Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Wenn drei Tage nach dem spektakulären Regen von Bonsecours nicht ein weiterer in Blainville-Crevon niedergegangen wäre, einige Kilometer nördlich von Rouen, und am Tag darauf bei Bardouville, gegenüber der Abtei Saint-Martin, wieder in einer Seine-Schleife, vielleicht wäre ich gar nicht an Bord gegangen oder wenigstens nicht so bald.
Ich saß im Café an der Ecke Rue des Martyrs und Avenue Trudaine. Ich hatte die Zeitung aufgeschlagen, aber mein Blick schweifte immer wieder von den Seiten zu dem Karussell hinüber, das auf dem Platz mir gegenüber aufgebaut war und in so grellbunten Farben leuchtete, wie man sie nicht einmal im knalligsten Zeichentrickfilm findet. Ich betrachtete die verlorenen Blicke der Kinder, die sich dort vergnügten (zumindest gab jedermann vor, an dieses Vergnügen zu glauben). Mir schien es eher, als wüssten die rotierenden Knirpse gar nicht, was sie an diesem Gekreise eigentlich finden sollten. Auf ihren Sitzen im Führerhaus eines Feuerwehrautos, in einem Raumschiff, auf dem Rücken eines Reihers oder auf einem Motorradsattel - in wie viele Leben die Kleinen da nicht schlüpfen konnten - schienen sie bei jeder Runde nach ihren Eltern zu spähen und auch wieder nicht zu spähen, die diesen Blick erwiderten oder auch nicht, vertieft in eine Zeitschrift, eine Unterhaltung oder vielleicht bloß in das mittelmäßige Drehbuch ihres eigenen Lebens, bar jeden Schwindels. Das Karussell war mir damals wie ein sehr ernstes Spiel vorgekommen, dessen Reiz darin bestand, seiner Mutter nur ja keine Beachtung zu schenken, um sie bei der nächsten Umdrehung umso sicherer wiederzusehen; man jagt sich selbst Angst ein und erlöst sich wieder davon, man versucht, sich zu verlieren. Ich betrachtete diese Szene und dachte erneut, dass es, anders als einen manche Leute immer noch glauben machen wollen, so etwas wie eine unbeschwerte Kindheit nicht gibt. Auf dem Karussell sah ich wieder den Jungen mit den wirren Locken vor mir, der ich selbst meiner Meinung nach einmal gewesen war, der davon träumte, bewundert zu werden, seinen Platz in der als Strudel empfundenen Welt zu finden, verstrickt in seine Sehnsüchte, zweifelnd, ob es wohl im Hubschrauber oder festgeklammert an Mickymaus schöner wäre. Als ich dann weiter in meiner Tageszeitung blätterte, riss ein Artikel mich abrupt aus meinen Träumereien: »Neue Niederschläge toter Vögel entlang der Seine in der Haute-Normandie, bei Blainville-Crevon und Bardouville. Rund um den Fluss mehren sich die Fragen.«
Ich hatte den Rest des Tages im Bett verbracht, als wöge die Neuigkeit zu schwer, um mich weiter auf den Beinen zu halten. Nach dem ersten Bericht hatte ich sehr gewissenhaft damit begonnen, alle Artikel über den Vorfall auszuschneiden und in ein Heft zu kleben. Paris-Normandie hatte das Thema wiederholt behandelt, einmal sogar auf einer ganzen Seite, die überregionale Presse widmete ihm einige Kurzmeldungen, Umweltschutzorganisationen schickten Pressemitteilungen raus, regionale Ornithologen- und Jagdverbände äußerten sich öffentlich, menschliche Wesen setzten Posts in Internetforen ab. All das übertrug ich in mein Heft. Ich klebte Fotos ein, Bilder lebender und toter Stare, aufgenommen in Bonsecours und anderswo, wissenschaftliche Arbeiten über die große Familie der Sperlingsvögel und alles, was mit früheren, diesem Regen vergleichbaren Ereignissen zu tun hatte. Ich sammle Hinweise auf den sich vollziehenden Weltuntergang, dachte ich bei mir. Die Frage nach den Ursachen wurde von niemandem mit Bestimmtheit beantwortet, zu viele Theorien waren im Umlauf. Auch über die Abfolge war nichts zu finden: Wann genau waren diese Vögel gestorben? Im Flug, beim Aufprall auf die Erde, in einem gewaltsamen Regen oder schon lange vorher? Ich vertiefte mich wieder in mein Heft und klebte den neuen Artikel ein. Ich hatte Gleichungen aufgestellt, die mich keinen Schritt weiterbrachten, Datumsangaben mit der Anzahl toter Vögel multipliziert, die Koordinaten von Längen- und Breitengraden durch den Umkreis des Vogelfalls geteilt. All das führte zu nichts, und ich verfiel in kritzelnde Rastlosigkeit. Im Internet startete ich mit immer neuen Begriffslisten diverse Suchanfragen: »regen tote vögel 20. jahrhundert normandie«, »absturz stare rouen bonsecours«, »gift vögel seine blainville crevon«, »ornithologe experte vogelsturz fluss«, »grund plötzlicher tod vögel im flug« und weitere Wortfolgen für den Algorithmus, den ich mir allmächtig erhoffte. Bei dem Ausdruck »Suchmaschine« stellte ich mir eine riesige, lärmende Turbine vor, die im Maschinenraum eines Ozeandampfers Schmieröl und schwarzen Rauch ausdünstete, und dieses Bild wollte so gar nicht zu der nüchternen Internetseite passen, auf der in einer großen, weißen Wüste bloß der bunte Schriftzug »Google« prangte. Ich habe versucht, diese Wörter zu drehen und zu wenden, und mich gefragt, warum und an wessen Stelle sie sich in meinem Kopf einnisteten: Vögel Regen tot tote Vögel Vogelregen. Ich hatte die Hoffnung, dass ein sinnvoller Satz dabei herauskäme. Abrupt stand ich vom Schreibtisch auf und legte mich wieder ins Bett, mir war heiß, ich öffnete das Fenster, starrte die apathischen Tauben auf dem Balkon gegenüber an, als könnten sie mir irgendwelche Erkenntnisse liefern. Dann ging ich zurück an den Computer und aktualisierte fieberhaft die Website von Paris-Normandie, in der Hoffnung auf Neuigkeiten. Über die Vögel gab es nichts, nichts als diese zwei alten Artikel, die bereits in die Untiefen der Seite verdrängt worden waren, hinter dringlichere Kriege und wichtigere politische Äußerungen. Ich regte mich auf, wollte am liebsten laut schreien oder tief und fest einschlafen. Schließlich fand ich die Telefonnummer von Olivier Villemain, dem Ornithologen des Pariser Naturkundemuseums, der in mehreren Zeitungsartikeln zitiert wurde. Ihn rief ich an und stellte mich als Journalist vor. Er erklärte mir, dass er von Interviews die Nase voll habe, dass das alles keine große Sache sei, eine »Belanglosigkeit«, wie er noch hinzufügte. Trotzdem fragte ich ihn, ob er das nicht auffällig finde, diese drei Regen so kurz hintereinander. Er erwiderte: »Ja, vielleicht, das kann ich Ihnen auch nicht sagen, mich wundert vor allem, dass sie so nah beieinander aufgetreten sind, alle entlang der Seine. Falls irgendetwas dahintersteckt, hat es was mit dem Fluss zu tun, aber wissen Sie, bei dieser Art von Unfällen .« Er führte seinen Satz nicht zu Ende, gab mir zu verstehen, dass er sehr in Eile war, und legte auf.
Gegen zehn Uhr abends hatte ich beschlossen, vor die Tür zu gehen. Ich verspürte den Wunsch, jemand anderen zu sehen als die Tauben von gegenüber und mein beunruhigtes Spiegelbild auf dem Computerbildschirm. In der Rue Véron traf ich Gilles, im Grand Hôtel de Clermont, das alles andere als ein Grandhotel ist und vor allem von aus der Zeit gefallenen Enzianlikörtrinkern aufgesucht wird. Ich erzählte Gilles von den Vögeln und meinem unbedingten Drang, die aktuellen Ereignisse zu verstehen. Ich fing noch einmal ganz von vorn an. Ich berichtete ihm von Bonsecours, Blainville, Bardouville, dem wiederholt auftretenden Regen, dem übergeschnappten Papagei. Er musterte mich mit einem Lächeln, das ich für völlig unangebracht hielt. Ich sagte: »Nichts fällt einfach so runter. Mir kommt es vor, als wären diese Vögel auf mich gestürzt, auf mein Dorf, meine Kindheit oder vielleicht auch auf etwas ganz anderes. Auf uns. Auf unsere Absturzobsession. Die Zeitungen erschöpfen uns mit ihren Krisen, mit ihrem >allumfassenden Gefühl des Niedergangs<. Die Krise ist uns doch zur zweiten Natur geworden. Wir merken das gar nicht mehr. Jeder lebt mit der Krise, in der Krise. Aber Vögel fallen vom Himmel, und keiner schaut hin.« Gilles hatte gelacht und gestichelt: »Na gut, dann geh doch, fahr deine Stare angucken. Und du könntest sie dir ruhig ein bisschen näher ansehen, statt nur vor dem Computer rumzuhängen. Mach doch mal die Augen auf. Alle Stürze sind entlang der Seine passiert? Das ist doch schon mal ein Anfang, hat auch dein Ornithologe gesagt. Du könntest Nachforschungen anstellen, dich ein bisschen nützlich machen.« Ich sah ihn fragend an. »Ja, fahr hin, nimm die Sache unter die Lupe, ist ja nicht so, als hättest du neben der Uni überhaupt keine Zeit, oder?« »Dazu hab ich doch gar kein Recht, Gilles, und außerdem sind die Absturzorte weit vom nächsten Bahnhof weg, die Vögel sind ja nicht auf die Pariser Metrogleise gefallen.« »Und was hindert dich daran, mal wieder nach Hause zu fahren, also zu deinem Vater? Die Seine entlangzuwandern oder zu trampen?« Und da kam mir die Idee: Wie könnte man die Vorgänge am Flussufer besser untersuchen als per Schiff? Es war der einzige Anhaltspunkt, den der Ornithologe erwähnt hatte, das musste ich ausnutzen, musste einen Lastkahn finden, der uns an Bord nehmen würde, Schiff per Anhalter fahren, irgendwo ein kleines Boot auftreiben. Ich schlug Gilles vor, mich zu begleiten. Er entgegnete in irgendwie mitleidigem Ton, Vögel seien nicht so sein Ding. Ich rief: »Aber Vögel sind niemandes Ding, Gilles! Mein Ding sind sie auch nicht, darum geht's doch nicht. Die fallen aber nun mal gerade vom Himmel, nur ein paar Hundert Kilometer von hier, und auch, wenn das >nicht so dein Ding< ist, bleibt es doch ein Unding.« Er hatte einen Augenblick geschwiegen und sich dann über mich lustig gemacht, über den in den Regen schreienden Möchtegernpropheten, der berauscht ist von seinem einsamen Feldzug, der sich auf Vögel beruft, um die Massen zu erreichen.
Gilles hatte vielleicht nicht einmal unrecht mit seiner Herablassung. Und er musste ja auch arbeiten, sich auf einen Prozess vorbereiten, für nächste Woche noch Akten wälzen. Ich war in einem Alter, in dem...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.