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Verlorene Erinnerungen und dunkle Geheimnisse
Zwei vermisste Frauen tauchen gleichzeitig nach drei Wochen wieder auf - eine in Berlin, die andere in Wien. Für beide scheinen nur zwei Tage vergangen zu sein. Noch merkwürdiger sind ihre exakt gleichen Erinnerungen an die Entführungen. Die Ermittler sind ratlos und holen die Erinnerungsforscherin Lea Goldberg ins Team, die zurückgezogen in Wien lebt und seit einem Fehlurteil arbeitsunfähig ist. Ein Jahr zuvor beurteilte sie einen Angeklagten falsch, der daraufhin freikam und einen Mord beging.
Die renommierte Psychiaterin Barbara Kirsch unterstützt die Ermittlungen in Berlin. Zusammen versuchen sie, die versteckten Erinnerungen der Frauen zu entwirren. Doch als die beiden Psychologinnen sich treffen, löst dies eine Katastrophe aus ...
Als Kommissar David Friedrichs um halb sechs Uhr morgens anrief, dachte ich, er hätte sich verwählt. Ich stand mit der Kaffeetasse in der Küche und starrte teilnahmslos auf ein Video, das auf meinem Laptop lief. Eine junge hübsche Frau verrenkte sich in Yogaposen. Eine von Ellis Freundinnen hatte den Link auf Instagram geteilt. Es hatte etwas gleichzeitig Schmerzhaftes und Tröstendes, dass das Leben für sie weiterging - ohne Elli.
»David?«, meldete ich mich.
»Hallo, Lea. Tut mir leid, dass ich so früh anrufe.«
Seine Stimme klang anders als sonst. Oberflächlich wirkte sie ruhig, doch darunter schwang ein leichtes Beben.
»Kein Problem, ich bin wach. Aber .«
»Ich weiß, du arbeitest im Moment nicht. Ich brauche dich trotzdem. Kannst du herkommen? Jetzt gleich.«
»Was ist los?«
Er schluckte. »Das kann ich nicht am Telefon sagen, ich schicke dir einen Wagen. Es hat mit Berlin zu tun.«
Berlin. Ich wusste nicht, was er genau meinte. Schließlich hatte ich lange in Berlin gelebt und gearbeitet - bis zur Katastrophe letztes Jahr. Doch die Nennung der Stadt reichte, um mein Angstmonster zu triggern. Mein Herz fing an zu rasen, meine Muskeln verkrampften sich. Obwohl ich wusste, dass ich hier in meiner Küche in Sicherheit war, machte sich mein Körper bereit zur Flucht.
»In Ordnung, ich komme.«
Ich griff in die Medikamentenschublade, spülte die letzte Tablette im Blister mit Kaffee hinunter, schlüpfte in die erstbesten Jeans, T-Shirt und Sneaker, nahm die Lederjacke und wartete vor dem Haus auf den Streifenwagen. So, wie ich es bis vor einem Monat unzählige Male gemacht hatte. Mit dem Unterschied, dass ich mich damals noch geweigert hatte, ein angstlösendes Medikament einzunehmen. Jetzt konnte ich es kaum erwarten, bis es wirkte. Was allerdings sicher mindestens eine Stunde dauern würde.
Je näher der Streifenwagen dem Bundeskriminalamt kam, desto mehr jagte mein Puls in die Höhe. Vor der Landespolizeidirektion - einem riesigen Klotzbau aus den siebziger Jahren mit dem Charme einer Turnhalle - stieg ich aus. Meine Beine zitterten, und ich versuchte, ruhig zu atmen. Was mir nicht gelang. Eine typische Reaktion bei PTBS - der posttraumatischen Belastungsstörung. Ich hatte genug Patienten mit der gleichen Diagnose behandelt. Seit einem Monat konnte ich deswegen nicht mehr als Leiterin der psychologischen Opfer-Betreuung arbeiten, dabei hatte ich den Job kaum ein Jahr. Offiziell wurde es »Bildungskarenz« genannt, mit offenem Zeitpunkt, wann ich zurückkehren würde. Man wollte mir keine Steine in den Weg legen. Wofür ich dankbar war, ich hatte die Arbeit gemocht. Sie war, mit dem Umzug von Berlin zurück in meine Heimatstadt Wien, mein Neubeginn.
Die neue Wohnung im achten Bezirk, umgeben von hippen kleinen Lokalen, Restaurants und Geschäften, war größer als die in Berlin. Das kulturelle Leben hier genauso vielfältig. Und es wimmelte von Touristen. Wien hatte sich verändert, es war eine Großstadt geworden. Vielleicht hatte ich deshalb das Gefühl, meine Rückkehr sei keine überhastete Flucht, sondern die richtige Entscheidung.
Doch nach ein paar Wochen hatte es wieder begonnen. Wie aus dem Nichts hatte mein Körper angefangen, verrückt zu spielen. Die Panikattacken kamen plötzlich und ohne bestimmten Auslöser. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Dazu die Alpträume, aus denen ich von meinen eigenen Schreien nach Elli und Carl geweckt wurde. Anfangs hatte ich versucht, damit umzugehen. Auch wenn es mir nicht gefiel, waren es doch nachvollziehbare Reaktionen, es würde besser werden. Was nicht passierte. Im Gegenteil. Und da war noch etwas anderes. Dieses schleichende Gefühl, als würde ich mir fremd werden. Rational wusste ich, es handelte sich um die nächste Phase. Die Dissoziation - die Abspaltung der eigenen Emotionen. So lassen sich zu schmerzhafte Erfahrungen wirkungsvoll ausblenden. Eine Art Schutzmechanismus der Psyche. Wie ein Wächter lässt sie nur zu, was sie verkraften kann.
In Berlin hatte ich mit Patienten gearbeitet, die mit unerwarteten Todesfällen, Gewaltverbrechen, Missbrauch, Vergewaltigungen oder Unfällen nicht fertig wurden. Häufig waren es auch Kündigungen oder Trennungen. Wie wichtig und bedeutend mir die Einordnungen der PTBS-Phasen vorgekommen waren.
Lea Goldberg erkennt das und das. Oh, wie klug und brillant.
Seit diese Diagnosen mich selbst betrafen, waren sie zu dem geworden, was sie eigentlich sind - seelenlose Worte zur Etikettierung, warum man nicht mehr funktionierte. Denn so fühlte ich mich.
Vom Verstand her war mir klar, dass die alten Wunden aus meiner Kindheit durch das schreckliche Unglück in Berlin aufgerissen worden waren. Doch ich war nicht darauf gefasst gewesen, auf welcher emotionalen Achterbahn ich mich im gefühlten Blindflug bewegte.
Um ruhiger zu werden, hielt ich das Gesicht in das orangefarbene Licht der Morgensonne, die sich in den Fenstern spiegelte. Ich konzentrierte mich auf den bittersüßen Nachgeschmack des Kaffees. Spürte die Wärme auf der Haut und die leichte Brise. Hörte auf die Motorengeräusche der vorbeifahrenden Autos. Es würde ein schöner Junitag werden. Egal, was mich gleich bei Friedrichs erwartete.
Ich nahm einen tiefen Atemzug und betrat das Gebäude. Die beiden Polizeibeamten am Eingang winkten mich durch die Drehtür, ohne meinen Ausweis zu verlangen. Sie tuschelten. Wahrscheinlich erkannten sie mich. Was weniger mit mir zu tun hatte, als mit der großen Narbe in X-Form, die sich über meine komplette linke Gesichtshälfte zog. Die Erinnerung an einen Autounfall, den ich als Zwölfjährige hatte.
»Zweiter Stock, Frau Goldberg. Sie werden erwartet.« Ich nickte ihnen zu, sie senkten sofort die Blicke. Ich bin daran gewöhnt. Wie ein Stempel markiert mich diese Narbe. Ich registriere sie nur an den schlechten Tagen, wenn ich in den Spiegel sehe.
David Friedrichs stand vor einem der Gangfenster. In einem dunkelblauen Slimfit-Anzug, die dunklen Haare wie immer perfekt gegelt.
Wie üblich wurde er von seinem leicht nervösen Assistenten Hoffmann postiert. Im Gegensatz zu dem hochgewachsenen schlanken Friedrichs hatte er eine Glatze und einen Schmerbauch. Ich habe selten einen ohne den anderen angetroffen. Zumindest innerhalb dieses Gebäudes.
Hoffmann und ich lächelten einander aus der Entfernung zu, während Friedrichs mir grußlos entgegeneilte. Er deutete auf die Unterlagen, die er unter den Arm geklemmt hatte und dann auf eine offenstehende Tür am Ende des Gangs.
»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Bitte da rein.«
Er sprach so sanft und ruhig, als würde er in einer schummrigen Bar einen Cocktail bestellen.
Vor meiner Auszeit hatte ich bei einigen Fällen mit ihm zusammengearbeitet und war mit seiner Vorgehensweise vertraut geworden. Je schwieriger sich ein Fall darstellte, desto ruhiger wurde Friedrichs. Als könnte er den Schrecken dadurch kontrollieren.
»Hoffmann, bringst du bitte Kaffee in die zwei«, rief er seinem Assistenten zu.
Wir betraten das kleine Verhörzimmer, das intern nur »Beichtstuhl« genannt wurde, weil darin gerade mal zwei Stühle Platz hatten.
»Ich bin seit 3 Uhr hier und habe in fünfzehn Minuten eine Pressekonferenz«, sagte er und gähnte. »Es war eine verrückte Nacht. Guten Morgen, übrigens.« Er lächelte, aber es erreichte seine Augen nicht. Er schloss die Tür.
Es war heiß und stickig in dem fensterlosen Raum. Trotzdem zitterte ich, mir war kalt, und ich nahm rasch Platz.
»Es wird nicht lange dauern«, sagte er beschwichtigend.
Ich schlug die Beine übereinander, verschränkte meine Finger so, dass ich unauffällig den Daumennagel in das weiche Fleisch der anderen Hand bohren konnte.
»Kein Problem, ich habe Zeit.«
Er blieb stehen, musterte mich, als würde er mir meine Schlaflosigkeit ansehen.
»Du wirst gleich verstehen, warum ich dich hergebeten habe, Lea.« Es klang nach einer Entschuldigung.
Unter vier Augen waren wir per du. Seit Friedrichs mich zwei Mal in eine italienische Weinbar, in der Nähe des Kommissariats, eingeladen hatte.
Die erste...
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