1. KAPITEL
"Willkommen zu Hause, meine verehrte Ehefrau."
Morgan erstarrte, als sie seine Stimme hörte. Sie stand im Türrahmen des eleganten Wohnzimmers der Villa Angelica. Der kühle Marmorboden glänzte im Licht der hereinscheinenden Sonne. Die Aussicht auf Meer und Himmel war spektakulär. Doch das alles nahm sie gar nicht wahr.
Fünf Jahre waren vergangen, seit sie Drakon zuletzt gesehen hatte. Vor fünfeinhalb Jahren hatten sie geheiratet. Es war eine typisch pompöse Milliardärshochzeit gewesen. Mit allem, was dazugehörte. Ihre Ehe hatte gerade einmal sechs Monate gehalten.
Sie hatte sich vor diesem Moment gefürchtet. Mehr, als sie sich eingestehen wollte. Dabei klang Drakon unerwartet entspannt, fast herzlich. So, als wäre sie nur eine Weile allein im Urlaub gewesen. Dabei war es tatsächlich so gewesen, dass sie ihn vor fünf Jahren verlassen hatte.
"Du weißt genau, dass ich nicht mehr deine Ehefrau bin, Drakon", antwortete sie leise. Sie waren Fremde füreinander. Seit Jahren. Es gab keinerlei Kontakt zwischen ihnen, seitdem sie die Scheidung eingereicht hatte.
Doch er hatte die Einwilligung verweigert. Und sie hatte ein kleines Vermögen für den Rechtsstreit mit ihm ausgegeben. Doch kein Anwalt, kein Prozess und kein Geld der Welt hatten ihn dazu bringen können, sie gehen zu lassen. Ein Heiratsschwur ist heilig. Das waren seine Worte gewesen. Wenn man sich einmal dafür entschieden habe, mit jemandem den Rest seines Lebens zu verbringen, dann könne man es sich nicht einfach aus einer Laune heraus anders überlegen. Sie gehörte ihm. Und die Gerichte in Griechenland waren auf seiner Seite. Möglicherweise hatte er sie sogar mit Geld bestochen. Zutrauen würde sie es ihm.
"Natürlich bist du noch meine Ehefrau. Aber ich hab keine Lust, quer durch das Wohnzimmer mit dir darüber zu diskutieren. Komm rein, Morgan, und setz dich. Was möchtest du trinken? Champagner? Bellini? Oder etwas Stärkeres?"
Ihre Knie waren so weich, dass sie Angst hatte, das Gleichgewicht zu verlieren, sobald sie einen Schritt machte. Außerdem irritierte sie Drakons Aussehen. Sie hatte ihn auf den ersten Blick fast nicht erkannt.
"Ich möchte nichts, danke", gab sie zurück und sah an ihm vorbei hinaus auf die rauen Klippen und das leuchtend blaue Meer. Es war ein wunderschöner Tag. Ein perfekter Frühlingstag an der Amalfiküste.
Eigentlich hätte sie gern etwas Wasser getrunken. Ihr Mund war furchtbar trocken, und ihr Herz raste. Alles um sie herum schien sich zu drehen. Dieser Mann hier vor ihr machte sie total nervös. Er erschien ihr wie ein Fremder. Und doch war er ihr so vertraut.
Der Drakon Xanthis, den sie geheiratet hatte, hatte raspelkurzes dunkles Haar gehabt und eine schlanke, fast geschmeidig wirkende Erscheinung.
Der Mann dort vor ihr am Fenster hingegen hatte auffällig breite Schultern, einen muskulösen Oberkörper und dickes tiefschwarzes Haar, das ihm in wilden Locken fast bis auf die Schultern fiel. Seine kantigen Gesichtszüge waren hinter dem buschigen Vollbart kaum noch zu erkennen.
Dennoch schien sein neues Aussehen seine Schönheit noch hervorzuheben. Seine gebräunte Haut ließ seine bernsteinfarbenen Augen leuchten. Und sein feuchtes Haar erinnerte Morgan an den griechischen Meeresgott Poseidon .
Es gefiel ihr nicht. Es gefiel ihr überhaupt nicht. Sie war nicht darauf vorbereitet . Auf ihn.
"Du siehst blass aus", bemerkte er spöttisch. Seine tiefe Stimme jagte ihr noch immer Schauder über den Rücken.
Sofort richtete sie sich auf. Sie würde sich nicht von ihm einschüchtern lassen.
"Es war eine ziemlich lange Reise ."
"Dann solltest du dich vielleicht doch besser setzen, meinst du nicht?"
Instinktiv ballte sie die Hände zu Fäusten. Sie wollte überhaupt nicht hier sein. Und sie hasste ihn dafür, dass er darauf bestanden hatte, sie in der Villa Angelica zu treffen. Hier, wo sie damals ihre Flitterwochen verbracht hatten. Es waren die glücklichsten vier Wochen ihres Lebens gewesen. Danach waren sie nach Griechenland geflogen. Und damit hatte sich alles zwischen ihnen verändert.
"Ich stehe hier ganz gut", entgegnete sie trotzig.
"Du brauchst keine Angst vor mir zu haben", murmelte er. "Ich werde dir nicht wehtun."
Morgan versuchte, stark zu bleiben. Hinter ihren Augenlidern brannten Tränen. Am liebsten hätte sie sich auf dem Absatz umgedreht und das Haus verlassen. Um sich vor ihm zu retten. Dummerweise war Drakon der Einzige, der ihr helfen konnte. Ausgerechnet der Mann, der sie fast um den Verstand gebracht hatte. Der ihr Leben zerstört hatte.
"Das hast du bereits getan."
"Ach ja?" Erstaunt zog er die Augenbrauen hoch. "Ich weiß immer noch nicht, womit ich dir wehgetan habe ."
Sie seufzte.
"Ich bin nicht hier, um über uns und unsere Probleme von damals zu sprechen. Ich bin hier, weil ich deine Hilfe brauche. Du weißt, worum es geht ." Sie zögerte und sah ihn flehend an. "Hilfst du mir?"
"Sechs Millionen Dollar ist eine Menge Geld."
"Nicht für dich."
"Die Dinge haben sich geändert. Dein Vater hat mehr als vierhundert Millionen Dollar meines Kapitals verloren."
Drakon schüttelte den Kopf.
"Es war nicht sein Fehler", versuchte Morgan, ihren Vater zu verteidigen. Sie würde verlieren, wenn sie jetzt klein beigab. So wie damals, als sie es nicht geschafft hatte, sich gegen ihn durchzusetzen.
Ihr griechischer Reederei-Tycoon spielte ausschließlich nach seinen eigenen Regeln. Genau wie Morgans Vater Daniel auch. Drakon Sebastian Xanthis war geradezu besessen von Macht und Geld. Und von einer Frau, die nicht seine Ehefrau war. Bronwyn. Eine hübsche Australierin, die seine Geschäftstätigkeiten in Südostasien regelte.
Sofort verkrampfte Morgan sich. Sie würde jetzt nicht an Bronwyn denken. Außerdem spielte es gar keine Rolle, ob die attraktive Blondine noch immer für ihn arbeitete. Drakon gehörte schon lange nicht mehr zu ihrem Leben. Es interessierte Morgan nicht, wie er mit seinen Geschäftsleiterinnen umging und ob er sich auf seinen Geschäftsreisen ein Zimmer mit ihnen teilte oder nicht.
"Glaubst du das etwa wirklich?", fragte er und warf ihr einen spöttischen Blick zu. "Dass deinen Vater keine Schuld trifft?"
"Aber natürlich! Er ist manipuliert worden ."
Morgan spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Wie sollte sie Drakon bloß davon überzeugen, dass ihr Vater unschuldig war?
"Morgan", sagte er jetzt beschwörend. "Dein Vater ist einer der wichtigsten Drahtzieher bei einem der größten Betrugsskandale überhaupt. Fünfundzwanzig Milliarden Dollar sind spurlos verschwunden. Und dein Vater hat fünf Milliarden davon Michael Amery zukommen lassen. Damit hat er sich zehn Prozent Zinsen gesichert."
"Er hat das Geld nie bekommen ."
"Verdammt noch mal, Morgan! Ich kenne deinen Vater. Hör doch auf, mich für dumm zu verkaufen!"
Morgan presste die Lippen aufeinander. Sie durfte jetzt keinen Streit mit Drakon anfangen. Ihr Vater war kein Monster. Er hatte seine Kunden nicht betrogen. Ihr Vater war genauso betrogen worden wie seine Kunden. Und er bekam nicht einmal die Chance, sich zu verteidigen und zu erklären. Die Medien hatten ihn als den Täter dargestellt, und die Öffentlichkeit zweifelte nicht an, was in den Zeitungen stand.
"Mein Vater ist unschuldig, Drakon. Er hatte keine Ahnung, dass Michael Amery illegale Geschäfte betrieb."
"Warum hat er dann so eilig das Land verlassen, wenn er sich nichts vorzuwerfen hat?"
"Drakon, er hatte Angst! Er war völlig panisch, als er merkte, dass man ihm nicht glaubte."
"So ein Blödsinn! Wenn das der Grund ist, dann ist dein Vater ein Feigling und verdient sein Schicksal zu Recht."
Morgan schüttelte bloß den Kopf. Sie wusste nicht mehr, was sie noch sagen sollte. Unauffällig musterte sie ihren Ehemann. Er sah anders aus, aber seine tiefe sanfte Stimme war noch immer die gleiche. Und diese Augen. Sie hatte sich zuallererst in seine Augen verliebt. In diesen intensiven Blick. Er hatte sie auf dem Ball in Wien, wo sie sich das erste Mal begegnet waren, den ganzen Abend mit Blicken verfolgt. Sie erinnerte sich noch, wie es ihr anfänglich unangenehm gewesen war, von ihm beobachtet zu werden. Dann hatte sie festgestellt, dass es ihr gefiel. Sogar sehr gefiel.
Während der ersten Wochen ihres Kennenlernens hatte Drakon sie nur mit Blicken verführt. Noch bevor er ihren Körper überhaupt berührt hatte, hatte sie längst ihm gehört.
Die letzten fünf Jahre jedoch waren der absolute Horror gewesen. Und kaum, dass Morgan wieder etwas Kraft geschöpft hatte und anfing, hoffnungsvoller in die Zukunft zu blicken, war ihre Welt erneut eingestürzt. Auslöser war die Veröffentlichung der Behauptung, dass der Bankier Daniel Copeland, ihr geliebter Vater, in Michael Amerys berüchtigtes Ponzi-Schema verwickelt war. Zu ihrem Entsetzen war ihr Vater sofort aus dem Land geflüchtet, statt sich den Medien zu stellen und die ganze Situation gewohnt souverän zu handhaben. Damit hatte er einen internationalen Skandal ausgelöst.
Morgan holte tief Luft.
"Ich kann ihn nicht in Somalia...