar mit akribisch exakten Abständen dazwischen. Alexia Morgentau führte den Bleistift mit der linken Hand. Kurze Finger mit kurz geschnittenen Nägeln. Beim Schreiben tauchte die Spitze ihrer Zunge zwischen ihren Lippen auf, die ein Lächeln andeuteten. Ihr Haar wirkte wegen des Staubs heller, in wirren braunen Locken stand es vom Kopf ab und verlieh ihr den Anschein einer Wissenschaftlerin, die über ihre Arbeit ihr Äußeres völlig vergisst. Was in gewisser Weise auch stimmte.
Morgentau hatte in den neunziger Jahren das Doktoratsstudium der Archäologie an der Universität Graz absolviert und ihre akademische Laufbahn mit zusätzlichen Magistertiteln in den Fachbereichen Philosophie und Kunstgeschichte garniert. Inzwischen leitete sie ein Team, das aus Experten des Archäologiemuseums und der Universität Graz bestand. Ihr Forschungsprojekt, das sich schon seit einigen Jahren hinzog, lieferte neue Erkenntnisse zur Keltenzeit rund um Neuberg an der Mürz. Selbst an den Wochenenden war sie hier draußen und genoss die Ruhe der Einöde.
Morgentau pinselte die nächste Scherbe ab, und hätte sie sich selbst dabei beobachten können, wäre ihr vielleicht viel früher aufgefallen, dass sie auf ein besonderes Fundstück gestoßen war. Ihre Stirn warf bereits Falten, ihre Augen fixierten leuchtend das Etwas vor ihr, die Finger zitterten leicht. Doch während ihrem Körper die Besonderheit des Moments längst bewusst war und er darauf reagierte, war sie in Gedanken noch weit weg. In einer anderen Welt. Sie dachte daran, wie es wäre, durch die Zeit reisen zu können. Ein Wunsch, der unter Archäologen weitverbreitet war, kämpften Menschen dieses Berufs doch jeden Tag mit der Schwierigkeit, aus den kläglichen Überresten der Geschichte Rückschlüsse auf ebenjene zu ziehen. Wie hatte man vor Christi Geburt gelebt? Hatte die Luft wie heute gerochen? Wie hatte die Welt ausgesehen, damals, als die Menschen diesen Landstrich schon besiedelt hatten? Es gab Handelsrouten, die heimischen Kelten stellten Münzen nach dem Vorbild der Vorgehensweise auf den griechischen Inseln her, bauten ihre Behausungen meist aus Holz, und ihre Friedhöfe waren weithin sichtbar.
Ja, all das ließ sich theoretisch rekonstruieren - aus Wandmalereien, Scherben und den wenigen historischen Quellen. Und dennoch brauchte man eine gehörige Portion Phantasie, um sich das Leben damals einigermaßen vorstellen zu können.
Der Kopf der Archäologin hielt in seiner Bewegung inne. Als er sich wieder regte, wurde nach und nach auch immer mehr von dem dazugehörigen Körper sichtbar. Morgentau stieg in verstaubten Jeans und einer schmutzigen Jacke aus der Grube und lief zu einem Zelt am Rand der Grabungsstelle. Dessen Seitenwände waren hochgebunden und gaben den Blick auf einen weißen Opel Astra Kombi frei, dessen Heckklappe geöffnet war. Im Kofferraum lag die Matratze, auf der die Archäologin in der kommenden Nacht schlafen würde, auf dem Beifahrersitz eine kleine Tasche mit allem für die Morgentoilette sowie Wechselkleidung.
Der Wind wirbelte verspielt eine Staubfontäne durch das Zeltinnere, während Alexia Morgentau ihr jüngstes Fundstück auf den kleinen Tisch legte und eine Mineralwasserflasche aus der Kiste zog, die sich darunter befand. Sie nahm einen großen Schluck und wischte sich einen Tropfen von der Oberlippe, dann betrachtete sie das, was sie gefunden hatte, noch einmal. Später würde sie Fotos von dem Artefakt machen, es einer exakten Prüfung unterziehen, es dokumentieren und dabei immer wieder ehrfürchtig anstarren. Doch zuvor griff sie zum Handy, schaltete es ein, drückte eine Taste und wartete.
»Hi, Bernd«, sagte sie, als jemand abhob. »Ich hab wieder eins gefunden.« Sie lachte. »Ja, sieht so aus, als hätten wir ziemliches Glück. Vielleicht schreiben wir ja endlich Geschichte, wenn uns nicht wieder der Geldhahn abgedreht wird.« Sie blickte sich um, winkte Wanderern zu, die mit einem kläffenden Hund in Sichtweite vorübergingen. »Und solange hier keiner auf die Idee kommt, auf eigene Faust weiterzugraben, wenn wir nicht da sind .«
Sie drehte die eiserne Pfeilspitze, die sie soeben der Erde entrissen hatte, in ihrer Hand. Ihrer ersten Schätzung zufolge war sie in einem Jahrhundert hergestellt worden, in dem auch die Venus von Milo entstanden war, rund hundert Jahre nachdem Hannibal über die Alpen auf Rom zumarschiert war. Vor rund zweitausendzweihundert Jahren. Als Tausende Römer auf einem Schlachtfeld ihr Leben gelassen hatten. Genau hier.
2Schwarze, rußige Trümmer lagen neben dem Baumstumpf, der im Garten emporragte wie ein mahnender Finger. Asche wurde über die Wiese geweht, im Restehaufen der Holzlatten waren Nägel und Schrauben auszumachen.
Unweit des niedergebrannten Baumhauses drängte sich der dichte, urige Wald an den Gartenzaun, dessen Baumriesen wild und ungezähmt schienen. Am Himmel über den Wipfeln mischten bedrohliche Wolkenformationen ein schmutziges Grau, durch das die Sonne nadeldünne Strahlen sendete. Windböen wehten übers Feld und wirbelten wie ein Sturmauge die trockene Erde um Armin Trost herum auf.
Trost hockte minutenlang mit bebenden Schultern inmitten all der Zerstörung. Als er sich erhob, ging er auf das Haus zu, dessen Fenster ihn so trüb wie ein Tier im Dämmerschlaf anstarrten. Die Fensterbalken ächzten im Wind, und aus der Regenrinne war das Tapsen von Amseln zu vernehmen.
Dass die Tür jetzt aufschwang und ihm Elsa entgegenlief, bildete er sich nur ein. Dass Jonas auf der Veranda im Rattan-Schaukelstuhl saß und ihm zuwinkte, ebenso. Ganz zu schweigen von Frederik, dem kleinen Mann, dessen Schreie oft weit und breit zu hören gewesen waren. Und Charlotte? Auch von ihr keine Spur. Alles, was ihn hätte trösten können, entstammte einzig seiner Phantasie. Trost war allein.
Er zog sein Handy heraus, so wie er es in den letzten Tagen zigmal getan hatte, und wählte Charlottes Nummer. Nichts. Sie war untergetaucht. Anfangs hatte er seine Familie noch vor der Welt versteckt, jetzt versteckte sich seine Familie vor ihm.
Wieder bebten seine Schultern, und er lief zum Wagen, ehe ihn noch jemand dabei ertappen konnte, wie er heulend vor seinem eigenen Haus hockte. Seinem Haus, das er, so hatte er sich geschworen, nie wieder ohne seine Familie betreten würde.
3Der steirische Landeshauptmann Konrad Wachmann legte den Kopf in seine Hände. Sein Herz schlug hart gegen den Brustkorb. Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, und scheiterte daran. Zu viel ging ihm durch den Kopf. Er wandte sich dem Regal an der Wand zu, auf dem die Statue des heiligen Urban stand, seines Zeichens Schutzpatron der Weinbauern. Spätestens mittags würde es wieder losgehen mit den ersten Achterln, hier einem Trinkspruch, da einem Schwank und dort einem Scherz. Am liebsten hätte er sich jetzt schon einen Schluck genehmigt, dabei war es erst kurz vor sieben Uhr morgens.
Wachmann stand grunzend auf, wobei er seine Arme zu Hilfe nehmen musste, um sich vom Schreibtisch hochzustemmen. Sie zitterten unter dem Gewicht seines Körpers. Er war außer Form. Natürlich war er das, er ging schließlich auf die fünfundsechzig zu und hatte die letzten zwanzig Jahre so gut wie keinen Sport betrieben - davor war er wenigstens manchmal am Wochenende mit dem Fahrrad zum Eisessen gefahren oder von Buschenschank zu Buschenschank gewandert.
Ein paar Minuten lang starrte er vom Balkon seines Arbeitszimmers in den hinteren Garten der Grazer Burg. Es war eine Eigenheit der Steiermark, die ihm immer schon gefallen hatte, dass das Oberhaupt des Landes es von einem sicheren Gemäuer aus regierte und dabei auf einen Garten blickte. Die Blätter des Buschwerks glänzten im Morgentau. Er fröstelte.
Als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf die vielen Gemälde von Professor Wolfgang Hollegha, eines in Kärnten geborenen Künstlers, der mit dem Großen Goldenen Ehrenzeichen des Landes Steiermark ausgezeichnet worden war. Schon allein deshalb hatten es Holleghas Bilder verdient, in Wachmanns Büro zu hängen.
Wenn er ehrlich war, hatte Wachmann Holleghas irrwitzige Farbkleckskunst nie ganz verstanden. Sie war unergründlich. Aber das war auch der eigentliche Grund, warum die Bilder ihn seit Jahren begleiteten. Er hoffte, dass etwas von dieser geheimnisvollen Unergründlichkeit auf denjenigen abfärbte, der sie besaß. Dass die Bilder seinen Besitzer interessanter und unberechenbarer machten, als es die altehrwürdigen Biedermeier-Möbel um den runden Sitzungstisch und die Siebziger-Jahre-Ledercouch neben dem Eingang je vermocht hätten.
Wachmanns Büro hatte die Größe einer Gemeindebauwohnung, der Parkettboden knarrte unter seinen Schritten, während er es gedankenverloren durchmaß. Auf einer Kommode lachten ihm die Gesichter seiner Familie aus Bilderrahmen entgegen. Manchmal hatte er das Gefühl, die Gören lachten ihn aus. Zum wiederholten Mal ging er zum Schreibtisch, wo sein Blick auf den Brief fiel, den er vor wenigen Minuten gelesen hatte. Dann drückte er kurz entschlossen einen Knopf an seiner...
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