Schweitzer Fachinformationen
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DIE VERGESSENEN
Die Landschaft flog vor den Augen von Sophie vorbei, die den Kopf ans Zugfenster gelehnt hatte und hinausblickte.
Lau und feucht hing die Luft im Waggon.
Sophie schloss die Lider und ließ sich von der Sonne liebkosen, die träge durch die Scheibe hereinfiel. Augenblicklich blitzten in ihrem Kopf Bilder auf, Szenen einer von ihr so sehr herbeigesehnten Zukunft. Monatelang hatte Sophie sich diese Zukunft Nacht für Nacht erträumt, sodass sie nun ihre Gedanken beherrschte und darin keinen Platz mehr für irgendetwas anderes ließ.
Sophie war klar, dass sie auf vieles würde verzichten müssen, um ihr Ziel zu erreichen. Aber sie war dazu bereit, das schützende Nest ihres Elternhauses hinter sich zu lassen, ihre Freunde und die Geborgenheit der geliebten Heimatstadt.
Natürlich hatte Sophie Angst; selbstverständlich hatte die Ungewissheit sie nachts oft wach gehalten. Aber es war ihr gelungen, sich allen Zweifeln zu stellen. An diesem Punkt hatte sich vor ihr ein strahlender Himmel aufgetan, und sie war sich ihrer Überzeugung sicher gewesen: Genau das wollte sie. Sie wünschte es sich mehr als alles andere, koste es, was es wolle. Dafür war sie zu jedem Opfer bereit, sogar zu diesem hier, dem ersten: der langen Reise von New York an die Westküste. Um Los Angeles zu erreichen, musste Sophie nämlich drei lange Tage und drei unendliche Nächte in einem warmen, lauten Zug verbringen, in dem bald alles voller Ruß war.
Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, wie hart die Wochen vor ihrer Abreise werden würden.
Der Zug bewegte sich in gleichmäßigem Rhythmus voran, und die immer größere Entfernung ließ Sophies Erinnerungen langsam verblassen. Aber irgendwann kehrte alles zurück, was sie erlebt hatte, als Erstes die Ereignisse der letzten Stunden. Wie eine scharfe Kralle gruben sie sich ihr in die Brust und lösten ein Gefühl der Leere aus.
»In dieser unglücklichen Zeit müssen Pläne geschmiedet werden, die auf den Vergessenen aufbauen, auf bislang nicht organisierten, aber unverzichtbaren Einheiten wirtschaftlicher Kraft. Pläne wie jene aus dem Jahr 1917, die von unten herauf entstanden sind, nicht von oben hinab, und bei denen man wieder einmal sein Vertrauen in die Vergessenen am Fuß der Wirtschaftspyramide setzt.«
Am Abend des 7. April 1932 wandte sich von Albany in New York aus der Gouverneur des Staates und Präsidentschaftskandidat Franklin D. Roosevelt per Radio an die Nation.
Anders als Präsident Hoover versprach der Herausforderer, sich der Probleme aller Wirtschaftszweige des Landes durch die schwere Krise anzunehmen. Seine Lösungen sollten die tragische Situation der sozial benachteiligten Schichten verbessern, jener Menschen, die die Wirtschaftskrise am eigenen Leib zu spüren bekamen und am meisten darunter litten.
Die Eheleute Simmons hatten sich - ihren unabänderlichen Gewohnheiten entsprechend - wie jeden Abend zur gleichen Stunde im Wohnzimmer eingefunden und warteten auf ihre Töchter, um mit ihnen zusammen zu essen. Ebenfalls wie gewöhnlich hatte Joseph Simmons seinen Platz im Ohrensessel vor dem Kamin eingenommen und las die New York Times, während im Hintergrund das Radio lief. Seine Frau Vera saß hingegen mit dem Rücken zum Erker auf dem Dreisitzersofa und strickte.
Das Ehepaar lebte mit seinen beiden Töchtern, Elionor und Sophie, mitten in der Upper West Side in der 74th Street, fast an der Ecke zur Amsterdam Avenue. Sie bewohnten ein Sandstein-Reihenhaus, ein charakteristisches Townhouse, wie sie diese Gegend prägten.
Häuser dieses Stils, der bald als typisch für viele Viertel von New York gelten würde, entstanden seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, um die wachsende Mittelschicht zu beherbergen.
Konkret handelte es sich beim Zuhause der Simmons um ein hübsches Gebäude im Italianate-Stil, dessen Eingangstür man wie auch bei den Nachbarn über Stufen mit schmiedeeisernem Geländer erreichte. Unterhalb des Eingangs befand sich der Zugang zum Souterrain.
Im Erdgeschoss gab es große Bogenfenster und einen weiten Eingangsbereich, von dem aus eine Treppe zu den oberen Etagen führte. In den beiden Räumen links und rechts davon hatte Joseph Simmons, ein bekannter und beliebter Arzt, bis vor zweieinhalb Jahren sein Arbeitszimmer und seine Praxis gehabt.
Das Prachtstück des Hauses war ohne Zweifel der gusseiserne Vorbau, der das große Wohnzimmer im ersten Stock zierte. Im Erkerzimmer, wie die Simmons es nannten, fand das Leben der Familie statt. Von jeher kam sie in dem Raum mit weichen Teppichen, Kamin, Radio, bequemen Sofas und Sesseln zusammen, um zu lesen, zu plaudern, Gäste zu empfangen und besondere Anlässe zu feiern. Auf dieser in helles Licht getauchten Bühne spielte sich das Familienleben der Simmons ab, das bis vor Kurzem noch so strahlend und erfüllt gewesen war.
Aber es hatte sich alles geändert, weil der unheilvolle Schwarze Donnerstag des 24. Oktobers 1929 ihr Leben so wie das von Tausenden und Abertausenden Amerikanern auf den Kopf gestellt hatte.
Nur eine Woche nach dem Kurseinbruch beliefen sich die Verluste an der Börse auf etwa achtzehn Milliarden Dollar, was den Gewinnen eines ganzen Jahres entsprach. Weder das Eingreifen des Bankensektors noch das von Finanzriesen wie Rockefeller konnte die Entwicklung stoppen, genauso wenig wie die Versuche von Präsident Hoover, der Bevölkerung Mut zuzusprechen.
Auf die erste Welle von Selbstmorden unter Aktionären, die in wenigen Stunden ein wahres Vermögen verloren hatten, folgte der Mangel an Krediten. Gescheiterte Investoren konnten ihre Schulden nicht bezahlen, wodurch die Banken kein Geld einnahmen. Die Bankreserven schrumpften, was vor allem kleine Sparer und schwächere Firmen traf, sodass viele dieser Unternehmen eins nach dem anderen schließen mussten.
Durch den Börsenkrach hatte Dr. Simmons nicht nur die Ersparnisse eines ganzen Lebens verloren, sondern auch einen Großteil seiner Patienten, die ihn jetzt nur noch im äußersten Notfall aufsuchten.
Seine berufliche Tätigkeit reduzierte sich auf ein paar Hausbesuche hier und da. Aus diesem Grund hatte er irgendwann die Praxis schließen müssen.
Seitdem lag ein trübes Licht über dem bisher so erfüllten und glanzvollen Leben von Vera Simmons.
Vielleicht hatte sie sich deshalb hinter einer dicken Mauer aus Gleichgültigkeit verschanzt und übte sich jeden Tag in der Kunst der Verstellung. Statt ihre Verbitterung zum Ausdruck zu bringen, verhielt sich Vera meistens so, als wäre alles wie immer.
Im Erkerzimmer hatte sie einst zu ihrer Stärke gefunden, deshalb tat sie nun alles, um angesichts des drohenden Verfalls die Pracht des Raumes zu bewahren.
Tatsächlich hatte sich hier nichts verändert. Noch immer verströmten vom Erker aus Azaleen, Pfingstrosen und natürlich New Yorker Rosen ihren Duft wie in den guten alten Zeiten. Die Spitzengardinen filterten das Licht und hielten eine Welt in Aufruhr fern, die Vera nicht verstand.
Joseph hatte die Zeitung zusammengefaltet, die jetzt auf seinem Schoß ruhte, und lauschte mit voller Aufmerksamkeit den Worten des Gouverneurs:
»So mancher behauptet, eine riesige Investition öffentlicher Gelder vonseiten der föderalen sowie der Staats- und der lokalen Regierungen würde das Arbeitslosenproblem komplett lösen. Aber eins ist offensichtlich: Selbst wenn wir viele Milliarden Dollar aufbringen und sie in nützliche öffentliche Bauvorhaben stecken würden, könnte man mit all diesem Geld nicht die zurzeit sieben oder zehn Millionen erwerbslosen Menschen beschäftigen.«
In diesem Moment kehrte Sophie nach Hause zurück und wurde von der strahlenden Sonne in Empfang genommen, die durch die weißen Gardinen des Erkers hereinfiel. Sophies Wangen leuchteten so rosig wie das abendliche Licht, und ihre Augen glänzten.
Joseph stellte das Radio aus.
Schon bald würde Sophie ihren Abschluss an der Washington Irving High School machen, wo sie sich auf Design spezialisiert hatte, weil sie eine künstlerische Ader hatte. Das hatte sie von klein auf bewiesen und sich an der Washington Irving durch ihr zeichnerisches Talent hervorgetan.
Und da Sophie mit Abstand Josephs liebste Tochter, sein Augenstern, war, platzte er als ihr größter Bewunderer beinahe vor Stolz.
Sophies Mutter hingegen betrachtete ihre Entwicklung mit Unbehagen. Vera war eine Frau, die immer alles genau verstehen wollte: Warum etwas geschah, aus welchem Anlass, wohin es führen würde . Und je vorhersehbarer alles war, desto besser.
Für sie war es konsequent und verständlich, dass Elionor als Tochter eines Arztes Krankenschwester geworden war und in einer Klinik eine Anstellung gefunden hatte. Dafür war sie erzogen worden: für eine anständige Arbeit, nützlich und praktisch, mit der sie sich den Lebensunterhalt verdienen und ihre Zukunft sichern konnte.
Ihre jüngste Tochter Sophie hingegen schien in Veras Augen nur ihre Zeit zu vergeuden, wenn sie stapelweise Blätter mit Figuren bemalte oder Nachmittage lang die Tiere im Zoo beobachtete und zeichnete.
Vera war klar, dass ihr Mann für die ganze Sache mitverantwortlich war, da er die verrückten Ideen des Mädchens noch unterstützte.
Und wenn sie schon einmal dabei war, gab Vera einen Teil der Schuld an Sophies Neigungen auch den Lehrern der Highschool. Vor allem einer von ihnen, ein gewisser Bob Waldman, schien einen großen Einfluss auf Sophie auszuüben und hatte ihr wohl einen Floh ins Ohr gesetzt.
Sophie hatte offensichtlich keine Ahnung davon, was ihrer Mutter da durch den Kopf ging, auf...
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