01.01.20
Sehr merkwürdig, ein Jahr so verschwommen anzufangen. Dabei begann es eigentlich noch harmlos: Kurz vor Mitternacht klingelte ich auf einer fremden Silvesterparty im Haus, um nach einer Schere zu fragen, weil meine eigene so stumpf war, dass man sich damit ein Haar höchstens krümmen konnte. Manfred, den Gastgeber kannte ich gar nicht, obwohl wir seit Jahren im gleichen Haus wohnen. Es war allerdings schon zu spät, um bei Nachbarn zu klingeln, die ich kannte, auch wenn die wegen des Lärms eben jener Party bestimmt nicht schlafen konnten. Ich fragte mich gerade "Was reimt sich eigentlich noch auf Glück?", als jemand gegen Widerstände von Innen die Wohnungstür aufruckelte und mir anschließend Bier auf das T-Shirt schäumte.
"Ups", sagte die übersprudelnde Partybesucherin.
"Kein Problem", erwiderte ich seufzend und verschluckte mich fast an der mir entgegenströmenden tropischen Luft aus dem Wohnungsinneren.
Sie taumelte im völlig überfüllten Flur unwiderstehlich an die Wand. "Willst du nicht reinkommen?" Jedenfalls glaubte ich, das ihren Lippen abzulesen, denn ich hörte nur noch dreistellige Dezibelwerte.
"Nein, ich bin gar nicht eingeladen, sondern ein Nachbar aus dem zweiten Stock", erwiderte ich verführerisch brüllend mit dem Vokabular eines Steuerprüfers.
"Ach." Sie neigte den Kopf keck zur Seite und fragte: "Was gibt's denn?"
"Ich wollte ." Ich sah hilfesuchend auf das Klingelschild. "M Punkt Vukojevic sprechen? Also wenn man das überhaupt so ausspricht."
"Manfred? Der legt gerade auf. Aber niemand nennt ihn so. Alle sagen Vuko zu ihm." Dann hatte sie eine Eingebung, bei der erneut ein Schluck Bier aus dem Flaschenhals entkam und an die Wand klatschte wie Insekten gegen eine Windschutzscheibe. "Darf ich ihm vielleicht einen Musikwunsch ausrichten, Herr Nachbar aus dem zweiten Stock?"
"Nein, vielen Dank. Und, äh, Johann. Hallo. Ich wollte mir eine Schere ausleihen."
"Bastelst du gerade etwas, Johann Der-sich-eine-Schere-ausleihen-will? An Silvester?"
"Ich will mir die Haare schneiden." Zum Beweis warf ich meine inzwischen eher bescheidene Mähne über die Schulter.
"Geil. Warte hier, ich schau mal", sagte sie und blieb gleich wieder stehen. "Nein, hol dir in der Zwischenzeit einen Drink in der Küche, ja?" Und weg war sie.
Damit es nicht so ins Treppenhaus lärmte, betrat ich den Flur, zog die Tür hinter mir zu, blieb wie angewurzelt stehen und nickte lächelnd den anderen Leuten im Gang zu, wenn sie in meine Richtung guckten. Es war so laut, dass sie bestimmt nichts von unserem Gespräch mitbekommen hatten. Immerhin etwas. Auffallend gut angezogen waren die Gäste, ich kam mir in meinem ausgebleichten Rush-T-Shirt und den alten Jeans noch mehr fehl am Platz vor als für gewöhnlich. Es lief irgendetwas aus der Rocky Horror Picture Show, oder was auf dem Soundtrack nicht fremd gewirkt hätte. Vereinzelt sangen Leute mit, aber hier im Flur war eher Verschnaufpause angesagt. Und Knutschen. Betreten sah ich zur Seite und nickte James Baldwin zu, der mich aufmerksam von seinem Poster aus ansah.
Dann kam die Bierverkipperin zurück und reichte mir eine kleine Schere. "Vorsicht, die ist scharf."
"Danke. Ich bring sie gleich zurück."
"Du meinst nächstes Jahr?"
Ich grinste schmerzhaft und war so schnell wieder aus der Tür, wie ich nur konnte.
Während draußen die ersten Raketen explodierten, stand ich vor dem Spiegel in meinem Badezimmer und versuchte mir die Haare zu schneiden. Das war gar nicht so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte. Alle Bewegungen muss man spiegelverkehrt ausführen und wenn es knallt, sollte man weder zusammenzucken, noch versehentlich - schnipp. Außerdem hatte ich keine Haarklammern, sondern nur Haargummis - und Wäscheklammern taugten nicht als Ersatz, um die Strähnen voneinander zu trennen. Die ersten Haare waren trotzdem bald ab und hingen mir jetzt zur Abwechslung in die Augen, was das Schneiden zusätzlich erschwerte. Wahrscheinlich hätte ich hinten anfangen sollen, wo man sowieso nicht sieht, was man anrichtet. Also durchtrennte ich mit schnellen Schnitten den Zopf, um Tatsachen zu schaffen, ehe ich einen Rückzieher machen konnte. Dann kam der Moment der Einsicht, dass ich es wahrscheinlich nur noch schlimmer machen würde, wenn ich weiter herumdilettierte. Also ließ ich es so, obwohl mir die Haare büschelweise wie geschmolzene Orgelpfeifen um den Kopf hingen. Ich könnte ja später eine Mütze zur Arbeit tragen und dann morgen zum Friseur gehen. Ich gähnte und sah auf die Schere in meiner Hand. Ach Mist.
"Ich hab mich noch gar nicht vorgestellt, oder?", fragte die jetzt etwas stabiler als vorhin stehende Besucherin, die mir erneut die Tür geöffnet hatte. "Olga."
"Hallo Olga, ich bin immer noch Johann", sagte ich. "Stehst du schon den ganzen Abend hinter der Tür?"
"Nee, Leichtathletin. Der Impuls, Erste zu sein ist stärker als ich."
"Ich glaub, ich kann nicht ganz folgen ."
"Startschuss Türklingel?"
"Ah, okay."
"Und?"
"Was?"
"Ja, was führt dich jetzt zu uns, Johann?", wollte Olga wissen. "Jetzt doch Lust auf Party?"
"Ich? Nein." Ich hielt ihr die Schere hin. "Ich wollte die hier zurückbringen."
"Bevor du rausgehst."
"Wieso?"
"Na, wegen der Mütze?"
"Ach, nee, das . ist ne lange Geschicht. hey!"
Olga hatte mir die Mütze vom Kopf gezogen und schnappte nach Luft. "Heilige Sch." Dann zog sie mich mit ihrer freien Hand tiefer hinein in die Wohnung und das Gemenge. "Aus dem Weg! Das ist ein Notfall!", rief sie und es bildete sich eine Rettungsgasse. Einen Augenblick später stand ich umringt von Partygästen im Wohnzimmer, die das Massaker auf meinem Kopf lachend bis schockiert bestaunten.
"Bringt einen Stuhl und ein Handtuch in die Küche!", rief eine sehr tiefe Stimme. Sie war so tief, dass ich nicht einmal gleich sagen konnte, woher sie kam. "Das rücke ich wieder gerade." Dann trat ein durchtrainierter Mann in hautenger Lederhose und etliche Nummern zu kleinem Feinripp Unterhemd vor mich, dessen muskelbepackte Oberarme dick wie Schwimmreifen waren. Ich schluckte. "Zeig mal", sagte er zu Olga, die ihm die Schere reichte. In seinen Pranken sah sie aus wie ein Spielzeug. Er exte seinen Drink und warf jemandem das leere Glas zu, murmelte irgendwas mit "Krone" und "damit könne man arbeiten". Dann griff er mit der anderen Hand in seine Gesäßtasche und zauberte einen Kamm hervor. Ich sah mich hilfesuchend um, ob ich Manfred, Vuko, oder beide irgendwo ausfindig machen könnte, aber dann fiel mir wieder ein, dass ich gar nicht wusste, wie der Gastgeber der Party aussah. "Na dann wollen wir mal", brummte die noch einmal tiefer gelegte Stimme. Eine kleine Traube aus Menschen schob mich und den Ledertyp in die Küche, während hinter uns im Wohnzimmer die Musik da weiterspielte, wo sie eben unterbrochen worden war. Jemand fragte mich beim Herausgehen nach einem Musikwunsch, also drehte ich ihm meinen Oberkörper zu, damit er mein Rush-Shirt sehen konnte, und schon waren wir aus seinem Blickfeld verschwunden.
In der Küche wurde ein Tisch zur Seite geschoben, der bestellte Stuhl in die Mitte platziert und ich darauf drapiert. Olga legte mir ein Handtuch um den Hals und ich suchte nach Worten - oder besser einer Ausrede - wie ich aus dieser Situation wieder herauskam. Außer "Hilfe" fiel mir nichts ein und mein Mund war so trocken, dass ich nicht mal das über die Lippen brachte.
"Trink das", sagte der Hüne und drückte mir ein leeres Glas in die Hand, dann warf jemand auf sein Kopfnicken hin eine Handvoll Eiswürfel hinein. Währenddessen nahm er einen kräftigen Schluck aus einer Wodka Gorbatschow Flasche, mit der er anschließend mein Glas füllte.
"Könnte da ein bisschen Platz für Tonic bleiben? Oh, nicht? Dann vielleicht beim nächsten Drink. Was ich Sie fragen wollte ."
"Für dich immer noch Herr Diodato. Bis ich mit dir fertig bin. Dann kannst du Thomas zu mir sagen." Er gab mir die Hand, so dass meine Knöchel aneinanderklackten wie bei einem Kugelpendel.
"Aah, danke Tho., äh, Herr Dio.dato. Ich wollte keine Umstände machen und sie vom Feiern abhalten, weil ."
"Junge, du hast einen Ottifanten-Friedhof auf dem Kopf. Willst du etwa so das neue Jahr beginnen? Als Witzfigur?" Er wandte sich mit fragendem Blick an die Umstehenden in der Küche, von denen einige den Kopf schüttelten.
"Nein, nein, es ist nur ."
Diodato ging vor mir in die Knie und ich verstummte. Sein Gesicht war jetzt direkt vor meinem. Der Alkohol in seinem Atem ließ meine Augen glasig werden. "Ich versteh dich. Ich bin hier, um zu helfen."
Ich nickte.
Ein Synthesizer legte nebenan einen Soundteppich und das Wohnzimmer verwandelte sich umgehend in einen johlenden Hexenkessel. Ich erkannte das Lied nicht sofort, auch weil die Partygäste jedes Wort zu laut mitsangen. Doch dann schnitt die glasklare Stimme von Jennifer Rush mit dem Refrain von "The power of love" durch jede Faser meines Körpers und Gänsehaut ließ mich kurz erschauern.
"Sieh mir in die Augen", hörte ich da den Muskelberg sagen und tat, wie mir geheißen worden war. Er betrachtete besorgt meine aufgestellten Haare auf dem Arm. "Hab keine Angst. In einer Viertelstunde ist alles gut und du kannst wieder in einen Spiegel sehen." Er legte mir seine Pranke auf die Schulter und stand mit einem leichten Keuchen, das nur ich hören konnte, wieder...