Schweitzer Fachinformationen
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Er erwachte vom Miauen einer Katze.
Er setzte sich in seinem Schlafsack auf und schob den Vorhang am Rückfenster des VW-Busses zur Seite: Ein großes, hageres Mädchen in weißem Nachthemd ging trotz Kälte barfuß übers Gras; eine kleine schwarze Katze lief ihr nach.
Leise klopfte er ans Fenster - die Katze blieb wie angewurzelt stehen, eine Pfote in der Luft, dann rannte sie weiter. Dem Mädchen hing das kohleschwarze Haar in einem langen Zopf über den Rücken.
Indem er den Hals etwas reckte, sah der Mann sie zu dem Teil des Campingplatzes gehen, der für Zelte reserviert war. Er kroch aus seinem Schlafsack, zog Jeans und - weil er so leicht fror - einen dicken Wollpullover an und öffnete sämtliche Vorhänge des alten Bullis. Die Sonne ging gerade auf, und Nebelbänke lagen über der Bucht von Gaspé.
Er ging in den Waschraum, um sich frisch zu machen und zu rasieren. Als er wiederkam, war bei den Zelten niemand mehr zu sehen; das Mädchen war verschwunden.
Er zog die Seitentür des Minibusses auf und stellte Gaskocher, Propangasflasche und Plastikgeschirr auf den Picknicktisch. Er presste Orangensaft aus, machte sich Cornflakes und Toast und kochte Wasser für Kaffee und Abwasch. Als der Kaffee fertig war, stand er unvermittelt auf und kramte aus dem Handschuhfach des VWs die alte Postkarte von seinem Bruder Théo. Er lehnte die Karte an das Marmeladenglas und trank in kleinen Schlucken seinen Kaffee.
Als er aufblickte, hatte der Nebel sich verflüchtigt, und die Bucht von Gaspé wurde von Sonnenlicht durchströmt. Er machte den Abwasch, räumte seine Sachen zurück in den Bus und klappte das Dach ein. Vor der Abfahrt überprüfte er wie immer drei Dinge: den Ölstand, das Eis im Kühlschrank und den Keilriemen des Lüfterrads. Alles in Ordnung. Ein prüfender Tritt gegen das linke Vorderrad, dann kletterte er hinters Steuer. An der Straße bog er links ab: Das Städtchen Gaspé lag etwa fünf Kilometer entfernt.
Ein etwas steilerer Anstieg zwang ihn, erst in den dritten, dann in den zweiten Gang zurückzuschalten, und als er oben ankam, sah er dort das große, dünne Mädchen an der Straße entlanggehen. Obwohl sie teilweise hinter einem riesigen, mit Stützrohren versehenen Rucksack verborgen war, erkannte er sie doch sofort an ihrem ausgesprochen schwarzen Haar und ihren nackten Füßen. Bewusst blieb er länger als nötig im zweiten Gang, und das Mädchen streckte, ohne sich umzudrehen, den linken Daumen nach dem Motorgrollen aus. Er fuhr an ihr vorbei, hielt neben der Straße und stellte den Warnblinker an.
Das Mädchen öffnete die Beifahrertür.
Ihr Gesicht war knochig und ihre Haut von dunklem Teint, die Augen waren ausgesprochen schwarz und ein wenig mandelförmig. Sie trug ein weißes Baumwollkleid.
»Guten Morgen!«, sagte sie.
»Ich fahre nach Gaspé«, sagte der Mann. »Ist zwar nicht weit, aber .«
Er bedeutete ihr einzusteigen.
Sie nahm den Rucksack ab und hievte ihn auf den Beifahrersitz. Die kleine schwarze Katze - ein kleiner schwarzer Kater, um genau zu sein - schlüpfte aus einer der Taschen, streckte sich und erklomm die Rückenlehne. Ganz schwarz war er, der Kater, hatte kurzes Fell und blaue Augen. Er machte sich auf, den Bus zu erkunden. Der Mann stellte den Rucksack zwischen die Vordersitze. Das Mädchen stieg ein, ließ die Tür aber geöffnet. Sie wartete, bis der Kater seine Erkundung abgeschlossen hatte und auf ihrem Schoß Platz nahm.
»Gut«, sagte das Mädchen und zog die Tür zu.
Ein Blick in den Rückspiegel, dann fuhr der Mann wieder an. Der VW war uralt und verrostet, aber der Motor lief bestens. Er war komplett überholt. Das Mädchen war jung. Der Mann stellte die Heizung so ein, dass ihre Füße etwas Warmluft abbekamen. Es war Anfang Mai.
»Haben Sie's noch weit?«, fragte er.
»Schwer zu sagen«, antwortete sie. »Erst mal muss ich ins Museum von Gaspé. Ich kenne da jemanden und will Hallo sagen.«
»Ich will auch nach Gaspé, aber weiß noch nicht genau, wohin .«
Er machte eine große, vage Geste mit der Rechten.
»Ich suche meinen Bruder«, sagte er schließlich.
Seinen Bruder hatte er sehr lang nicht mehr gesehen; sicher fünfzehn, vielleicht zwanzig Jahre, so genau wusste er das nicht mehr. Zuletzt jedenfalls in Mont-Tremblant, bei einem Formel-1-Rennen. Dann war sein Bruder auf Reisen gegangen. Anfangs hatte er noch Postkarten geschickt. Offenbar war er ganz schön herumgekommen, denn die Karten stammten von den unterschiedlichsten Orten; eine kam aus Key West, eine andere von der James Bay. Dann, nach einigen Jahren, hatte er aufgehört zu schreiben. Nie wieder ein Lebenszeichen. Die letzte Postkarte war ausgesprochen sonderbar und in Gaspé aufgegeben worden.
»Schauen Sie mal, im Handschuhfach«, sagte der Mann.
Das Mädchen nahm die Postkarte heraus und inspizierte sie. Der Mann beobachtete sie aus dem Augenwinkel, um ihre Reaktion zu sehen. Die Karte zeigte eine typische Ansicht der Gaspésie-Halbinsel: ein Fischerdorf an einer kleinen Bucht. Der Text auf der Rückseite war unmöglich zu entziffern, mit Ausnahme der Unterschrift: Dein Bruder Théo.
»Eine alte Handschrift, ganz klar«, sagte das Mädchen.
»Glasklar«, sagte der Mann und hielt die Luft an.
»Alte Handschriften sind immer schwer zu lesen«, erklärte sie gelassen. »Ist Ihr Bruder vielleicht Historiker oder so was?«
»Er hat Geschichte studiert, aber nie in dem Bereich gearbeitet. Und auch sonst in keinem. Arbeiten war nie seine Sache. Seine Sache waren Reisen - und Autos. Er hatte immer nur Gelegenheitsjobs, und sobald er etwas Geld beisammen hatte, brach er wieder auf.«
Das Mädchen lächelte leise.
»Und äußerlich, wie war er da so?«
»Das genaue Gegenteil von mir: groß, eins neunzig, das Haar . so schwarz wie Ihres . und er zerbrach sich nicht unnötig den Kopf.«
»Und wieso suchen Sie ihn jetzt, wenn ich fragen darf? Ich meine, die Postkarte ist ja schon ziemlich alt .«
»Stimmt. Ich hatte sie in ein Buch gelegt und dann vergessen. Also, ich hatte vergessen, in welchem Buch sie war.«
Er dachte einen Moment nach.
»Natürlich ist das keine Antwort auf Ihre Frage.«
»Sie müssen ja nicht.«
»Klar .«
Der Mann fuhr langsam, im dritten Gang. Hin und wieder prüfte er im Rückspiegel, ob hinten einer ungeduldig wurde. Niemand war zu sehen. Trotzdem fuhr er schließlich rechts ran und stellte den Motor ab.
»Ich bin letzte Woche vierzig geworden, und .«
Er schüttelte den Kopf.
»Ach Quatsch, mit dem Alter hat das nichts zu tun . Es gibt eben Tage, da hat man das Gefühl, alles bricht zusammen . in und um einen«, sagte er, um Worte ringend. »Dann sucht man etwas, um sich festzuhalten . Mir fiel da eben mein Bruder ein. Früher war er mein bester Freund. Ich habe mich gefragt, wieso er sich nicht mehr meldet, und habe seine letzte Postkarte gesucht. Sie lag in einem Buch mit goldenem Einband, ein Buch namens The Golden Dream, von Walker Chapman. Kennen Sie das?«
»Nein«, sagte das Mädchen.
»In dem fand ich jedenfalls die Karte. Und weil sie in Gaspé aufgegeben wurde, wenn auch schon vor langer Zeit .«
»Verstehe.«
»Heute komme ich mir alt und lächerlich vor.«
Erneut betrachtete das Mädchen die Karte. Gedankenverloren kraulte sie den Kopf des Katers, der auf ihrem Schoß schlief.
»Sie heißen Jack?«, fragte sie mit Blick auf Namen und Adresse rechts vom Text.
»So nannte mein Bruder mich immer. Als wir klein waren, gaben wir uns englische Namen, weil wir fanden, die machten mehr her.«
»Mich nennen alle die Große Heuschrecke. Wohl wegen meiner viel zu langen Beine.«
Zur Verdeutlichung zog sie das Kleid bis zu den Schenkeln hoch. Ihre Beine waren wirklich ausgesprochen lang und dürr. Dann wandte sie sich wieder der Karte zu.
»Ich glaube, das letzte Wort ist croix, Kreuz«, sagte sie.
Sie reichte ihm die Karte.
»Könnte sein«, sagte er. »Oder doch eher voix?«
»Nein.«
»Wieso?«
»Es sind fünf Buchstaben.«
Er lachte, und sie sah ihn irritiert an.
»Entschuldigung«, sagte er, »die ganze Sache kommt mir nur plötzlich so vor, als wären wir zwei Strauchdiebe, die versuchen, eine alte Schatzkarte zu entschlüsseln.«
»Gar nicht so...
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