Schweitzer Fachinformationen
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»Ich wünsche dir viel Glück auf deinem weiteren Lebensweg«, sagte Frau Pfeifer hölzern mit gesenktem Blick. »Setz dich einfach und warte, bis dich jemand holen kommt.«
Sie wandte sich von ihm ab, ohne ihm die Hand zu geben, und zog die Tür hinter sich zu.
Sebastian befand sich auf einmal allein in dem schmucklosen Aufenthaltsraum, in den ihn die Fürsorgerin gebracht hatte. Einfache Holzstühle standen an Sprelacarttischen, auf denen sich nichts befand und die nach altem modrigem Putzlappen rochen. Neben dem üblichen Porträt des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker hing ein kleines Regal mit zwei leeren Brettern an der Wand. Die braun gelb gemusterten Gardinen waren zugezogen. Abgesehen von einem Kachelofen, der ein wenig Gemütlichkeit verströmte, wirkte alles billig und schäbig - als wäre das Nichts hier zu Hause und hätte sich in jedem Winkel, in jeder Ritze ausgebreitet.
Sebastian lief unruhig in dem Raum auf und ab. Er wollte sich nicht setzen. Er wollte hier nicht sein!
Entschlossen ging er Richtung Ausgang und drückte die Klinke hinunter. Aber die Tür blieb zu. Sie hatten ihn also eingeschlossen.
»Verdammt! So ein Mist!« Suchend blickte er sich um, lief nervös umher und zog die Gardinen auf.
Das Fenster war vergittert. Du willst abhauen? Denk gar nicht erst drüber nach. Keine Chance, schien es ihm zu sagen.
Was sollte er hier? Wieso wurde er hierherverfrachtet? In einen Knast? Man sperrte doch keine Kinder in ein Gefängnis?
Es war niemand da, den er fragen konnte.
Er versuchte es mit Klopfen: erst vorsichtig, zaghaft, dann so kräftig, dass ihm seine Knöchel wehtaten.
Nichts passierte.
Ein eigenartiges Zittern schüttelte ihn. Sebastian lief zum Ofen und legte eine Hand auf eine Kachel. Sie strahlte etwas Wärme aus. Er schob sich so dicht wie möglich an die Kacheln heran. Tastete nach der wärmsten Stelle, behielt die Tür dabei im Auge. Es war fast so, als würde er den Ofen umarmen.
Das Bibbern hörte allmählich auf. Doch dafür musste er jetzt pinkeln.
Wieder klopfte er an die Tür. »Hallo? Hört mich jemand? Es ist . so langsam . dringend! Ich . ich muss mal!«
Er kam sich etwas dämlich vor, als er sich so reden hörte. Aber anscheinend nahm ihn ja sowieso niemand wahr.
Sebastian beugte sich zum Schlüsselloch hinunter und versuchte hindurchzuspähen. Doch er konnte nichts erkennen. Wahrscheinlich steckte der Schlüssel von der anderen Seite. Frau Pfeifer musste sehr leise zugeschlossen haben. Er sah sie auf Zehenspitzen davonschleichen wie ein Dieb.
Wieso tauchte niemand auf? »Haben Sie vor lauter Fürsorge vergessen, jemandem Bescheid zu sagen?«, murmelte er vor sich hin.
Was wenn keiner kam?
In einer Ecke des Zimmers stand ein weißer Metallkübel mit Deckel. Bisher hatte er den übersehen. Immerhin - das Ding wäre vielleicht eine Lösung für sein Problem.
Aber er konnte doch nicht einfach in den Mülleimer pinkeln.
Wenn ihn jemand dabei erwischte, würde das sicher Ärger geben. Mal abgesehen davon, dass die Tür aufgehen könnte, während er gerade .
Er wollte sich das lieber nicht so genau vorstellen.
Ratlos lief er ein paar Runden um die Tische herum, klopfte an die Tür, lauschte. Von irgendwo erklangen Kinderstimmen. Schließlich lehnte er sich erneut an den Ofen, als wäre der ein Verbündeter. Unwillkürlich dachte er an seine Großmutter, die abends immer in einem Ohrensessel neben dem grünen Kachelofen gesessen, gelesen, Kreuzworträtsel gelöst oder ihre Lieblingssendung in dem alten, vor sich hin knarrenden Radio gehört hatte. Wie ging es ihr jetzt? Hockte sie auch in einem hässlichen Raum? In einem Wartezimmer, in dem sie warten musste, ohne zu wissen, worauf?
War sie allein?
Gab es da jemanden, der sich um sie kümmerte?
Sebastian seufzte tief. Mehr als nach allem anderen sehnte er sich nach einer Toilette.
Im nächsten Moment stand er vor dem Kübel und nahm den Deckel ab. Bis auf eine Pfütze war der Eimer leer. Der Geruch, der ihm entgegenschlug, ließ ihn ein Stück zurückweichen. Uringestank mischte sich mit etwas anderem, Chemischem. Er musste an das Schwimmbad denken, in dem er vor ein paar Tagen unbekümmert seine Bahnen gezogen hatte. Aus dem Kübel roch es beißend nach Chlor. Das Ding hier war eindeutig ein etwas zu groß geratener Pisspott. Seine Oma besaß eine kleine Variante davon, die allerdings eher wie eine Suppenschüssel aussah und die sie nur nachts benutzte, wenn der Weg zum Gemeinschaftsklo, das sich ein Stockwerk tiefer befand, zu weit war.
Sebastian warf einen schnellen Blick zur Tür und beeilte sich jetzt. Den Deckel hielt er wie einen Schild als Sichtschutz vor sich, während er pinkelte. Hoffentlich ging nichts daneben. Gerade als er fertig war, drehte sich der Schlüssel im Schloss.
Der Deckel schepperte, als er ihn auf den Eimer legte. Scheiße, war das peinlich!
Automatisch sah er sich nach einem Waschbecken um. Es gab keins.
»Du bist also der Neue«, brummte ein Mann, der einen braunen Armee-Trainingsanzug mit gelb-roten Seitenstreifen trug. Er schob sich ein Stück in den Raum herein und betrachtete ihn griesgrämig. »Mitkommen!«
Einen Moment spürte Sebastian seinen Widerwillen in sich aufflackern. Wie redete der Typ denn mit ihm?
Doch nach kurzem Zögern folgte er dem Fremden.
Bei jedem Schritt des Mannes klirrte der Schlüsselbund, den er in der Hand trug. Als machte er das mit Absicht. Eine kleine Willkommensmelodie für den Neuzugang.
Dabei blickte er sich kaum nach Sebastian um und brummte etwas Unverständliches vor sich hin.
Sebastian glaubte, die Wörter Freitag und Feierabend zu verstehen, und atmete den Geruch von kaltem Zigarettenrauch ein, der den Mann umgab.
Sie gingen eine Treppe hinauf, bis sie ein Gitter erreichten, das die eine Etage von der anderen trennte. Mit einer ungeduldig zackigen Bewegung schloss der Erwachsene auf, schob Sebastian vor sich her, schloss wieder zu. Was wurde das hier?
Er sah einen Gang mit Zellentüren, erblickte ein Mädchen in einem blauen Arbeitsanzug und mit Kopftuch, das auf den Knien hockend den Gang wischte. Sebastian hätte ihr gern einen Blick zugeworfen, doch sie hob den Kopf nicht.
Wieder standen sie vor einem Gitter, wieder wurde erst auf- und dann zugeschlossen. Wieder wurde er weitergeschoben - wie ein Paket, das irgendwo abgeliefert werden musste. Die nächste Etage, die nächsten wuchtigen Metalltüren, ausgestattet mit dicken Riegeln und Türspion.
Sebastian bewegte sich mechanisch, als würde er durch seinen eigenen Albtraum laufen, stumm, mit schwitzenden Händen, klopfendem Herzen.
Wieso war er hier? Wo führte der Typ ihn hin?
»Ausziehen!«, sagte der Fremde barsch, als sie einen Dachboden betraten.
»Was?« Sebastian starrte ihn verdattert an.
»Das heißt: Wie bitte, Herr Schuhmacher!«
»Wie bitte . Herr .«
»Nun los, Bursche! Mach! Ein bisschen dalli! Sonst lernst du mich gleich mal nicht so freundlich kennen!«
Nicht so freundlich? Sebastian hätte beinahe losgelacht. Der Kerl war die Unfreundlichkeit in Person. Langsam fragte er sich, ob das eine Verwechslung war. Vielleicht hatte die Jugendfürsorgerin ihn in das falsche Haus gebracht?
»Beeil dich, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit! Deine persönlichen Dinge bleiben hier oben. Du bekommst Heimkleidung. So wie alle anderen auch.«
Langsam, mit steifen Fingern, knöpfte er seine Jacke auf, streifte sie von den Schultern, schlüpfte aus der Jeans, zerrte sich den Pullover über den Kopf. Nach kurzem Zögern entledigte er sich der Unterwäsche. Hilflos versuchte er, sich zu bedecken, blickte auf seine nackten Füße hinab und zog die Zehen ein. Es war kalt in dem Raum, aber er fühlte, dass ihm die Hitze ins Gesicht stieg.
»Uhr ab! Hast du was mit den Ohren? Ich sagte: alle persönlichen Dinge!«, brummte der Mann in einem Ton, als würde er Sebastian für etwas zurückgeblieben halten.
Das Zittern schüttelte ihn wieder. Zitternd kam er auch dieser Aufforderung nach.
»Gib her!«
Sebastian legte die Uhr in die ausgestreckte Hand, ohne den Blick zu heben. Die Unterwäsche, die er erhielt, war grau und lapprig. Aber wenigstens war er nicht mehr ganz nackt. Der Stoff des Arbeitsanzuges, den er in rasendem Tempo anzog, kratzte auf seiner Haut. Die Schuhe waren zu groß und es fehlten die Schnürsenkel.
»Wie soll ich in den Dingern laufen?«, fragte er oder fragte die Wut in ihm, die sich Luft verschaffen musste.
»Klappe halten, mitkommen!«, blaffte Herr Schuhmacher.
Wieder liefen sie durch das gesamte Gebäude, von Gitter zu Gitter.
Metall klapperte auf Metall, der Schlüssel klimperte, es krachte, wenn die Tür zuflog.
Diesmal ging es abwärts, bis ganz nach unten.
In einem finster feuchten Raum ragten ein paar Duschköpfe aus der Decke.
Schon wieder musste er sich ausziehen. Er erhielt ein Stück Kernseife, dann verpasste ihm der Mann einen leichten Stoß. Sebastian stolperte ein Stück weiter und einen Moment später spürte er die Wassertropfen wie kleine harte Schläge, wie Hagelkörner, die auf ihn einprasselten.
Seifte sich auf Befehl ein. Hielt den Kopf gesenkt. Ließ die Prozedur über sich ergehen.
Als Sebastian in eine Zelle gesperrt wurde, dachte er das erste Mal seit langer Zeit an seine Mutter.
Er saß bewegungslos auf einem Holzschemel, starrte die Wand an und sah nach einer Weile Bilder aufflackern - wie von einem Super-Acht-Amateurfilm. Die Aufnahmen wirkten erst unscharf, verwackelt, doch im nächsten Moment blickte er in die klaren...
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