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Die vorliegende Studie behandelt zwei wichtige Reformdiskurse in der islamischen Gegenwart: neue Theologie und igtihad in der Theologie. Dabei geht es im Kern um die Schaffung einer theoretischen Grundlage, um über die theologischen und normativen Lehrmeinungen im Islam zu reflektieren und sie gegebenenfalls neu zu formulieren. Es geht aber auch um ein Plädoyer für eine pluralistische und am Menschen orientierte Auffassung des Islams.
Eine 'neue Theologie' zu wollen bzw. zu konzipieren kann logischerweise nur dann funktionieren, wenn freie wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den theologischen Inhalten für zulässig erachtet wird. Daher sprechen die Vertreter:innen der 'neuen Theologie' auch fast im selben Atemzug vom 'theologischen igtihad' (al-igtihad al-kalami) oder dem 'igtihad in den Grundlagen' (igtihad dar u?ul). Sie plädieren also dafür, dass die Gelehrten - wie im fiqh (d.i. die Jurisprudenz) - auch in den theologischen Fragen bzw. Annahmen eigenständig denken und sich eigene Meinungen bilden sollen.1
Dabei ist der Ausdruck 'igtihad in den Grundlagen' umfassender als 'igtihad in der Theologie'. Mit dem Ersteren ist die Praxis des igtihad in allen als definitiv angesehenen Vorstellungen, also in den theologischen Annahmen sowie in den normativen Bestimmungen wie etwa dem Gebot des Hidschabs und dem Verbot der Homosexualität gemeint. Der Letztere fokussiert speziell auf die theologischen Themen. Dennoch zielen die Gelehrten mit beiden Konzepten auf das Gleiche: die Praxis des igtihad auf definitive Fragen zu erweitern.
Im Großen und Ganzen fordern die Befürworter:innen von al-igtihad al-kalami dazu auf, a) theologische Lehrmeinungen zum Gegenstand freier wissenschaftlicher Auseinandersetzung zu erklären, b) in diesen Fragen genauso igtihad anwenden zu können wie in den schariarechtlichen Feldern, c) auf diese Weise die Meinungsverschiedenheit in allen religiösen Fragen zu begründen und d) die islamischen Lehren im Einklang mit den heutigen wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnissen und Wertvorstellungen zu interpretieren.2
Es geht also bei diesem Diskurs um die Aufnahme einer bewährten Praxis im islamischen Recht, die die Dynamik und Vielfalt der Scharia in den nichtdefinitiven praktischen Fragen über Jahrhunderte garantierte bzw. begründete, in den Bereich der definitiven religiösen bzw. theologischen Annahmen, damit auch hier die Möglichkeit eines Umdenkens gewährleistet ist.
Bemerkenswert ist dabei, dass auch unter den traditionellen Gelehrten Konsens darüber besteht, dass die Glaubensannahmen nicht durch Nachahmung (taqlid), sondern kraft eigener rationaler Überlegung begründet werden müssen. Gleichzeitig darf aber die eigene rationale Überlegung zu keinen anderen Ergebnissen führen als zu den bereits islamisch oder konfessionell formulierten Annahmen. Andernfalls wäre man ein murtadd ('Abtrünniger') bzw. ein mubtadi? (ein die Grenzen des Islams überschreitender 'Erneuerer'). Aus diesem Grund lehnen die traditionellen Gelehrten den igtihad in diesem Sinne in der Theologie auch weiterhin ab, während die Reformist:innen ihn zu ihrem intellektuellen Projekt erklären.
In diesem Teil werde ich das komplexe und nicht einmal unter seinen Vorkämpfer:innen einheitlich behandelte Thema 'Praxis des igtihad in der Theologie' bzw. 'in den Grundlagen' im Gespräch mit drei Reformdenkern - Mohsen Kadivar, Hassan Yussefi Eshkevari und Arash Naraghi - diskutieren. Diese Gespräche werden einerseits die Reformmöglichkeiten aufzeigen, welche die Anerkennung der igtihad-Praxis über die Grenzen der Jurisprudenz im Islam hinaus eröffnen kann. Andererseits werden sie offenlegen, dass die Vorstellungen zu dieser Frage durchaus unterschiedlich und in manchen Punkten noch nicht kohärent sind.
Bevor wir uns aber mit den drei Protagonisten und ihren Ansichten zum Thema igtihad befassen, möchte ich im vorliegenden Kapitel einige grundliegende Überlegungen zu diesem Thema aus meiner Sicht besprechen. Dieses Kapitel führt gewissermaßen in die Themen, Begrifflichkeiten und Zusammenhänge ein, die in den Gesprächen mit den drei Reformdenkern vorkommen. Gleichzeitig soll es meine Kritikpunkte an den von ihnen angesprochenen Ansätzen im Vorfeld erläutern.
Das Kapitel stellt zum Teil eine überarbeitete, aktualisierte und gekürzte Version des letzten Teils meiner im Jahre 2003 veröffentlichten Dissertation dar.3 Da das Buch inzwischen vergriffen und die dort durchgeführte Analyse der Begriffe ta??i?a und ta?wib für das hier zu besprechende Thema grundlegend ist, habe ich die dortige Diskussion hier in einer angepassten Form übernommen.
Generell gehen die Gelehrten davon aus, dass es feste Glaubenswahrheiten bzw. normative Wahrheiten gibt, die vom Propheten verkündet wurden und die die Menschen zu glauben bzw. zu praktizieren haben. Sofern die Menschen keinen direkten Zugang mehr zum Propheten (und in der Schia auch zu den Imamen) und damit zu diesen Wahrheiten haben - das betrifft alle Generationen nach dem Tode Muhammads im Jahre 632 sowie in der Schia nach der 'kleinen Verborgenheit' des letzten Imams im Jahre 939 -, müssen sie sich auf bestmögliche Weise bemühen, diese Wahrheiten zu finden. Diese Aktivität wird im Islam als igtihad bezeichnet.4
Wenn man jedoch igtihad anerkennt und praktiziert, öffnet man konsequenterweise der Meinungsverschiedenheit Tür und Tor. Davon legt die islamische Rechts- und Theologiegeschichte Zeugnis ab, insbesondere weil im Islam jede/r nach religiösen Wahrheiten suchen kann und für diese Aufgabe keine Institution existiert wie etwa im Christentum die Kirche, der eine Person wie der Papst vorsteht. Daher werden die Gelehrten seit jeher von der Frage umgetrieben, wie das igtihad-Ergebnis, das eine menschliche Erkenntnis darstellt und naturgemäß unterschiedlich oder gar widersprüchlich ausfallen kann, zu bewerten ist. Wie sind die durch igtihad erzielten diversen Lehrmeinungen mit der Idee der einen angenommenen Wahrheit zu vereinbaren? Diese Frage wird in der u?ul-wissenschaftlichen Literatur unter dem Titel ta??i?a/?ta?wib ausführlich diskutiert. Während die einen davon ausgehen, dass nur eine Meinung zutreffend sein bzw. der Wahrheit entsprechen kann und alle anderen falsch liegen (d.?h. mu??i? sind), halten die anderen alle igtihad-Ergebnisse für zutreffend (mu?ib). Die Vertreter:innen der ersten Position werden als mu?a??i?a und die des zweiten Standpunktes als mu?awwiba bezeichnet. Entsprechend heißen die jeweiligen Standpunkte ta??i?a und ta?wib.5
Aus meiner Sicht geht es bei dieser Debatte, wenn wir sie in den heutigen wissenschaftlichen Sprachgebrauch übersetzen, im Grunde um die wahrheitstheoretische bzw. religionstheologische Frage, ob die eigene religiöse Meinung die einzig richtige ist ('Exklusivismus') oder auch die anderen Menschen mit ihren Vorstellungen (vollkommen oder partiell) im Recht liegen ('Pluralismus'/?'Inklusivismus'). Diese These möchte ich im Folgenden kurz begründen, indem ich zunächst eine alternative Synonymisierung der Begriffe ta??i?a und ta?wib kritisch bespreche.
Einige islamwissenschaftliche Arbeiten behandeln die Frage ta??i?a oder ta?wib deskriptiv, indem sie das wiedergeben, was in den u?ul-wissenschaftlichen Werken zu diesem Thema steht. Zu diesen Arbeiten zählt das Buch von Birgit Krawietz Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam. Manche andere beleuchten darüber hinaus die rechtshistorischen bzw. theologischen Zusammenhänge der Frage. Zu dieser Gruppe gehören die Arbeit von Aron Zysow zur u?ul-Wissenschaft6 und die Ausführungen von Josef van Ess in seinem großen Werk Theologie und Gesellschaft 2. und 3. Jahrhundert Hidschra.7 Manch andere diskutieren das Thema mit Blick auf seine Relevanz für die heutigen Fragen der Meinungsfreiheit und Toleranz. Van Ess konkretisierte seine diesbezüglichen Gedanken in einer auf Arabisch gehaltenen und später gedruckten Rede, in der er unter Bezugnahme auf das Thema für einen 'pluralistischen Islam' plädiert.8 In diesem Bereich ist auch meine Dissertation Anerkennung des Igtihad - Legitimation der Toleranz: Möglichkeiten innerer und äußerer Toleranz im Islam am Beispiel der igtihad-Diskussion zu verorten.
Aron Zysow setzt in seiner Arbeit die ta?wib-Sicht ('jeder mugtahid liegt richtig') mit 'Infallibilismus' und die ta??i?a-Auffassung ('nur ein mugtahid liegt richtig') mit 'Fallibilismus' gleich.9 Mir scheint, dass der Grund für diesen Schritt die folgende...
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