2 Werthaltungen entwickeln und Vertrauen schaffen
Das grundlegende Bestreben von Menschen im Umgang mit komplexen Situationen besteht darin, diese zu vereinfachen, sie vorherseh- und berechenbar zu machen. Die Vielfalt in der Zusammenarbeit ist zwar erwünscht, zugleich kann sie in ihrer Komplexität überfordernd wirken. In dieser Vielfalt muss daher eine übergreifende Ordnung und Kultur erkennbar werden, an der sich alle orientieren können. Diese übergeordnete Ordnung in der Vielfalt kann sich zum Beispiel in gemeinsamen Werten zur multiprofessionellen Zusammenarbeit ausdrücken und in einer gemeinsamen, wertschätzenden Kultur der Begegnung, getragen von gegenseitigem Vertrauen.
Institutionelle Werte oder persönliche Überzeugungen ins Bewusstsein zu rufen und fassbar zu machen, ist anspruchsvoll, weil alle Mitarbeitenden persönliche, berufsbiografisch aufgebaute Haltungen zur Zusammenarbeit mit einem Wertekodex der Schule in Abgleich bringen müssen. Diese Auseinandersetzung kann jedoch für neue unbekannte Situationen Ankerpunkte für Entscheidungen bieten und somit Handlungssicherheit schaffen. Sie trägt massgeblich dazu bei, dass sich multiprofessionelle Teams mit der Schule identifizieren.
Bei der Zusammenarbeit ist Vertrauen ineinander nicht selbstverständlich und bedarf der Kultivierung. Die Logik des anderen zu verstehen und das Nebeneinander verschiedener Perspektiven zulassen zu können, sind elementar für eine Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams. Es braucht psychologische Sicherheit, damit die Beteiligten bereit sind, sich einzubringen und die gemeinsame Praxis stets erneut zu überdenken. Die Frage ist, wie sich dieses gegenseitige Vertrauen in multiprofessionellen Teams konkret und konstruktiv aufbauen lässt. Schneller als angenommen finden Kränkungen statt oder einzelne Personen dominieren andere in der Zusammenarbeit. Als Schulleiter:in sind Ihnen solche Situationen aus Ihrem Schulalltag vermutlich bekannt, und Sie stellen sich dann wohl auch die Frage, ob und wie Sie auf individuelle Äusserungen einzelner Mitarbeitenden reagieren sollen.
Werthaltungen und Vertrauen kommen in diesem Kapitel gemeinsam vor, weil sie beide im Hinter- oder Untergrund wirken und sich in verschiedensten Situationen des Schulalltags artikulieren. So wird in Diskussionen mit Ihren Mitarbeitenden oder bei Wortmeldungen im Plenum schnell deutlich, dass hinter vorgebrachten Argumenten bestimmte Haltungen stehen. Oder Sie realisieren, wie es innerhalb der verschiedenen multiprofessionellen Teams tatsächlich um den Zusammenhalt steht.
Im nächsten Kapiteln zeigen Spuren aus der Praxis in Form von kurzen Vignetten aus dem Schulalltag beispielhaft auf, wie Ihnen als Schulleiter:in Werthaltungen und Vertrauen begegnen können (2.1). Was sich aus der Wissenschaft und dem Fachdiskurs dazu zusammentragen lässt, finden Sie in Kapitel 2.2, Anregungen für Handlungsimpulse im Führungsalltag in Kapitel 2.3.
2.1 Spuren aus der Praxis
Im Folgenden finden Sie Situationen aus dem Führungsalltag. Sie werden in kurzen Vignetten beschrieben, in denen der Umgang mit Fragen zu Werthaltungen oder Vertrauen aufscheinen. Solche Situationen mögen Sie als Schulleiter:in vielleicht in ähnlicher Form erlebt haben, oder sie kommen Ihnen vom Hörensagen bekannt vor. Lassen Sie sich beim Weiterlesen von Ihren Interessen leiten, folgen Sie der für Ihre Schulsituation vielversprechendsten Spur.
Diskretion in Haltungsfragen
Ich bin relativ frisch an der Schule. Wenn ich mich im Kollegium umhöre, staune ich manchmal, welche Haltungen manche zum Ausdruck bringen. Ich würde diese gerne thematisieren, und mich fachlich einbringen. Manchmal werde ich bei konflikthaften Themen herausgefordert, wenn mich Kolleginnen und Kollegen auffordern, Position zu beziehen: «Und, was ist denn nun deine Haltung dazu?» Ich würde mich gerne viel direkter zu Haltungsfragen äussern, möchte damit aber einzelne Kolleg:innen nicht brüskieren.
Beeinflussbarkeit junger Lehrpersonen durch Kolleg:innen
Meiner Erfahrung nach haben jüngere Lehrpersonen ihre professionelle Haltung zur Teamarbeit meist noch wenig ausgebildet. Es macht mir Sorgen, dass die neuen Kolleg:innen durch informellen Austausch von Berufskolleg:innen beeinflusst werden. Mir ist es ein Anliegen, dass wir zu bestimmten Themen ein gemeinsames Werteverständnis vertreten. Ich möchte vermeiden, dass die jungen Lehrpersonen im Team meinen, dass die informell ausgetauschten Haltungen die Schule repräsentieren.
Neue Lehrpersonen lösen wieder alte Wertediskussionen aus
Zu Schuljahresbeginn kann es vorkommen, dass neu eingetretene Lehrpersonen Fragen zu gewissen Abläufen der Zusammenarbeit im multiprofessionellen Team stellen. Ich realisiere, dass sie das Leitbild und die vereinbarten Abläufe nicht wirklich studiert haben. Bei den angesprochenen Themen handelt es sich nicht selten um solche, zu denen vor kurzer Zeit in einem anspruchsvollen Entwicklungsprozess ein Kompromiss erarbeitet wurde. Mit ihren Fragen schwelt die konflikthafte Diskussion nochmals auf, und ich stelle fest, wie der ausgehandelte Kompromiss offenbar doch noch nicht die Lösung des Problems ist und er auch mich noch nicht wirklich überzeugt.
Dualität von der persönlichen und professionellen Haltung
Ich staune manchmal, wie sich meine Lehrpersonen in informellen Gesprächen ausdrücken und dabei - wie mir scheint - teils unreflektiert medial beeinflusste Meinungen wiedergeben. Mir wäre es nicht wohl, wenn meine Lehrpersonen so vor Eltern etwa über ihre Zusammenarbeit untereinander sprechen würden. Die Aussagen besorgen mich deshalb, weil sie mir als wenig professionell, wenig konstruktiv und kaum als vertrauensbildend erscheinen. Gleichzeitig kann ich beobachten, dass dieselben Personen in Mitarbeitendengesprächen oder in Sitzungen durchaus differenziert argumentieren. Ich frage mich, wie es mir gelingt, dass das Kollegium vermehrt eine professionelle Haltung bezüglich der Zusammenarbeit einnimmt.
Werte und Handlungen der Schulleitung im Widerspruch
Es gibt Situationen in meinem Schulleitungsalltag, in denen pragmatische Lösungsschritte erforderlich sind. Das Resultat solch situativer Handlungen entspricht dann in den Augen engagierter Lehrpersonen nicht mehr den gemeinsam vereinbarten Werten im Leitbild. So hat unsere Schule beispielsweise festgehalten, dass die integrierte Förderung einer separierten vorzuziehen sei. Einige Lehrpersonen können nun nicht nachvollziehen, dass ein bisher inklusiv beschultes Kind beim Wechsel der Klasse teilweise auch separativ unterrichtet werden soll. Lehrpersonen, die sich mit den gemeinsam erarbeiteten Haltungen stark identifizieren, sind dann von mir als Schulleiter:in enttäuscht, wenn ich nicht all meine Entscheidungen in der gleichen Haltung vertrete. Für mich stellt sich dann die Frage: Wie kann ich meinen Lehrpersonen solche situativen Entscheidungen vor dem Hintergrund eines generellen Anspruchs auf inklusive Förderung erklären?
Dominante Lehrpersonen verunsichern jüngere Kolleg:innen
Es ist mir schon aufgefallen, dass sich jüngere oder noch wenig erfahrene Lehrpersonen an mich wenden und sich beklagen. Sie fühlen sich durch meinungsstarke Teammitglieder in der Zusammenarbeit verunsichert. Diese fallen ihnen bei Gesprächen beispielsweise ins Wort. Durch solche Erfahrungen trauen sich die neuen Lehrpersonen im Team nicht mehr, ihre Position einzubringen, manche ziehen sich zurück. Es gelingt ihnen dadurch dann leider auch nicht, ihre eigentlichen Kompetenzen im Team zu zeigen, was wiederum die dominanten erfahrenen Teammitglieder in ihrer bisherigen Ansicht bestärkt.
Personen, die ihre Kompetenzen überschätzen
Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung kann ich in der Zwischenzeit beurteilen, ob die Leistung gewisser Lehrpersonen innerhalb der multiprofessionellen Teams ausreichen oder eben nicht. Ich mache die Beobachtung, dass einzelne Personen ihre Kompetenzen nicht realistisch einschätzen oder ihren Einfluss innerhalb des Teams überschätzen. Es sind nicht selten die Mitglieder in multiprofessionellen Teams, die über eine nicht adäquate Ausbildung verfügen. Ich mache mir Sorgen, dass solches Verhalten im Team wenig vertrauensbildend wirkt. Obwohl ich eigentlich von der Idee überzeugt bin, dass jede Person ein Vorschussvertrauen verdient, gerate ich in solchen Situationen in ein Dilemma.
Kritik an Kolleg:innen wird an die Schulleitung herangetragen
Ich erlebe es als anspruchsvoll, wenn sich Mitarbeitende bei mir über andere Kolleg:innen beklagen. So etwa, wenn mir die Heilpädagogin mitteilt, dass eine Klassenlehrpersonen in der Zusammenarbeit nicht verlässlich sei, wenn ein Lehrer sich über die zugeteilte Heilpädagogin beklagt oder ihre Eignung für die Stufe bezweifelt. Ich bin momentan einfach froh, überhaupt alle Stellen besetzt zu wissen. Weiter kann ich auf den Erwartungsdruck nicht reagieren. Zudem ist es mir unangenehm, dass solche an mich herangetragenen Informationen mein Bild von einzelnen Kolleg:innen beeinflussen.
Hintergrundarbeit erfährt keine Anerkennung
Es ist auch schon vorgekommen, dass eine Klassenlehrperson im Rahmen unserer pädagogischen Konferenz die aufbereiteten Materialien zum Entwicklungsschwerpunkt ihres Unterrichtsteams vorstellte und dafür...