Schweitzer Fachinformationen
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Oktober bis Dezember 1805
Etwas war anders als sonst.
Barbe lauschte in die Nacht. In der Ferne bellte ein Hund, die Kirchturmuhr schlug zweimal. Nichts Ungewöhnliches. Wovon war sie aufgewacht?
Sie sah hinüber auf die andere Seite des Bettes, aber sie war allein. François schlief in seinen privaten Räumen, wie meistens in den letzten Monaten. Wieder einzuschlafen war unmöglich. Unruhig wanderte ihr Blick im Zimmer umher und blieb an dem ovalen Spiegel über ihrem Frisiertisch hängen, der matt schimmernd das kühle Mondlicht zurückwarf. Es war, als starre ein großes Auge sie an. Barbe stand auf und trat ans geöffnete Fenster.
Für einen zwanzigsten Oktober war es erstaunlich warm. Eine Zikade, die sich in der Jahreszeit geirrt hatte, zirpte in der Nähe. Das milde und trockene Wetter war spät im Jahr gekommen, nachdem die Ernte bereits unter einem kalten, regnerischen Sommer gelitten hatte. Fast ein Viertel der Trauben hatten sie hängen lassen müssen, die Früchte waren noch am Stock verschimmelt und verfault. Trotzdem war Barbe insgesamt zufrieden. Dank der vergangenen acht warmen und sonnigen Wochen waren die verbliebenen Trauben von vorzüglicher Qualität, besser sogar als in anderen Jahren, weswegen sie François vorgeschlagen hatte, eine Reise über Land zu unternehmen und weitere Trauben und Most zuzukaufen. Erleichtert hatte sie dabei beobachtet, wie François zumindest zeitweise seinen früheren Charme und sein Verhandlungsgeschick zurückgewonnen hatte. In der letzten Zeit hatte er häufig traurig und abwesend gewirkt, als sei er mit seinen Gedanken woanders und nicht bei der Sache.
Barbe stützte sich aufs Fensterbrett und lehnte sich ein wenig hinaus, um in den Hof hinunterzusehen. In seinem Arbeitszimmer brannte noch Licht. Sie selbst hatte sich nach den langen Tagen in der Kutsche und den ungewohnten Nachtlagern bei Bauern und in Gasthäusern völlig erschöpft gefühlt. Zwei Wochen lang waren sie und François unterwegs gewesen, und sie hatte fest damit gerechnet, dass sie bis zum Morgen durchschlafen würde. Stattdessen war sie nun hellwach und von einer unbestimmten Unruhe erfüllt. Der Geruch vergorener Trauben stieg ihr in die Nase. Vermutlich stand der Keller offen, obwohl die Arbeiter die Anweisung hatten, alles fest verschlossen zu halten.
Rasch warf sich Barbe ihren Morgenmantel über. Sie würde hinuntergehen und das Tor zum Keller kontrollieren. Und dann konnte sie bei François anklopfen und nach dem Rechten sehen.
Mit einer Kerze in der Hand trat sie hinaus auf den Flur. Am Treppenabsatz hielt sie inne. Oben schlief ihre Tochter, die fünfjährige Mentine, im Zimmer neben der Kinderfrau. Sie hatte sie heute bei ihrer Rückkehr nur kurz in ihre Arme geschlossen, weil es schon so spät gewesen war, und plötzlich verspürte sie das dringende Bedürfnis, nach ihr zu sehen. Leise ging sie die Treppe hinauf. Die Tür stand einen Spalt offen, und in der Ecke brannte eine Öllampe. Die Kinderfrau war wohl eingeschlafen, bevor sie das Licht hatte löschen können. Barbe trat ans Bett und betrachtete von Zärtlichkeit erfüllt die schlafende Mentine. Sie hatte die Decke fortgestrampelt, lag quer in ihrem Bettchen, weil sie nach Kinderart viel träumte und sich viel bewegte, und winzige verschwitzte Löckchen kringelten sich um ihre schmale Stirn. Barbe stellte die Kerze ab, legte das Kind gerade hin, schüttelte die Decke auf, breitete sie über ihre nun friedlich daliegende Tochter und beugte sich vor, um ihr einen Kuss zu geben. Ohne wirklich zu erwachen, schlang die Kleine die weichen Ärmchen um sie und erwiderte den Kuss.
«Maman», murmelte sie zufrieden, drückte ihr Näschen gegen Barbes Wange und versank sofort wieder im Reich der Träume. Barbe lächelte, löschte die Öllampe und verließ das Zimmer.
Während sie mit ihrer Kerze in der Hand die Treppe hinunter- und über den ausgetretenen Steinfußboden des langen Flurs im Erdgeschoss ging, dachte sie an François' blasses Gesicht. Er machte sich in letzter Zeit so viele Sorgen. Stundenlang hatte er in der Kutsche schweigend neben ihr gesessen, statt, wie er es früher oft getan hatte, aufs Reitpferd zu wechseln. Sie hätte es verstanden, denn die Nebenstraßen in der Champagne waren in einem schrecklichen Zustand, und ein Ritt machte ungleich mehr Freude, als in der rumpelnden Kutsche durchgeschüttelt zu werden.
Sie liebte es, ihren Ehemann auf dem Pferd zu sehen und die Frische und Weite der Landschaft an ihm zu riechen, wenn er zurückkehrte, oftmals inspiriert und voller neuer Ideen. Er war ein unsteter Geist und brauchte viel Abwechslung. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte er sie oft mit seinen Einfällen überrascht. Sie hatten häufig Besuch gehabt, Diners veranstaltet und miteinander musiziert. François spielte wunderbar Geige, doch in der letzten Zeit hatte er das Instrument nicht mehr angerührt, und wenn ihr der Trubel früher manches Mal zu viel gewesen war, vermisste sie ihn nun. Was den Weinhandel betraf, dem sich François zu Beginn ihrer gemeinsamen Zeit mit so viel Enthusiasmus gewidmet hatte, schien er das Interesse daran verloren zu haben. Oder seinen Mut? Selbst zu dieser Reise, von der sie soeben zurückgekehrt waren, hatte sie ihn regelrecht überreden müssen, dabei wurde der Wein dadraußen gemacht, im Weinberg und in den Kellern, nicht im Kontor.
Zugegeben, es war nicht leicht. Doch Barbe, die als Kind viel Zeit auf dem Land verbracht hatte, begeisterte sich immer mehr für die Idee, nicht nur Wein zu verkaufen, sondern auch eigenen Wein zu produzieren. Sie war fasziniert von dem Gedanken, von der Traube am Stock bis zum fertigen Wein im Fass oder in der Bouteille alles unter Kontrolle zu behalten. Gerade mit Schaumwein hatte François in den letzten Jahren schöne Gewinne erzielt, und ihrer Meinung nach war auch dieses Jahr recht gut gelaufen. Die Befürchtungen aus dem vergangenen Winter, als ihnen der treue Louis Bohne aus Russland nur Ärger und Verdruss gemeldet hatte, hatten sich nicht bewahrheitet. Die Bestellungen, die er ihnen übermittelt hatte, waren sogar mehr als zufriedenstellend gewesen: fünfundsiebzigtausend Flaschen Schaumwein, das waren jetzt schon mehr als im gesamten vorigen Jahr.
Als sie an Louis dachte, fühlte sie sich sofort ein wenig besser. In ein paar Wochen würde er nach Reims zurückkehren. Barbe rief sich sein freundliches, stets ein wenig zu rotwangiges Gesicht ins Gedächtnis und dachte an seine klugen, humorvollen Kommentare, mit denen er die Dinge oftmals wieder ins Lot brachte. Sie wünschte sich einen Menschen herbei, der ihre Sichtweise teilte. Das Beisammensein mit dem alten Freund würde ihrem Mann sicherlich guttun, vielleicht würde er François sogar zur Vernunft bringen, zumindest hoffte sie das, denn insgeheim hatte sie Angst vor dem, was die Zukunft für sie bereithielt. François war nicht zum ersten Mal in seinem Leben von Schwermut befallen. Er hatte auch in seiner Jugend bereits solche Phasen durchgemacht, wie sie den Andeutungen ihrer Schwiegereltern entnahm. Dabei konnte man sich in diesen schwierigen Zeiten nur mit vollem Verstand und Lebensmut behaupten.
Der unselige Napoleon Bonaparte, dachte Barbe, während sie vorsichtig, um mit ihren Hausschuhen auf den unebenen Pflastersteinen nicht zu stolpern, in den Hof trat. Niemand konnte wissen, was er sich als Nächstes einfallen ließ. Gerade habe er die Österreicher bei Ulm besiegt, erzählte man sich. Doch letztlich spielte das keine Rolle, letztlich waren sie alle, Könige, Generäle oder Kaufleute, wie François den Launen des selbstgekrönten Kaisers ausgeliefert.
Sie stand jetzt vor dem Kellereingang, der jedoch zu ihrer Verblüffung fest verschlossen war. Auf ihre Nase konnte sie sich normalerweise verlassen, aber sie hatte wohl so sicher mit der Nachlässigkeit ihrer Leute gerechnet, dass sie sich hatte täuschen lassen. Vor allem dem Kellermeister Mathieu traute sie nicht recht, er war ein Filou. Dabei lag im Weinkeller der Schlüssel zum Erfolg. François überließ die Weinherstellung bisher völlig den Winzern oder eben Mathieu, doch die taten, was sie immer taten, und waren zufrieden damit, ohne nach Höherem zu streben. Ihnen fehlte das rechte Verständnis für die Herstellung von Schaumwein. Und vor allem die Leidenschaft. Sie selbst hätte sich gern den ganzen Tag im Weinkeller aufgehalten und experimentiert. Doch sie hatte den Eindruck, sich unter den Arbeitern wenig Freunde zu machen, wenn sie sich zu oft einmischte. Barbe rüttelte ein letztes Mal am Kellertor und ging zurück ins Haus. Es gab zwar viele Probleme zu lösen, aber es war trotzdem albern, mitten in der Nacht hier herumzuschleichen. Sie blieb stehen und lauschte. Alles war ruhig. Nur ihr eigener Herzschlag pochte in ihren Ohren, als sie die Treppe zum Salon emporstieg. Sie wollte noch einen Schluck Wasser trinken, bevor sie zu François ging, oder vielleicht sogar ein Glas Wein, um besser wieder einschlafen zu können. Im Salon stand sicher noch die Karaffe von vorhin.
Es hatte eine Weile gedauert, bis Barbe gelernt hatte, sich in diesem Haus wohl zu fühlen, das sie von François' Großvater übernommen hatten und in dem sie jetzt seit fünf Jahren miteinander lebten. Es lag in der Rue de l'Hôpital und somit nur einen Steinwurf von ihrem eigenen Elternhaus, dem Hôtel Ponsardin in der Rue Cérès, entfernt, war jedoch einige Jahre älter als dieses und weniger großzügig geschnitten. Aber mit der Zeit hatte sie sich daran gewöhnt. Die Proportionen passten zu ihrer dreiköpfigen Familie, und nachdem sie einige neue Möbel angeschafft hatten, lebte sie inzwischen gerne hier.
Barbe trat in den...
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