Schweitzer Fachinformationen
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Lissi huschte die Treppe hinunter. Es war Anfang Juni und noch sehr früh am Morgen, draußen schimmerte das erste Tageslicht am Himmel. An der Zimmertür der Zwillinge hielt sie inne und spitzte angestrengt die Ohren. Sie hatte die ganze Nacht hindurch kaum ein Auge zugetan, hatte sich im Bett herumgewälzt und Hildchens Atemzügen zugehört, während sie sich fragte, was sie tun sollte. Sie durfte ihn doch so nicht abreisen lassen.
Sie lauschte und legte die Hand an die Klinke. Manuel hatte am Abend zuvor mit Arthur und ihrer beider Freunde aus Kindertagen im Ort seinen Abschied gefeiert. Bestimmt war er spät zu Bett gegangen, und Lissi überlegte noch, ob sie es wagen sollte, ihn zu wecken, als die Tür plötzlich von innen geöffnet wurde. Er war es - Manuel. Sein Haar war verstrubbelt, seine Augen blickten verschlafen, und seine Wange zeigte den Abdruck einer Falte seines Kopfkissens. Er lächelte, zog leise die Tür hinter sich zu, und als wären sie verabredet gewesen, verließen sie zusammen das Haus.
Am steinernen Bogen in der Wehrmauer, unter dem hindurch der Weg zum Rheinufer führte, nahm er ihre Hand. Schweigend liefen sie durch den anbrechenden Morgen und überquerten die Bleichwiese, wo sie sich gestern Nachmittag begegnet waren - und wo sich wie zufällig ihre Hände berührt hatten.
Hunderte Male hatten sie sich zuvor schon berührt, schließlich hatten sie oft miteinander gebalgt, Lissi nicht minder wild als die Zwillinge, doch erst seit einiger Zeit fühlte Lissi für Manuel das, was sie jetzt fühlte. Und dann war ihr Manuel inmitten der in der Sonne ausgebreiteten blendend weißen Leintücher plötzlich nahegekommen. Er hatte sich vorgebeugt, und sie hatte seine Lippen an ihrer Wange gespürt - und ohne es zu wollen, rein aus Überraschung, war sie ihm ausgewichen.
»Entschuldige«, hatte er gesagt, und bevor sie ihm hatte antworten und es richtigstellen können, war seine Mutter auf der Suche nach ihm am anderen Ende der Bleichwiese aufgetaucht. Die Hände in die Seiten gestemmt, hatte sie seinen Namen gerufen, und er war ihrem Ruf gefolgt.
»Woher wusstest du, dass ich vor deiner Tür stehe?«, fragte Lissi jetzt.
»Wusste ich nicht. Ich wollte dich wecken.« Er drückte ihre Hand.
»Ich dachte, du willst bestimmt lieber ausschlafen.« Sie stupste ihn in die Seite. Manuel war ein Langschläfer. So oft hatten sie schon Witze darüber gemacht, wie schwer er morgens aus den Federn kam.
»Ich konnte ohnehin nicht schlafen«, gab Manuel zu, und sein zärtliches Lächeln machte Lissi weiche Knie. Wie hübsch er aussah mit seinem braunen Schopf und der Haartolle, die ihm immer ein wenig verwegen in die Stirn fiel.
Sie blieben stehen, und Lissi sah sich beglückt um. Der Mai war warm gewesen, auch an diesem Junitag war die Luft lau. Sie liebte diese milden Frühsommermorgen, wenn der Dunst über dem Wasser aufstieg und allmählich von der Sonne aufgelöst wurde.
»Wunderschön«, sagte Manuel.
»Sag ich doch«, gab Lissi lächelnd zur Antwort. Sie kam oft in aller Frühe hierher und hoffte darauf, die Sommersalme dabei beobachten zu können, wie sie über die Stromschnellen flogen. Gerne würde sie Manuel diesen Anblick heute zum Geschenk machen.
Sie zogen einen Nachen vom Ufer ins Wasser und stiegen hinein, um über den Hahnen hinüber zum Bacharacher Werth zu rudern, als sie plötzlich das Tuten eines Horns vernahmen. Lissi zählte mit. Dreimal kurz und einmal lang.
»Ein Holländerfloß.«
Manuel nickte und ruderte schneller. »Hoffentlich kommen wir rechtzeitig.«
Die Flößer nutzten mit Vorliebe die ganz frühen Morgenstunden, um das enge Mittelrheintal zu passieren, bevor die Dampfer den Strom für sich beanspruchten. In ihrer Kindheit waren die riesigen Flöße, mit denen die Holzfäller aus dem Schwarzwald ihre Tannen-, Eichen- und Fichtenstämme in Richtung Holland transportierten, für sie eine Sensation gewesen. Manuel, Arthur und sie hatten sich kaum satt an ihnen sehen können und waren, sobald das Horn ertönte, zum Ufer gerannt. Sie hatten sich irgendwann selbst ein Floß gebaut und waren, sehr zum Leidwesen von Frieda, die das zu gefährlich fand, damit auf dem Hahnen herumgefahren. Doch inzwischen hatte die Zahl der Linienschiffe auf dem Rhein zu- und die Zahl der Flöße abgenommen, und sie fuhren meistens so früh oder so spät, dass man sie leicht verpasste.
Sie legten drüben an, zogen den Nachen ans Ufer und durchquerten über Wurzeln und Steine springend das Werth. Ein wenig außer Atem erreichten sie die andere Seite und sahen flussaufwärts. Hinter der Biegung kamen schwankende Lichter in Sicht, und nun hörten sie auch die Rufe der Männer, unverständliche Befehle, mit deren Hilfe die Flößer das unhandliche Gefährt dirigierten. Die Besatzung der vorausfahrenden Ankernachen hatte die Anker bereits am gegenüberliegenden Ufer platziert und ruderte nun zurück, um die Taue am Floß zu befestigen, mit denen es um die Flussbiegung gezogen werden sollte. Anschließend mussten die Anker rasch wieder eingeholt werden. Eine anstrengende Arbeit, die viel Geschick verlangte und nur von jungen, kräftigen Männern ausgeübt wurde.
Angetrieben von der Strömung, kam das Floß schnell näher, es war schmal, aber gewiss achthundert Fuß lang. Gebannt sahen Lissi und Manuel zu den Männern hinüber, die in geringem Abstand an ihnen vorüberglitten. Breitbeinig standen sie da, Stangen, Haken oder Ruder in den Händen und großkrempige Hüte auf den Köpfen. Es war inzwischen hell genug, dass Lissi und Manuel die Anspannung in ihren Gesichtern sehen konnten. Eine Fahrt durchs Gebirge, wie das Teilstück des Rheins zwischen Bingen und Koblenz genannt wurde, war anspruchsvoll, da durfte man sich keinen Fehler erlauben, erst recht nicht hier im »Wilden Gefähr« zwischen dem Bacharacher und dem Kauber Werth. Die Männer konzentrierten sich auf ihre Arbeit. Minutenlang stakten und ruderten sie an den beiden vorüber, ohne auf sie zu achten. Nur ein einziger entdeckte Manuel und Lissi unter den Bäumen. Seine Haut war vom Wetter gegerbt, und unter seinem Hut quoll langes graues Haar hervor. Einige Herzschläge lang blickte er Lissi unverwandt an, ein Staunen im Gesicht. Vielleicht glaubte er, einen Geist zu sehen. Er vergaß sein Ruder, drehte sogar den Kopf nach ihr um, so dass er aus dem Gleichgewicht geriet und beinahe ins Wasser gefallen wäre. Erst im allerletzten Moment fing er sich ab. Gespenstisch klangen die Stimmen der Männer übers Wasser, mahnend und auch ein bisschen spöttisch. »Bist eben doch alt geworden, Andreas«, rief einer nach vorne. Dann verschwand auch der letzte der Flößer im Dunst.
Lissi sah den Gestalten nach. Ihr wurde wehmütig ums Herz. Der Sommer war immer ihre liebste Jahreszeit gewesen, doch in diesem Jahr war alles anders. Sie waren keine Kinder mehr, die sich die Zeit mit Spielen vertrieben, sich ein Floß bauten und am Wasser herumtollten. Sie waren nun erwachsen. Eine neue Phase ihres Lebens begann - und sie mussten für lange Zeit Abschied voneinander nehmen.
Manuel stand hinter ihr. »Lissi?«, sagte er leise.
Sie drehte sich zu ihm um. Das Morgenlicht glänzte in seinen Pupillen. Er streckte die Hand aus und streichelte zärtlich ihre Wange.
»Kannst du mir verzeihen?«, fragte er mit rauer Stimme.
»Was soll ich dir verzeihen?«
Manuel war einen halben Kopf größer als Lissi, so dass sie ein wenig zu ihm aufsehen musste, doch statt einer Antwort zog er sie an sich. Lissi sank in seine Arme, ihr Körper schmiegte sich an seinen, und die feinen Härchen auf ihrer Haut stellten sich auf. Verlangen durchströmte Lissi, als Manuels Lippen nun zart die ihren berührten, über sie strichen, sie umspielten und ein Prickeln in ihrem gesamten Körper auslösten. So fühlt sich das an, dachte sie, denn sie hatte schon davon geträumt, es sich vorgestellt - und dann dachte sie gar nichts mehr und vergaß alles um sich herum. Erst Minuten später lösten sich ihre Lippen voneinander, doch Manuel hielt sie weiter fest umschlungen und betrachtete sie mit einem traurigen Lächeln.
»Was soll ich dir verzeihen?«, fragte Lissi noch einmal und genoss seine Nähe und die Kraft seiner Arme, die Wärme seines Körpers, den Duft seiner Haut, wollte diesen flüchtigen Moment festhalten, hoffte, der Zeit ein Schnippchen schlagen zu können.
»Du sollst mir verzeihen, dass ich ein solcher Idiot gewesen bin. Schon so lange wollte ich dich . wollte ich mit dir . Ach, Lissi, und ich wusste einfach nicht, wie.«
Er sah jetzt so komisch verzweifelt aus, dass sie lachen musste.
»Mir ging es genauso, Manuel. Mach dir keine Vorwürfe.«
»Und gestern auf der Bleichwiese, da .«
»Ich hatte solche Angst, du könntest mich missverstanden haben«, sagte Lissi. »Ich wollte es doch auch. Schon so lange habe ich mir das hier gewünscht. Ich war in dem Moment nur so - überrascht.«
»Und dann kam ausgerechnet meine Mutter. Und abends«, er schüttelte den Kopf, »Arthur und die Jungs haben mich zuerst nicht gehen lassen. Und später stand ich vor deiner Tür und habe nicht gewagt, dich zu wecken.«
»Du warst da?«, frage Lissi verwundert, denn ihrem Gefühl nach hatte sie stundenlang wach gelegen und trotzdem nichts bemerkt.
Er nickte. »Ich habe sogar die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Du hast fest...
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