Schweitzer Fachinformationen
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Der Mann, der den eigenen Schatten tötete
Ich hatte lange geschlafen. Als ich endlich die Augen öffnete, waren dreißig Jahre vergangen.
In der Dämmerung sah ich fluoreszent-blaue Schienen . stille Straßen, über die Autos wie Glühwürmchen krochen . kalkweiß gestrichene Häuser an den Rändern dunkler Wälder . eiserne Brückenarabesken . einen Neonfrosch mit gelber Krone . Glaskuppeln von Fabrikhallen, die mit Ruß bedeckt waren . die Festungen der Arbeiterviertel mit ihren abgeblätterten Fassaden . ein Mädchen mit einer Zigarette im Mund, das sich hinter einem hell erleuchteten Fenster auszog . leere Flüsse aus Stahl .
Einst fuhr eine Flotte aus Papierschiffchen darüber, die von Bleisoldaten gesteuert wurden. Die Schiffe sind in Vergessenheit geraten, aber die Bleisoldaten mit ihren fiebernden Blicken wandern noch immer durch die Städte.
Ein VW ohne Räder, auf die Seite gekippt, in einer Nebenstraße . Dunkelhäutige Dealer quatschen in den Schatten der Hauseingänge miteinander und lachen laut . Penner wärmen sich an den Kanalisationsschächten auf . Hast du mal ne Mark . In den Schaufenstern sitzen vergessene Huren, unausgeschlafen, aber schön . Das Vögeln hat sich in einen Albtraum verwandelt . Menschen schreien auf, sobald sie sich im Vorbeigehen aus Versehen berühren . Drei Milliarden Menschen laufen über Straßen, Wiesen, durch Wälder, Wüsten - sie schreien panisch .
Dreißig Jahre, sagte ich zu mir selbst.
Eisiger Regen bohrte kleine Löcher in meine Wangen.
Ich suchte Unterschlupf in einem Antiquariat und stöberte in den Regalen herum. Fels' Buch »Mein Land« zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich kaufte es, obwohl ich schon eine neuere Ausgabe besaß. Eine Widmung stand darin, mit schwarzer Tinte geschrieben:
Nana, es muss alles WENDERS werden.
E.
Dezember 1978
*****
- Als ich nach Frankfurt kam, war ich siebzehn und meine Augen waren größer, in diesem Alter sieht der Mensch viel mehr - legt Jürgen los.
- Das gilt nicht, das hast du schon geschrieben - sage ich.
Er zieht resigniert die Schultern hoch.
- Wenn du etwas Neues sagen oder schreiben willst, musst du dir eine neue Sprache ausdenken, die sich von allen bisher bekannten Sprachen total unterscheidet.
- Oder eine neue Tinte.
- Ja, ja . Wenders . Er ist schon okay.
Ricks Café löst sich im trüben Licht auf. Am hinteren Ende klappert ein Zigarettenautomat . Über die Tische gebeugt murmeln Menschen vor sich hin, als würden sie beten . Vor den Fenstern huschen Schatten von Regenschirmen vorbei . Die Leinwand über der Theke versinkt zärtlich in meinen Augen . Der Mensch auf dem Scheiterhaufen seiner eigenen Bücher. Eine Meute humorvoller Kritiker (sie sind humorvoll, da sie sich vor Lachen kugeln, und sie sind Kritiker, da sie ihn steinigen) brüllt: »Du brauchst einen Psychiater, Rechtschreibung und eine Kinderstube«, und ihn verlässt die Kraft, weil er die Nase voll hat von dem ewigen Gezerre. Im Hintergrund wird der gelbe Himmel von zwei grünen ionischen Säulen und einem roten Tank zerrissen.
- Worte sind kleine Arschlöcher - sagt Jürgen. - Man muss sie vorsichtig und zärtlich drücken, bis sie anfangen zu bluten. Man muss sie mit viel Umsicht und Taktgefühl aneinanderreihen, denn sie vertragen sich nicht, wegen der Ästhetik, der Ideologie, der Abnutzung .
Bogart ist heute Abend nicht da. Auch der alte Schwarze am Klavier ist heute Abend nicht da. Heute Abend wird niemand sagen: »Play it again, Sam«.
Wie viele Dezember hat ein Jahr?
Ich habe irgendwo gelesen, dass man, wenn man an jemanden denkt, ihn vergisst und ihn dann wieder aus der Vergessenheit herausreißt. Nana sprach immer laut, zu laut für meinen Geschmack. Nana hielt sich beim Gähnen nicht die Hand vor den Mund. Nana verteilte ihre Schlüpfer in der ganzen Wohnung. Nana machte schrecklichen Lärm, während ich schrieb, da sie ausgerechnet den weißen Schlüpfer suchen musste, du weißt schon, den aus Spitze, den ich letzen Herbst in Rom gekauft habe. Nana kümmerte sich mütterlich um Sabine, sie ging mit ihr spazieren, besuchte Freunde mit ihr, fuhr mit ihr in den Urlaub. Sabine ist Nanas Pudel.
Am Ende des vierten Jahres unseres gemeinsamen Lebens (ich muss immer lachen, wenn jemand vom gemeinsamen Leben spricht, denn die Menschen durchleben alles allein, und gemeinsam kann nur ihr Badezimmer sein oder das Wohnzimmer oder bestenfalls das Bett), also am Ende des vierten Jahres des »gemeinsamen Lebens« erhob ich eines Nachmittags den Blick von dem Manuskript, an dem ich gerade arbeitete, und bemerkte ungewöhnliche Emsigkeit an Nana: Sie stopfte fleißig Blumenvasen, Bücher, Sabines Futternapf, Gläser, den tragbaren Fernseher in Pappkartons .
- So geht das nicht - sagte ich -, den Fernseher habe ich gekauft.
Sie stellte den Fernseher wortlos zurück auf die Kommode und machte weiter mit den Küchenhaken, den Schrubbern, den Handtüchern .
- Du gehst also - sagte ich und wusste, dass das ziemlich dumm klingen musste.
Sie hob kurz ihren Kopf.
- Ich bin schon seit Langem nicht mehr hier - sagte sie und faltete dabei einen zerrissenen Lappen zusammen -, aber jetzt gehe ich weg.
Was will sie bloß mit diesem Lappen, dachte ich.
Mit Nana zusammen zu sein, bedeutet, sich zu fragen, ob jemand beim Ficken alle Muskeln anspannt und plötzlich ruft: »Jesus! Sabine! Ich muss mit ihr Gassi gehen!«
Allein zu sein, bedeutet, sich das nicht fragen zu müssen.
Oder: Zeit zu haben, den eisigen Regen zu beobachten wie er zu Schnee wird.
Ein Polaroidfoto, das ich an jenem Tag machte, als Nana wegging:
- Eine blaue Schicht durchwoben von weißen Streifen (Nana nannte es den Himmel)
- Dürre, knotige, grünliche Bäume
- Eine Reihe verlassener grauer Gebäude, die abgerissen werden sollen
- Ein Stück des leeren Bürgersteigs und der leeren Straße
- Drei Straßenlaternen
- Ein Müllcontainer, übervoll und vergessen
Die Straßenlaternen werden schon tagsüber angeschaltet, so gegen fünf. Dann gehen die Menschen mit ihren blassen Schatten spazieren. Auf der Terrasse, von der aus ich das Foto aufnahm, habe ich heute einen Schneemann gebaut. Seine Augen sind zwei blaue Knöpfe. Mund, Ohren und Nase sind nicht vorhanden.
Seit ein paar Tagen stimmt mit dem Fernseher irgendwas nicht: Vom dunklen Bildschirm kommen nur Schreie. Die Zeitungsseiten sind von toten Zeichen und exotischen Leichen übersät. Ich habe ein ausgezeichnetes Alibi: Mein wissenschaftliches Interesse an Kommunikation, Neurochirurgie, Linguistik und Nuklearphysik ist gleich null, all meine Sympathien gelten den Walen, Walrossen, Afghanen, Türken, Schwulen und anderen Hochrisikogruppen, und mein Körper, der immer noch unter Narkose steht, ist soeben von einer Ausstellung moderner Skulpturen und zeitgenössischer Abtreibungstechniken, die in der Vorhalle des Interconti eröffnet wurde, zurückverfrachtet worden.
Der Schneemann hat weder Arme noch Beine. Er war ehrlich erfreut, als er mich sah. Er brachte kein Wort hervor, da er keinen Mund hat . ich glaube, das sagte ich bereits. Nur seine beiden Augen fielen entzückt ab. Ich hob sie vom Terrassenboden auf, drückte sie zärtlich wieder an seinen unschönen, aber sympathischen Kopf und klopfte ihm auf den Rücken. Alles wird gut.
Aufgrund der bisweilen geschlossenen Wolkendecke, der Schneefälle und der durchschlagenden Tradition wurden heute die Störungen im Fernseher behoben. Die Schreie verwandelten sich dank des technologischen Fortschritts und im Sinne des Umweltschutzes in Stille, und die Zeitungen, das sollte besonders betont werden, riechen wieder nach Zirodent und Aftershave.
Ich mache mir jedes Mal in die Hose, wenn Nanas zerrissener Küchenlappen vor meinen Augen auftaucht.
Heute Morgen habe ich vergessen, den Müll rauszubringen . ich habe die Namen vieler Menschen und Gegenstände vergessen . ich habe vergessen, welcher Tag heute ist . ich habe vergessen.
Ich bin aufgewacht, in Schweiß gebadet, das zum Ersten.
Zweitens kniete Nana vor dem Bett.
- Ich mache dir ein Pünktchen hinter das Ohr - sagte sie mit beruhigender Stimme.
- Ich habe von einem langen Slalomlauf beim Weltcup geträumt - sagte ich.
- Und wie war's? - fragte sie.
- Gut - sagte ich.
Der Schneemann kennt die Namen aller Menschen und aller...
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