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August 2021. Afghanistan fällt an die Taliban - schlagartig ist alles anders. Vor allem für Frauen. Khalida Popal lebt zu dieser Zeit in Afghanistan. Sie ist die Kapitänin der Fußall-Nationalmannschaft und sie weiß, dass ihr Traum von einem Leben als Fußballerin, von der Kraft, der Freiheit, die ihr das Spiel gegeben hat, ein jähes Ende gefunden hat. Sie versucht für ihre Rechte und die Ihrer Mitspielerinnen zu kämpfen, will auch dem sexuellen Mißbrauch durch Trainer und Offizielle ein Ende bereiten - vergebens. Popal erhält Todesdrohungen und muss das Land und ihre Mitspielerinnen schweren Herzens verlassen. Einige von ihnen wird sie später vor den Taliban retten können. Dieses mutige, kraftvolle Buch geht weit über den Fußball hinaus. Es ist ein starkes Plädoyer für Zusammenhalt, für Freiheit, für Gleichberechtigung.
Es sind immer die gleichen Bilder. Sie tauchen auf, sobald ich die Augen schließe. Ein Messer, das einen Ball aufschlitzt. Männer mit verzerrten Gesichtern. Sich drehende Rotorblätter eines Helikopters. Blut, das langsam auf den staubigen Boden tropft. Die Silhouette eines Mädchens, das sich in Flammen krümmt.
»Khalida?«
Ich schlage die Augen auf.
Ich nicke der Veranstalterin zu, die mich angesprochen hat, und atme tief durch.
Es ist der Tag vor dem Finale der Frauenfußball-Weltmeisterschaft in Sydney. Ich stehe am Rand des Indoor-Fußballfelds im Ultra-Football-Sportshop in Melbourne. Mir gegenüber sehe ich die Spielerinnen der ehemaligen afghanischen Frauen-Nationalmannschaft - und es ist wohl nicht übertrieben, wenn ich sage: Es grenzt an ein Wunder, dass überhaupt jemand von uns hier ist und unsere Geschichte erzählen kann.
Morgen wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit die beste Frauenfußball-Nationalmannschaft der Erde gekürt. Aber nicht alle Teams konnten antreten. Das afghanische Frauenteam wird vom Weltfußballverband FIFA nicht anerkannt; das Team der afghanischen Männer dagegen ist anerkannt und darf bei internationalen Turnieren antreten.
Dass die WM 2023 ausgerechnet in Australien stattfindet, ist Ironie des Schicksals, denn dorthin sind die meisten afghanischen Nationalspielerinnen geflohen, als die Taliban im August 2021 wieder an die Macht kamen und Frauen jede sportliche Betätigung verboten.
Auch ich bin aus Afghanistan geflohen. Seit mehr als zehn Jahren lebe ich im Exil in Dänemark. Die Friedensnobelpreisträgerin und Bildungsaktivistin Malala Yousafzai hat mich hierher nach Australien fliegen lassen. Ihr brauchte ich nicht zu erklären, was es heißt, als Frau unter einem repressiven Regime zu leben. Wie es ist, wenn du Männer gegen dich aufbringst und sie dich dann wie eine Fliege zerquetschen wollen. Jetzt bin ich also hier, bin wieder mit meinen Schwestern zusammen und kann sie mit Malala bekannt machen. Und wir können allen, die sie hören wollen, unsere Geschichte erzählen. Doch wo fängt diese Geschichte an?
Vor ziemlich genau zwei Jahren hatte ich die ersten Berichte darüber gesehen, dass Kabul wieder in die Hände der Taliban fiel. Wenig später kamen die ersten Anrufe, Sprachmessages, E-Mails, Nachrichten über alle Online-Kanäle. Obwohl ich seit mehr als acht Jahren nicht mehr in Afghanistan gewesen war, weil ich dort nicht sicher leben konnte, zählte ich noch immer zu den bekanntesten Fußballerinnen des Landes. Ich wurde also zu einer Art Blitzableiter, als das Gewitter losbrach.
Mitten in der Nacht bekam ich einen Anruf. Ich nahm das Gespräch an und hörte eine leise, belegte Stimme. Es war eine Frauenstimme. Sie flüsterte auf Dari: »Ist da Khalida?«
»Ja.« Meine Kehle war trocken, meine Augen brannten. Ich versuchte, wach zu werden, und war mir nicht sicher, ob ich noch träumte.
»Ich sitze hier mit dem Gewehr meines Bruders am Fenster und schaue raus. Ich habe kein Auge zugetan. Wenn sie an meine Tür klopfen, werde ich mir in den Kopf schießen. Ich bringe mich lieber um, als in ihre Fänge zu geraten.«
Da wusste ich: Ich träumte nicht.
»Wo bist du?«, fragte ich. Ich notierte ihre Angaben, setzte ihren Namen auf meine Liste und versprach, sie anzurufen, sobald ich mehr wüsste. Auf meinem Schreibtisch standen überall halb leere Kaffeetassen. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal etwas gegessen hatte.
Ich war wie viele andere so naiv gewesen zu glauben, dass die westlichen Streitkräfte mein Land niemals im Stich lassen würden. Wir waren überzeugt: Der immense Imageschaden, den sie erleiden würden, wenn sie vor den Taliban kapitulieren und ihre Truppen zurückziehen sollten, würde dies verhindern. Wir wähnten uns in Sicherheit. Wir haben uns geirrt.
Erst ungläubig und dann entsetzt mussten wir im Februar 2020 mit ansehen, wie die US-Regierung unter Donald Trump ein Abkommen mit den Taliban, das Agreement for Bringing Peace to Afghanistan, unterzeichnete. Die USA und in ihrer Folge die NATO erklärten sich bereit, alle Truppen innerhalb von 14 Monaten aus dem Land abzuziehen. Am 12. September 2020 trafen sich in Doha, der Hauptstadt von Katar, eine 21-köpfige afghanische Regierungsdelegation und 21 Vertreter der Taliban zu »Friedensgesprächen«. Sie wollten darüber beraten, wie es nach Abzug der US-Truppen mit dem Land weiterging. Nur vier Frauen saßen mit am Tisch. Die Taliban würdigten sie keines Blickes.
In den folgenden Wochen und Monaten erfuhren wir, dass die Taliban dabei waren, die Oberhand zu gewinnen. Die von den USA eingesetzte afghanische Regierung wurde in die Friedensgespräche im Grunde nicht einbezogen. Stattdessen verhandelte die US-Regierung direkt mit den Taliban. Währenddessen verließen die westlichen Mächte nach und nach das Land.
Die von mir geleitete Organisation Girl Power bot unter anderem Frauen und Mädchen in verschiedenen Städten und Provinzen Afghanistans Fußballprogramme an. Von Trainerinnen und Spielerinnen hörte ich, dass es immer gefährlicher wurde, bei diesen Programmen mitzumachen. Als die Taliban weiter vorrückten, empfahl ich ihnen, Trikots und Trophäen und auch alle Fotos, auf denen sie beim Fußballspielen zu sehen waren, zu vergraben, die Spuren ihrer Geschichte zu verwischen und in die Hauptstadt Kabul zu gehen.
Die Kämpfe wurden immer heftiger und hielten fast ununterbrochen an, während die Taliban aus den ländlichen Gebieten in die Städte vorrückten. Schon im April 2020 mussten wir ein Fußballturnier für Mädchen absagen, das in der Provinz Dschuzdschan stattfinden sollte, einer ländlichen Gegend im Norden des Landes. Der Krieg hatte die Region erreicht, die Regierung war machtlos. Ich sprach mit einigen Müttern von Spielerinnen; sie wollten ihre Töchter nicht mehr zur Schule schicken aus Angst, sie würden sie nie mehr wiedersehen. Der Interimspräsident des afghanischen Fußballverbands warnte die Frauenmannschaft davor, sich in den Büros und anderen Einrichtungen des Verbands oder auf den Spielfeldern blicken zu lassen. Zur Begründung sagte er, der Verband würde sich sonst zu viele Probleme mit den Taliban einhandeln. Er wolle nicht, dass auch nur ein einziges Verbandsmitglied ihretwegen getötet werde.
Wir hofften, die Regierung würde sich zur Wehr setzen. Doch dann erfuhren wir: Die Regierung hatte kapituliert und die Militärführer angewiesen, den Soldaten die Waffen abzunehmen. Damit nahmen sie ihnen auch die Möglichkeit, sich zu verteidigen. Es kursierten Videos von Soldaten, die weinten und flehten, weiter kämpfen zu dürfen. Ich hatte Verwandte und Freunde beim Militär. Gezwungenermaßen mussten sie die Kampfhandlungen gegen die Taliban einstellen und bezahlten das nicht selten mit ihrem Leben. Ihre eigenen Anführer und die vermeintlichen Verbündeten hatten sie verraten.
Dann, im August 2021, fiel Kabul.
Alle sogenannten Ortskräfte - Fahrer, Dolmetscher, Köche, Lehrkräfte, die mit ausländischen Truppen in Afghanistan in Verbindung standen - schwebten jetzt in Lebensgefahr. Außenstehenden musste ich immer wieder verständlich machen, was es heißt, unter den Taliban zu leben, dass diese islamistische Terrorgruppe jegliche Form von Unterhaltung verbietet und warum Männer, die gerade erst von den Taliban rekrutiert worden waren - entweder weil sie deren Ideologie unterstützten oder weil sie Angst vor ihnen hatten -, von Tür zu Tür zogen und nach den Namen von Fußballspielerinnen fragten.
Die Taliban zertrümmerten antike Statuen, Musikinstrumente und Fernseher, verbrannten Filmrollen und Musikkassetten auf meterhohen Scheiterhaufen. Fußball wurde nicht ganz verboten: Männer durften weiterhin in die Stadien gehen und Spiele anschauen. Frauen dagegen war der Sport ab sofort untersagt. Wer beim Stehlen erwischt wurde, dem wurden in einem Fußballstadion vor den Augen der Öffentlichkeit die Hände abgehackt. Zum Tode Verurteilte hängte man an den Torpfosten auf und ließ sie über dem Rasen baumeln.
Ein Grundsatz der Taliban ist, dass Frauen sich nicht bilden, nicht arbeiten und auch keinen Sport treiben dürfen. Diejenigen von uns, die nach der Vertreibung der Taliban 2001 in Afghanistan Fußball gespielt hatten, gerieten jetzt also unweigerlich ins Visier.
Der Fußball hatte den Spielerinnen ein kleines Forum geboten. Viele von ihnen hatten das genutzt und sich öffentlich für die Rechte der Frauen eingesetzt. Sie hatten sich innerhalb ihrer Gemeinschaft exponiert, sich offen über alles hinweggesetzt, woran die Taliban glaubten, und waren jetzt in höchster Gefahr.
Sie mussten untertauchen. Der afghanische Fußballverband unternahm nichts, um die Spielerinnen zu schützen, und es gab nur wenige Menschen, auf deren Hilfe man zählen konnte. Denn wer die Chance hatte, sich bei den Taliban beliebt zu machen, konnte sich dadurch ihrem Druck entziehen und von sich und der eigenen Familie ablenken. Wir mussten die Frauen in Sicherheit bringen. Ich empfand für ihre Rettung eine besondere Verantwortung. Schließlich war ich diejenige gewesen, die viele Jahre zuvor mit der Gründung der afghanischen Frauenfußball-Nationalmannschaft den Stein überhaupt erst ins Rollen gebracht hatte.
Damals hieß es, die westlichen Mächte hätten die Taliban im Namen der Menschenrechte entmachtet. Den Frauen in Afghanistan solle der Rücken gestärkt werden gegen ein Regime, das sie unterdrückte. Also stürzten wir uns mit vollem Elan in den Kampf für eine gleichberechtigte Gesellschaft - und unsere Waffe in diesem Kampf...
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