Schweitzer Fachinformationen
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1021-1037
Noch war alles still an diesem herbstlich kühlen Morgen. Nur heiliges Schweigen erfüllte die Welt, während über der Burg Tuskulum, dem mächtigsten Kastell in den Albaner Bergen südlich von Rom, allmählich die Sonne aufging, um mit ihren wärmenden Strahlen den Tau von den Blättern der Bäume und den Zinnen der Türme zu trocknen.
Da gellte ein Schrei in der lautlosen Stille, und schwarze Vögel flatterten kreischend in den blassblauen Himmel auf, als wollten sie dem Drama von Leben und Tod entfliehen, das sich hinter den Mauern der Burg vollzog. Denn dort, im Innern der jahrhundertealten Festung, die sich inmitten schwarzgrün bewachsener Wälder auf einer einsamen Anhöhe erhob, lag im zerwühlten Bett ihrer Kemenate Contessa Ermilina, Gräfin von Tuskulum, seit einem Tag und einer Nacht in den Wehen.
»Heißes Wasser! Und bring mir die Zange!«
Wie aus weiter Ferne drangen die Anweisungen der Hebamme an Ermilinas Ohr, als würde der Schmerz, der in immer neuen Wellen von ihrem Leib Besitz ergriff, ihre Sinne betäuben, während sie den Blick Hilfe suchend auf das Lamm Gottes richtete, dessen Bildnis zum Schutz vor dem Kindbetttod ihr gegenüber an der Wand angebracht worden war. Drei Söhne hatte sie bereits geboren, und sie hätte nie gedacht, noch einmal niederzukommen. Sie war mit ihren sechsunddreißig Jahren doch viel zu alt, um von einem Mann zu empfangen, seit einer Ewigkeit hatte sie keine Blutung mehr gehabt. Aber der Einsiedler Giovanni Graziano, ein heiligmäßiger Mann, der einsam in den Wäldern hauste und ihr die Beichte abnahm, hatte ihr das Wunder gedeutet: Ihre Schwangerschaft sei ein Zeichen Gottes, wie es einst die Schwangerschaft der Stammesmutter Sarah gewesen sei, Abrahams Frau. Ihr Kind sei darum ein besonderes Kind, es sei Gottes Wille und Beschluss, dass sie es zur Welt bringe - ad maiorem dei gloriam.
»Ich kriege den Kopf nicht zu fassen! Es liegt verkehrt rum im Bauch!«
Wieder krampfte sich Ermilinas Leib zusammen, in einer Woge aus Schmerz, als wolle er das fremde, kostbare Wesen, das im Dunkel ihrer Gedärme nistete, wie ein Katapult aus sich heraus schleudern. Doch wieder staute sich die Woge an einer unsichtbaren Wand, türmte der Schmerz sich in ihrem Innern auf, um sich in einer Sturzflut zu brechen und durch die Adern bis in die letzte Faser ihres Körpers zu strömen. Würde sie diese Geburt überleben?
Die Hebamme schob ihre Oberschenkel noch weiter auseinander und drückte mit beiden Händen gegen ihren Unterbauch. »Es muss zurück, damit ich es drehen kann!«
Ermilina spürte, es war ein Kampf zwischen ihr und dem Kind. Noch halb gefangen in ihrem Leib, halb schon bei den Engeln, flüsterte sie die Namen aller Schutzpatrone, die sie kannte, griff nach dem Gürtel, den Giovanni Graziano ihr geschenkt hatte, den Gürtel der Heiligen Elisabeth, der ihr die Geburt erleichtern sollte, und hielt ihn mit ihrer ganzen Kraft. Gott liebt dieses Kind . Es soll dermaleinst sein Werkzeug sein . Es ist von der Vorsehung auserwählt . Wie Traumfetzen schossen die Worte des Einsiedlers ihr durch den Kopf, Botschaften aus einer anderen Welt, aus denen sie Kraft schöpfen konnte, während das neue Leben in ihr das alte Leben schröpfte und verzehrte.
Was hatte Gott mit diesem Kind vor, dass er ihr ein solches Martyrium auferlegte?
Durch einen roten Schleier sah Ermilina, wie die Hebamme nach der Spritze griff, die bereits mit Weihwasser gefüllt war, damit ihr Kind noch im Mutterleib getauft werden konnte, falls es zu sterben drohte. Voller Entsetzen formte Ermilina ihre Lippen zum Gebet.
»Ich flehe dich an, Herr . Nimm mein Leben im Tausch für mein Kind .«
Auf einmal war es so still, dass sie ihren eigenen Atem hörte. Erschöpft schloss sie die Augen, und für einen wunderbaren Moment schien jeder Schmerz erloschen. Hatte der Herr ihr Gebet erhört und nahm ihr Opfer an? Obwohl sie am ganzen Leib schweißnass war, fror und zitterte sie so sehr, dass die Adlersteine in der Amulettkapsel, die die Hebamme ihr ans Handgelenk gebunden hatte, um ihre Schmerzen zu lindern, leise klapperten und ihre Zähne wie im Schüttelfrost aufeinander schlugen.
»Wenn das Kind überlebt - wie soll es heißen?«
Ermilina schlug noch einmal die Augen auf und sah in das fragende Gesicht der Hebamme. Unter Aufbietung ihrer letzten Willenskraft unterdrückte sie das Schlagen ihrer Zähne, um Antwort zu geben.
»Teofilo .«, flüsterte sie. »Der, den Gott lieb hat .«
»Und wenn es ein Mädchen ist?«
Ermilina schüttelte den Kopf. »Es ist ein Junge . Ich weiß es . Und er soll Teofilo heißen .«
Mit dem Namen ihres Sohnes auf den Lippen, den Blick auf das Lamm Gottes gerichtet, schwanden ihr die Sinne, und sie sank in Ohnmacht.
»Wie kann das sein, dass Wein sich in Blut verwandelt?«, wollte Teofilo wissen. »Und warum wird plötzlich Brot, das wir zur Suppe essen, zum Leib Christi?«
»Das ist das Geheimnis des Glaubens«, erwiderte Giovanni Graziano. »Deinen Tod, oh Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir. Bis du wiederkommst in Herrlichkeit.«
»Ich weiß, das sagt auch Don Abbondio in der heiligen Messe. Aber könnt Ihr mir nicht zeigen, wie es passiert? Ich würde es so gerne sehen!«
Giovanni Graziano blickte ihn streng an. »Hast du das Beispiel des heiligen Thomas vergessen?«
Teofilo senkte beschämt den Kopf. Er wusste, warum sein Taufpate ihm die Frage stellte. »Ihr meint - wegen der Wundmale?«
»Richtig«, nickte Giovanni Graziano. »Der heilige Thomas wollte auch nicht glauben, dass der Herr ans Kreuz geschlagen und wiederauferstanden war. Bis er mit eigenen Augen die Wundmale sah und sie mit eigener Hand tastete. Was also lernen wir daraus?«
Teofilo brauchte nicht lange nachzudenken, um Antwort zu geben. »Dass wir nicht nur glauben sollen, was wir sehen, sondern vor allem das, was Jesus Christus sagt.«
»Siehst du?« Sein Pate strich ihm über das Haar. »Wie alt bist du jetzt, mein Sohn?«
»Sechs Jahre, ehrwürdiger Vater.«
»Meinst du nicht, dass du deinen Wissensdurst dann noch ein wenig bezähmen solltest? Die heilige Wandlung ist schließlich das erhabenste Wunder, das Gott für uns gewirkt hat.«
Wie jeden Samstag war Teofilo mit seinen Brüdern am frühen Morgen zu Giovanni Grazianos Einsiedelei gewandert. Schon Tage im Voraus fieberte er diesem allwöchentlichen Ereignis entgegen - so begierig war er auf die Unterweisung im Glauben durch seinen Taufpaten, der mit der hageren Gestalt, dem weißen, schulterlangen Haar und den pechschwarzen Augen aussah wie Johannes der Täufer auf dem Altarbild der Burgkapelle. Ihn liebte und bewunderte Teofilo mehr als seinen eigenen Vater, den mächtigen Grafen von Tuskulum, für den er eher Respekt, vor allem aber Furcht empfand. Obwohl Giovanni Graziano weder lesen noch schreiben konnte, stand er im Ruf, ein wahrer Mann Gottes zu sein - eine Lilie unter Dornen. Angeblich hatte Gott sich ihm bereits in seiner Jugend zu erkennen gegeben, als er ihm befohlen hatte, sein Elternhaus zu verlassen, um dem Beispiel Jesu Christi zu folgen und als Eremit der Welt für immer zu entsagen. Graziano hatte die Einsiedelei, die aus einem einzigen ummauerten Raum bestand, auf Gottes Geheiß am Ende eines Weges errichtet, auf dem angeblich Flaschen und Räder bergaufwärts rollten, weshalb Gläubige aus Rom und ganz Latium an diese Stätte pilgerten. Hier lebte Giovanni Graziano in vollkommener Einsamkeit und ernährte sich allein von den Früchten und Pflanzen, die im Walde wuchsen: von Sauerampfer, Pilzen und Beeren sowie von den Broten, die hin und wieder fromme Pilger vor der Tür der Einsiedelei ablegten. Seit seiner Taufe, so hatte man Teofilo gesagt, habe sein Pate diesen Ort nicht mehr verlassen. Weil ein jeder, der sich in die Welt hinaus begebe, sich unweigerlich in Sünde und Schuld verstricke.
»Ich habe auch eine Frage, ehrwürdiger Vater.«
Gregorio, Teofilos zehn Jahre älterer Bruder, ein kraftstrotzender junger Mann mit rotblonden Locken und schon sprießendem Bart, der mit bloßen Zähnen Walnüsse knacken und auf Kommando furzen konnte, hatte den Finger gehoben, um sich bemerkbar zu machen.
»Nun, was möchtest du wissen?«, fragte Giovanni Graziano.
»Warum bringt eine schwarze Katze Unglück?«
»Darauf gibt es keine Antwort, mein Sohn.«
»Warum nicht?«, erwiderte Gregorio beleidigt. »Wenn Teofilo etwas fragt, habt Ihr immer eine Antwort.«
»Weil Angst vor schwarzen Katzen Aberglaube ist.«
»Aberglaube? Das kann nicht sein! Das weiß doch jeder, dass eine schwarze Katze Unglück bringt. Oder?«
Um Zustimmung heischend, drehte Gregorio sich zu seinen Brüdern herum: Ottaviano, der mit seiner feinen, hellen Haut und dem schmächtigen Körper zwar aussah wie ein Mädchen, doch mehr essen konnte als zwei erwachsene Männer zusammen, sowie Pietro, der immer so müde war, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen, und nur aufzuwachen schien, wenn ihn die Pickel juckten, die seit ein paar Monaten auf seinem Gesicht blühten.
»Natürlich bringt eine schwarze Katze Unglück«, erklärte Pietro gähnend. »Genauso, wie wenn im Wald der Kuckuck schreit.«
»Unser Jagdaufseher hat mal gehört, wie der Kuckuck fünfmal schrie«,...
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