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ZWEI
Paleys Uhr
Die Szene: eine Rundfunk-Plauderstunde im Bible Belt der Vereinigten Staaten vor ein paar Jahren. Der Moderator nimmt Anrufe von Zuhörern über die Evolution entgegen, ein Konzept, welches jedem gottesfürchtigen Südstaaten-Fundamentalisten ein Gräuel ist. Das Gespräch läuft ungefähr so ab:
Von außen – und erst recht von innen – sieht der Prozess wissenschaftlicher Forschung ungeordnet und verwirrend aus. Man ist versucht zu glauben, Wissenschaftler seien selber unordentlich und verwirrt. In gewisser Hinsicht sind sie es – das gehört zur Forschung. Wenn man wüsste, was man tut, wäre es keine Forschung. Aber das ist nur eine Entschuldigung, und es gibt bessere Gründe, warum man diese Art von Verwirrung erwarten, ja sogar wertschätzen sollte. Der beste Grund lautet, dass es eine äußerst wirksame Methode ist, die Welt zu verstehen, und zwar so, dass man diesem Verständnis recht gut trauen darf.
Das wissenschaftliche Bild von dem Planeten, der gegenwärtig unsere Heimat ist, von den Lebewesen, die ihn mit uns teilen, und vom Weltall ringsum hat seine gegenwärtige Gestalt im Laufe von Jahrtausenden angenommen. Die Entwicklung der Wissenschaft geht überwiegend schrittweise vor sich, ein See des Verständnisses, angefüllt durch den unablässigen Zustrom zahlloser winziger Regentropfen. Wie das Wasser in einem See kann das Verständnis auch wieder verdunsten – denn was wir heute zu verstehen glauben, kann morgen als Unsinn entlarvt sein. Wir sprechen lieber von ›Verständnis‹ als von ›Wissen‹, denn die Wissenschaft ist sowohl mehr als auch weniger als eine Sammlung unabänderlicher Tatsachen. Sie ist mehr, da sie Organisationsprinzipien bietet, die das erklären, was wir uns unter Tatsachen vorstellen – die seltsamen Wege der Planeten am Himmel ergeben einen Sinn, wenn man erst einmal verstanden hat, dass die Planeten von Gravitationskräften bewegt werden und dass diese Kräfte mathematischen Regeln gehorchen. Sie ist weniger, weil das, was heute als Tatsache erscheint, sich morgen als Fehldeutung von etwas anderem erweisen kann. Auf der Scheibenwelt, wo offensichtliche Dinge für gewöhnlich wahr sind, umkreist tatsächlich eine winzige und unbedeutende Sonne die gewaltige, bedeutsame Welt der Menschen. Wir haben lange Zeit geglaubt, auch unsere Welt sei so eingerichtet: Jahrhunderte lang war es eine ›Tatsache‹, und zwar eine offensichtliche, dass die Sonne um die Erde kreist.
Sogar heute gibt es Starrköpfe – nicht die Mehrheit, obwohl sie eine Menge Lärm machen, aber eine nicht zu vernachlässigende Minderheit –, die leugnen, dass jemals Evolution stattgefunden hat. Die meisten von ihnen sind Amerikaner, weil eine Laune der Geschichte (im Verein mit einigen eigenartigen Steuergesetzen) die Evolution zu einem der wichtigsten Lehrstoffe in den Vereinigten Staaten gemacht hat. Da geht es in der Schlacht zwischen Darwins Anhängern und Gegnern nicht einfach um hochgeistige Fragen. Es geht um Dollars und Cents und darum, wer Herzen und Hirne der nächsten Generation beeinflussen wird. Der Kampf tarnt sich als religiös und wissenschaftlich, aber im Grunde ist er politisch. In den Zwanzigerjahren erklärten es vier Staaten (Arkansas, Mississippi, Oklahoma und Tennessee) für gesetzwidrig, Kinder an öffentlichen Schulen in Evolution zu unterrichten. Dieses Gesetz blieb fast ein halbes Jahrhundert lang in Kraft; es wurde schließlich 1968 vom Obersten Gerichtshof aufgehoben. Das hindert Befürworter der ›Schöpfungswissenschaft‹ nicht an wiederholten Versuchen, diese Entscheidung zu umgehen oder sie sogar rückgängig machen zu lassen. Im Großen und Ganzen ist ihnen das jedoch nicht gelungen, unter anderem deshalb, weil die Schöpfungs-›Wissenschaft‹ keine Wissenschaft ist; es fehlt ihr an intellektueller Strenge, sie hält keiner objektiven Überprüfung stand, und manchmal ist sie einfach nur bekloppt.
Eine Kette von Uhren zieht sich durch die ganze metaphorische Landschaft der Wissenschaft. Newtons Bild vom Sonnensystem, das nach exakten mathematischen ›Gesetzen‹ abläuft, wird oft als ›Uhrwerk-Universum‹ bezeichnet. Das Bild ist nicht schlecht, und das Orrery* [* So genannt nach einem Grafen Orrery. Die im Deutschen üblicheren Begriffe ›Astrolabium‹ und ›Armillarsphäre‹ sind nicht ganz dasselbe – sie bilden ebenfalls Planetenbewegungen mechanisch nach, aber nicht als anschauliche Modelle, sondern zu Zwecken der Messung bzw. Berechnung. – Anm. d. Übers.] – ein Modell des Sonnensystems, dessen Zahnräder winzige Planeten umlaufen lassen – sieht ziemlich wie ein Uhrwerk aus. Uhren gehörten zu den kompliziertesten Maschinen des 17. und 18. Jahrhunderts, und sie waren wahrscheinlich die verlässlichsten. Selbst heute sagen wir, dass etwas ›wie ein Uhrwerk‹ funktioniert, und haben das noch nicht durch ›atomare Exaktheit‹ ergänzt.
Angenommen, beim Wandern über die Heide stieße ich mit dem Fuß an einen Stein und würde gefragt, wie der Stein dorthin gekommen sei; so könnte ich vielleicht antworten, dass er meines Wissens schon immer dort gelegen habe; vielleicht wäre es nicht einmal besonders leicht zu zeigen, wie absurd diese Antwort ist. Aber angenommen, stattdessen hätte ich eine Uhr auf dem Boden gefunden und es würde die Frage gestellt, wie die Uhr an diesen Ort geraten ist, so würde mir schwerlich die Antwort einfallen, die ich zuvor gegeben hatte, dass nämlich meines Wissens die Uhr schon immer dort gewesen sei. Warum aber sollte diese Antwort für die Uhr nicht ebenso gut wie für den Stein taugen? Warum ist sie im zweiten Fall nicht zulässig wie im ersten? Aus diesem Grunde und keinem anderen, nämlich, dass wir, wenn wir die Uhr näher betrachten, feststellen (anders als bei dem Stein), dass ihre verschiedenen Teile zu einem Zweck geformt und zusammengesetzt sind, d. h. dass sie so geformt und abgestimmt sind, um Bewegung hervorzubringen, und dass jene Bewegung so reguliert ist, dass sie die Stunde des Tages anzeigt; dass, wenn die verschiedenen Teile anders geformt wären, als sie sind, eine andere Größe hätten oder auf irgendeine andere Weise oder in anderer Reihenfolge angeordnet wären, als sie es sind, entweder überhaupt keine Bewegung in der Maschine ausgeführt werden könnte oder aber keine, die dem Zweck entspräche, dem sie jetzt dient.
Paley behandelt dann weiter die Bauteile einer Uhr und kommt so zum Kern seines Arguments:
Nachdem wir diesen Mechanismus beobachtet haben, so wäre, glauben wir, die Schlussfolgerung unausweichlich: dass die Uhr von jemandem gemacht worden sein muss, dass es irgendwann und irgendwo einen Feinmechaniker (oder mehrere) gegeben haben muss, der die Uhr zu dem Zweck geformt hat, dem wir sie tatsächlich entsprechen sehen, der ihre Konstruktion ersonnen und ihre Verwendung geplant hat.
Darauf folgt eine lange Reihe von nummerierten Absätzen, wo Paley sein Argument im Einzelnen erörtert, es auf Fälle ausweitet, wo beispielsweise einige Teile der Uhr fehlen, und mehrere Einwände gegen seine Überlegungen zurückweist. Das zweite Kapitel knüpft an die Geschichte an, indem es eine hypothetische ›Uhr‹ schildert, die Kopien ihrer selbst herstellen kann – eine bemerkenswerte Vorwegnahme des Konzepts einer von-Neumannschen-Maschine aus dem 20. Jahrhundert. Es gäbe immer noch gute Gründe, stellt Paley fest, auf die Existenz eines ›Entwicklers‹ zu schließen; die Kunstfertigkeit des ›Entwicklers‹ verdiene dann umso größere Hochachtung. Zudem würde der verständige Beobachter
… überlegen, dass zwar die Uhr vor ihm in gewissem Sinne der Hersteller jener Uhr war, die sie im Verlauf ihrer Bewegungen hergestellt hat, dies aber in einem sehr unterschiedlichen Sinne als dem, wie etwa ein Tischler der Hersteller eines Stuhles ist.
Er entwickelt diesen Gedanken weiter und verwirft eine mögliche Vermutung: dass, wie ein Stein durchaus schon immer da gewesen sein kann, auch eine Uhr schon immer da gewesen sein könne. Das heißt, es könnte eine Kette von Uhren geben, jede von der Vorgängerin hergestellt, eine Kette, die unendlich weit in die Vergangenheit zurückreicht, sodass es keine erste Uhr gab. Eine Uhr, sagt er uns, ist jedoch etwas ganz anderes als ein Stein: Sie ist entwickelt worden. Steine mögen schon immer existiert haben – wer weiß? –, Uhren aber nicht. Sonst hätten wir ›Entwicklung, aber keinen Entwickler, Beweise für einen Entwurf, aber keinen Entwerfer‹. Paley verwirft diese Vermutung aus verschiedenen metaphysischen Gründen und stellt fest:
Die Schlussfolgerung, die die erste Untersuchung der Uhr, ihrer Funktion, ihrer Konstruktion und ihrer Bewegung nahe legt, lautete, dass es als Ursache und Autor jener Konstruktion einen Feinmechaniker gegeben haben muss, der ihren Mechanismus verstanden und ihre Verwendung entworfen hat. Diese Schlussfolgerung ist unumgänglich. Eine zweite Untersuchung liefert uns eine neue Entdeckung. Wir stellen fast, dass die Uhr im Laufe ihrer Bewegung eine andere Uhr herstellt, die ihr ähnlich ist; und nicht nur das, vielmehr nehmen wir darin ein Organisationssystem...
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