Schweitzer Fachinformationen
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Wahres Glück besteht angeblich darin, aus dem eigenen Selbst herauszutreten; aber das allein reicht nicht - denn man muss draußen bleiben, und um dies zu schaffen, braucht man eine Aufgabe, die einen ganz in Anspruch nimmt.
Henry James, Roderick Hudson
Die britische Ethikerin mit dem betrübten Blick einer Bluthündin kehrt wieder auf den Bildschirm zurück. Sie sitzt in der Bibliothek des Magdalen College, Oxford. Ihr Gesicht ist vom lebenslangen Bemühen gezeichnet, die schlimmsten Exzesse der Naturwissenschaften in Schach zu halten. Eine Bildunterschrift identifiziert sie als Anne Harter, Autorin von Das Menschenheitsdesign. Sie sagt:
Noch teurere Hightech-Durchbrüche in Anti-Aging werden die erschreckend breite Kluft zwischen Arm und Reich weiter vergrößern. Wenn unser Ziel tatsächlich darin besteht, die Lebenserwartung des Durchschnittsmenschen zu erhöhen, sollten wir die Mehrzahl der Menschen auf diesem Planeten mit dem Trinkwasser versorgen, das ihnen nicht zur Verfügung steht.
Schnitt. Eine neue Bildunterschrift: Tagung der Universität Tokio zum Thema »Die Zukunft des Alterns«. Thomas Kurton steht hinter einem Pult; mit seinen haselnussbraunen Locken sieht er nicht aus wie siebenundfünfzig, sondern wie zweiunddreißig, ein Sarastro des Kults der Antioxidantien. Er spricht frei:
Das Drehbuch, das uns in Furcht und Dunkelheit gehalten hat, wird bald umgeschrieben werden. Auf der ganzen Welt stehen Labore kurz vor der Entdeckung der absurden genetischen Irrtümer, die das Leben in den Selbstmord führen. Das Altern ist nicht einfach eine Krankheit, sondern die Mutter aller Krankheiten. Und die Menschheit könnte endlich die Möglichkeit bekommen, es zu heilen.
Wieder ein Schnitt zurück nach Oxford: Professorin Harter stellt die wissenschaftlichen Grundlagen von Kurtons Optimismus in Frage. In Tokio schildert Kurton derweil die Entdeckung einer Genmutation, die die Lebenserwartung von Caenorhabditis elegans mehr als verdoppelt.
Oxford:
Das Altern ist nicht der Feind; der Feind ist die Verzweiflung.
Tokio:
Wenn man das Altern heilt, beseitigt man zugleich ein Dutzend anderer Krankheiten. Man könnte sogar der Depression abhelfen.
Die Kamera verwandelt Wissenschaftler und Ethikerin in ein zankendes Paar, das seinem Ärger vor Freunden Luft macht.
Dann folgt ein abrupter Schnitt. In Maine fragt Tonia Schiff Kurton:
Was ist mit den Leuten, die behaupten, dass schon jetzt zu viele alte Menschen in unserer Gesellschaft leben?
Er kann sich das jungenhafte Lächeln nicht verkneifen.
Es hat immer Leute gegeben, die an den Träumen der Menschheit herumgenörgelt haben. Und das ist gut so! Der Einwand ist in meinen Augen allerdings unsinnig. Denn ich rede von einer Zukunft, in der gealterte Menschen keineswegs alt sind.
Zurück nach Oxford zu Anne Harter:
Mir scheint, Dr. Kurton würde gern eine Assoziationsstudie zum Wunschdenken-Gen fördern.
Die Zusammensetzung des Paars ist genauso unfair wie die Genetik. Der Naturwissenschaftler ist klüger, besser informiert und entspannter. Harter kann sich nur an seinem Knöchel festbeißen und nicht lockerlassen.
Kurton, in seinem Blockhaus in Maine:
Die Menschen möchten länger und besser leben. Wenn beides möglich ist, werden sie beides tun. Die Ethik wird sich dem anpassen müssen.
Tonia Schiff sitzt neben ihm, ihr Knie dicht an seinem, und genießt die Debatte:
Wie wird der Markt diesen Jungbrunnen ihrer Meinung nach preislich einstufen?
Kurton senkt nachdenklich den Kopf, eine amüsante, kleine Geste, die zu besagen scheint, dass ihm diese Frage noch nie gestellt worden ist und dass er aus reiner Freude am Denken über eine Antwort sinniert.
Tja, der Markt scheint den Wert von Nahrungsmitteln und Wasser recht effektiv einzustufen. Bei der Preisbewertung von Arzneistoffen könnte er vermutlich ein wenig Hilfe gebrauchen.
Schiff, eingeschüchtert von der Genialität des Mannes:
Wollen Sie wirklich ewig leben?
Er wippt gutmütig auf seinem Stuhl und reibt seinen Nacken:
Mal schauen, wie weit ich komme. Ich habe die Kalorienzufuhr reduziert, mache täglich einen Workout und nehme einige Nahrungsergänzungsmittel, vor allem hohe Dosen Resveratrol. Wenn ich dadurch weitere zwanzig Jahre fit bleibe, könnte ich bei dem jetzigen Tempo der Entdeckungen .
Der Technobeat setzt wieder ein. Nach einer Überblendung zeigt eine Einstellung aus mittlerer Entfernung den Genomforscher, wie er in zwanzig Stockwerken Höhe über der apokalyptischen Traumlandschaft der Hachiko-Kreuzung in Shibuya, Tokio, schwebt. Unter ihm breitet sich ein Times Square hoch vier aus - geisterhaft grelle Neonlichter säumen eine Staffel von LCD-Bildschirmen, jeder mehrere Stockwerke hoch und über sieben Hauptverkehrsstraßen aufragend, die zum wildesten Fußgängergewirr der Welt verschmelzen und aus zwanzig Stockwerken Höhe wie Mitose unter einem Mikroskop aussehen. Bahnstationen mit mehreren Ebenen, Läden, in denen Bässe hämmern, Outlets für Kostüme, labyrinthische Baue mit spiegelgesäumten Spielhallen . Die Ampeln stoppen den gesamten Verkehr, und die Fußgängermassen, die sich angesammelt haben, schieben sich ineinander und drängen wie bei einem geordneten, aus allen Richtungen kommenden Tsunami auf die Kreuzung.
Thomas Kurton schaut von oben auf diese ornamentale Orgie urbaner Besitzloser. Die Kamera folgt seinem Blick: Kinder als Paradiesvögel; Kinder als edle Wilde; Kinder als Kogal-Kalifornier; Kinder aus den tiefsten Tiefen des Universums; Kinder als Prostituierte in matrosenartigen Schulmädchen-Uniformen mit Ranzen und Kniestrümpfen; Kinder als Mutanten - im Cosplay-Stil, als Catgirl, gothLoli oder als Dienstmädchen-Krankenschwester-Bunny - alle Teil eines wilden und doch milden nächtlichen Rebellionstheaters. Um vier Uhr morgens werden sich alle zerstreuen und in ihre Besenkammer-Wohnungen zurückkehren, um zwei Stunden später aufzustehen und zum Unterricht oder zu ihren Bürojobs zu fahren.
Der Wissenschaftler blickt von oben auf die kostümierte Masse und lächelt:
Wir sitzen in der Falle eines fehlerhaften Designs, wir stecken in einem schlechten Plot fest. Wir möchten jemand anderer werden. Genau das haben wir seit Beginn dieser Story gewollt. Und nun können wir uns diesen Wunsch erfüllen.
Die Kamera folgt ihm in einen gläsernen Fahrstuhl und saust nach unten in den Mahlstrom. Die transparente Kapsel öffnet sich, und Thomas Kurton verschwindet im mitternächtlichen Karneval von Shibuya.
Nach der siebten Minute von »Genie und Genom« wird Tonia Schiff kurz unvorbereitet von der Kamera eingefangen. Sie sitzt vorn im Hörsaal der Universität Tokio und wirkt in keiner Weise wie die Moderatorin, die durch die Interview-Segmente jagt. Ihr amüsierter Scharfsinn ist verpufft. Für zwei Sekunden scheint sich ihre Aura aufzulösen, weil sie Angst vor den Ereignissen auf dem Podium hat. Dann taucht die Kamera wieder in das Meer gespannter Gesichter ein, das sich hinter ihr im Hörsaal erstreckt.
Zehn Sekunden später sieht man sie im Menschengewimmel. Sogar ihre Haltung und ihr Geplauder wirken experimentell. Ihre Gesten zeugen von ihrer Kindheit in Washington und New York und von ihrer Jugend in Brüssel und Bonn. Sie unterhält sich mit einem der Wissenschaftler fließend auf Deutsch, unterbricht sich aber kurz, um einen Bekannten mit ein paar Brocken Japanisch zu begrüßen.
Sie wendet sich an ein neben ihr stehendes Paar und sagt etwas, das die beiden strahlen lässt. Diesen Trick hat sie von ihrem Vater gelernt, einem Karriere-Diplomaten: Sie kann jeder Person, der sie begegnet, das Gefühl geben, geniale Konversation zu machen. Von ihrer Mutter, die internationale Hilfsorganisationen in medizinisch-strategischer Hinsicht beraten hat, hat sie gelernt, dass sich auch aus den negativsten Regungen etwas Gutes gewinnen lässt. Das ist das Geheimnis ihres Edutainment-Erfolgs: uns glaubhaft zu versichern, dass wir unser Leben doch noch selbst gestalten können. Diese Gabe wird sie später in einem New Yorker Studio einsetzen, als die Einführung für diesen Teil der Sendung aufgezeichnet wird. Etwas kosmopolitischer Charme, untergraben von einem sardonischen Grinsen: »Meine Art von Zukunft würde wohl fragen: >Wenn ich dir heute Nacht deinen Willen lasse, wirst du mich morgen früh noch achten?<«
Bis Tonia Schiff zwanzig wurde, hielt sie an dem Glauben fest (genährt an diversen internationalen Eliteschulen), dass man die tiefste Zufriedenheit aus jenen kulturellen Werken beziehen konnte, die im Laufe der Zeit ihre Dauerhaftigkeit bewiesen hatten. Doch als sie im zweiten Semester ihres Kunstgeschichtsstudiums an der Brown mit dem Postkolonialismus konfrontiert wurde, kam ihr Glaube an Meisterwerke ins Wanken. Ein Seminar über die marxistische Interpretation der italienischen Renaissance weckte eine nachhaltige Wut in ihr. Sie focht noch eine Weile als Söldnerin und kämpfte den edlen Kampf für die Erhabenheit des Künstlerischen, bis sie schließlich merkte, dass alle befehlshabenden Offiziere schon längst ein sicheres Geleit aus dem Schlachtengetümmel ausgehandelt hatten.
Mittlerweile empfänglich für die Verdorbenheit der Welt, entdeckte sie in ihrem dritten Collegejahr mit einiger Verspätung (für den Rest der Welt war die Sache längst offensichtlich) die Macht, die...
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