Schweitzer Fachinformationen
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2015
»Ludwig, du lahme Ente«, rief Achim Poppe über seine Schulter hinweg, während er auf seinem Schlitten an Lizzy Ludwig vorbeisauste. »Wenn du in dem Tempo weiterzuckelst, wirst du nichts mehr vom Kaiserschmarrn abbekommen.«
Lizzy musste grinsen und blickte kopfschüttelnd Achims signalgelber Antarctica-Expeditions-Jacke hinterher. Alter Angeber. Poppe bretterte über die Piste, als ginge es um Leben und Tod, dabei war das hier eigentlich als erholsamer Freizeitspaß in ihrer sonst so durchgetakteten Welt gedacht.
Als Achims polterndes Lachen verhallt war, legte sich wieder eine angenehme Stille über die schneebedeckte Landschaft, einzig durchbrochen vom leisen Rauschen des Windes. Sollten die anderen doch ein Rennen veranstalten, Lizzy genoss lieber den Blick auf die malerische Bergkulisse. Und solange sie den übermütig hin und her schwingenden Bommel an Poppes roter Zipfelmütze nicht aus den Augen verlor, war alles gut.
Mittlerweile hatte Lizzy sich daran gewöhnt, dass ihre Kochkollegen aus allem einen Wettkampf machten. Immerhin hatte sie sich jetzt schon eine ganze Weile in der Männerdomäne behaupten können, was nicht selbstverständlich war. Sie war umringt von lauter - zugegebenermaßen liebenswerten - Großmäulern, die sich ständig gegenseitig übertrumpfen mussten und dabei alle einen Hang zur Selbstüberschätzung hatten. Bisher konnte Lizzy ganz gut mithalten, es machte ihr sogar richtig Spaß. Ihr gefiel die Rolle der toughen Köchin mit Rampenlicht-Gen, das man ihr zusprach.
Manchmal fühlte Lizzy sich jedoch um Jahrzehnte zurückversetzt, so als würde sie wieder im Sandkasten um den besten Platz kämpfen müssen. Damals hatte nur geholfen, dem Gegner eins mit der Schaufel überzubraten, wenn man siegreich sein wollte. Zu solchen brachialen Mitteln griff sie heute nicht mehr, stattdessen ließ sie lieber ihren Charme, notgedrungen manchmal sogar ihre weiblichen Reize spielen. Damit kam sie gut zurecht, alle akzeptierten und respektierten sie. Außer einem. Samuel Wollschläger. Aber über den wollte sich Lizzy in dieser wunderschönen Umgebung jetzt sicher nicht den Kopf zerbrechen.
Lizzy lauschte dem leisen Knacken der Schneekristalle unter den Kufen, während der Schlitten den Hang hinunterglitt. An manchen Stellen war der Schnee noch unberührt und sie erfreute sich daran, ihre eigene Spur zu ziehen.
So wie im wahren Leben. Ja, es konnte gerade nicht besser laufen. Einfach herrlich! Eine angenehme Leichtigkeit ergriff Besitz von ihr. Lizzy war mit sich und der Welt im Einklang, so wie schon lange nicht mehr. Sie spürte förmlich, wie ihr Körper einen Haufen Dopamin ausschüttete, so berauscht und gleichzeitig beflügelt fühlte sie sich. Gut, möglicherweise war der Jagertee nicht ganz unschuldig daran. Offenbar war ihr der letzte ein wenig zu Kopf gestiegen. Aber wen störte das schon? Das Rat Pack, wie sie ihre drei Koch-Buddies gerne nannte, sicher nicht. Die hatten selbst ordentlich einen im Tee.
Ein strahlend blauer Himmel wölbte sich über ihr, und die Sonne zauberte Myriaden glitzernder Diamantsplitter in den Schnee. Diese kurze Auszeit vom Restaurantalltag kam genau richtig. Hätte Poppe sie nicht überredet, bei dem Fernsehformat Vier Starköche eingeschneit auf der Alm mitzumachen, würde sie jetzt nicht auf einem Schlitten durch die weiße Bilderbuchlandschaft gleiten. Heute war ihr einziger freier Drehtag und Lizzy hatte es sich nicht nehmen lassen, mit ihren drei Kollegen eine Abfahrt mit dem Schlitten zu machen. Der Einkehrschwung davor und danach durfte natürlich nicht fehlen.
Gestern hatten sie beim ersten Dreh gemeinsam vor der Kamera gestanden. Weihnachtliches Kochen unter Freunden, so hieß das Motto. Die Zuschauer sollten mit kurzen Anekdoten aus der Welt der Sterneküche garniert mit witzigen Sprüchen unterhalten werden.
Poppes rote Zipfelmütze fest im Blick, verließ Lizzy die Piste, die hinunter ins Tal führte, und bog nach rechts zwischen die Bäume ab. Es ging ein kurzes Stück holprig bergab, aber schon stieß sie auf einen schmalen Waldpfad, der hinter einer Kurve immer steiler abfiel. Lizzy wischte sich über die Augen, die von der kalten Luft tränten und stieß im nächsten Moment ein überraschtes Glucksen aus, als der Schlitten über einen Buckel sprang. Donnerwetter, das ging ja doch sportlicher zu als gedacht! Jetzt war Lizzy hellwach, ihr gefiel dieser kleine Geschwindigkeitsrausch, während die Landschaft immer schneller an ihr vorbeizog.
Alles glitzerte so schön - der Schnee auf den Tannen, die hoch neben ihr aufragten, die Eiszapfen an den Zweigen. Sie hätte sich schon viel früher Zeit für einen Winterurlaub nehmen sollen. Das letzte Mal im Schnee war sie . Ja, wie lange war das eigentlich her?
Lizzy musste eine Weile grübeln, bis es ihr einfiel: Genau vor sechs Jahren, kurz vor dem vierten Geburtstag ihres Sohnes. Ihr kamen Matzes vor Kälte geröteten Bäckchen in den Sinn, als sie sich mit ihm durch den Schnee einen kleinen Hügel hinabgerollt hatte.
»Noch mal, noch mal«, hatte er immer wieder gerufen und dabei vor Freude gequietscht. Lizzy konnte mit einem Mal wieder die Nähe spüren, die sie damals zu ihm empfunden hatte.
Sie seufzte leise. Für einen gemeinsamen Familienurlaub fehlte einfach die Zeit. Immer war irgendwas. Eine neue Restauranteröffnung, die neue Staffel von Der perfekte Löffel, eine Homestory . Dieses Jahr hatte sie wirklich ein ordentliches Pensum absolviert. Aber wie hatte ihr Vater immer so schön gesagt? Von nichts kommt nichts! Und daran hatte sie sich bis heute gehalten. Er wäre stolz gewesen auf das, was sie erreicht hatte. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, der man es nie recht machen konnte. Könnte man negative Energie sehen, würde sie strahlen wie ein Atomkraftwerk kurz vor dem Supergau. Aber Lizzy hatte schon lange aufgehört, sich darüber aufzuregen. Lieber mied sie Irmgard, wie ihre Mutter von ihr genannt werden wollte. Bei ihrem Job konnte sie es sich nicht leisten, dass die miese Laune ihrer Mutter auf sie abfärbte.
Trotz ihres Erfolges war Lizzy eine herbe Enttäuschung für Irmgard. Anders als sie es sich erhofft hatte, fragte Lizzy sie weder um Rat, noch bezog sie sie in ihre Entscheidungen ein. Aber ganz ehrlich, warum sollte Lizzy auch etwas auf die Meinung einer Frau geben, die aus Bequemlichkeit bei einem Mann geblieben war, der sie ihr halbes Leben lang betrogen hatte? Die immer den Weg des geringsten Widerstands ging und die einfache, vermeintlich sichere Lösung wählte, sich aber dennoch als Opfer sah? Nein, so wollte Lizzy bestimmt nicht enden. Sie hieß das Fremdgehen ihres Vaters mit Sicherheit nicht gut, andererseits verstand sie, dass das wohl seine Art gewesen war, der freudlosen Ehe mit ihrer Mutter zu entfliehen.
»Ich habe ihm die besten Jahre meines Lebens geschenkt«, gehörte zu Irmgards Standardaussprüchen, »und so hat er es mir gedankt.« Ihr Leben an der Seite eines anerkannten Chirurgen war nun wirklich nicht übel gewesen. Irmgard hatte sich die Langeweile auf dem Golfplatz vertrieben, Business- und Wohltätigkeitspartys organisiert und der Putzfrau Anweisungen gegeben, wie sie fachgerecht den Wischmopp zu schwingen hatte. Heute, zehn Jahre nach seinem Tod, jammerte ihre Mutter noch unerträglicher. Es gab nichts mehr für sie zu tun. Nachdem sie die Villa verkauft hatte, war sie in eine Wohnung direkt am Wannsee gezogen. Dort hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Nachbarn auf Trab zu halten und ihnen mit ihrem Gejammer in den Ohren zu liegen. Auch von ihrer Tochter forderte sie rund um die Uhr Rücksicht und Aufmerksamkeit, die Lizzy aus Mangel an Zeit und Geduld jedoch nicht aufbringen konnte, was ihre Mutter ihr auch ständig aufs Brot schmierte.
Lizzy schüttelte über sich selbst den Kopf. Kaum konnte sie einmal abschalten, wanderten ihre Gedanken prompt zu ihrer Mutter.
Plötzlich spürte sie etwas Feuchtes auf ihrer Nasenspitze. Ihr Blick wanderte zum Himmel. Oh! Es fing an zu schneien. Wie wunderschön es aussah, wenn die Flocken langsam, wie aus dem Nichts, herabrieselten. In Berlin konnte sie dieses Naturschauspiel viel zu selten bewundern. Wenn sie genauer drüber nachdachte, mochte sie Winterurlaube viel lieber als Ferien am Strand. Einfach nur auf der Liege zu fläzen und sich die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen war nichts für sie. Sie brauchte Abwechslung und körperliche Betätigung gleichermaßen. Auch wenn man ihr das vielleicht nicht ansah. Doch wozu sich quälen, wenn High-Waist-Hosen, dunkle Farben und weite Oberteile zuverlässig ihren Dienst taten, um die Fettpölsterchen zu kaschieren. Schließlich war Lizzy Botschafterin des guten Geschmacks, ein dürrer Hungerhaken wäre da fehl am Platz. Sonst würde man ihr womöglich noch unterstellen, ihr würde das eigene Essen nicht schmecken.
Der dichter werdende Schneefall behinderte ihre Sicht. Das Wetter war so schnell umgeschlagen wie die Laune eines pubertierenden Teenagers. In den Bergen war das keine Seltenheit, das wusste sie. Angestrengt fixierte Lizzy Poppes Zipfelmütze, was ihr zwischen den wirbelnden Flocken zunehmend schwerfiel. Die beiden anderen Kollegen hatte sie schon vor einer ganzen Weile aus den Augen verloren. Vermutlich wärmten Wollschläger und Stiefelbeck sich bereits mit Wodka-Feige in Resis Hütte auf.
Trotz der sündhaft teuren Boots spürte Lizzy ihre Zehen vor Kälte nicht mehr, und der Wind, der ihr um die Ohren pfiff, wurde immer unangenehmer.
Auf einmal fühlte sie sich seltsam orientierungslos.
Selbst Poppes rote Mütze konnte sie jetzt nicht mehr...
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