Schweitzer Fachinformationen
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ERST EINMAL EINGESPERRT: MEINE KINDHEIT UND JUGEND IN DER DDR
Den Ruinen eines Ostberliner Hinterhofs entsprossen tausende Sonnenblumen. Sie wandten Angelika und mir, die wir als Fünfjährige Hand in Hand vor der Blumenpracht standen, ihre freundlichen Gesichter zu. Über ihnen breiteten sich Bruchstücke einstiger Wohnungen aus. Schutt lag in den Räumen und am Boden, Latten und Eisenstangen endeten im Nirgendwo. Ein Kamin war stehen geblieben. Er wies auf einen Himmel, der beträchtlich größer war als das handtuchgroße Stück Blau des Hinterhauses, in dem wir lebten. Der Staub war Wirklichkeit, die Sonnenblumen reine Einbildung.
Unsere Seite der Schliemannstraße war völlig intakt, die meisten Vorderhäuser von gegenüber auch; von den dortigen Hinterhäusern waren jedoch etliche zerbombt. Obwohl der Krieg bereits fünfzehn Jahre vergangen war, hatte sich niemand die Mühe gemacht, den Schutt zu beseitigen. Selbstverständlich war es uns verboten, in den Ruinen zu spielen, doch das machte alles noch aufregender. Wir mussten ein paar Steinstufen hinaufsteigen, bevor wir an unseren geheimen Ort kamen. Dort hatten wir uns gut eingerichtet. Das Erdloch, in dem wir lagen, war mit Stroh ausgelegt und den Blicken entzogen.
Hätten die Himmelserscheinungen miteinander gesprochen, wäre Folgendes zu hören gewesen:
"N' Tag, Genossin Wolke!"
"N' Tag, Genossin Sonne!"
"Na, wie geht's denn und wie steht's denn?"
"Schlecht, ich glaub', ich muss gleich weinen!"
"Recht so, daraus machen wir einen sozialistischen Regenbogen für den neuen Menschen in diesem Land!"
Angelika war ein zartes, dunkelhaariges Mädchen. Sie hatte einen großen Bruder, den ich gelegentlich zu Gesicht bekam, wenn ich sie abholte. Er war vermutlich zehn Jahre älter als wir und imponierte mir mit seinen wild blitzenden Augen.
Manchmal, wenn Angelika alleine zuhause war, durfte sie nicht raus und war eingesperrt. Dann unterhielten wir uns über den Briefschlitz in ihrer Wohnungstüre. Ich erzählte ihr von meinem Lieblingsbuch, aus dem mir meine ältere Schwester Rosi vorgelesen hatte. Es trug den Titel "Einmal alles dürfen". Angelika sprach von einer Geschichte, in der eine Ente sich am Bauernhof unglücklich fühlt und nicht so recht weiß, warum. Alle sind freundlich, das Essen ist gut, und doch fehlt ihr etwas. So zieht das Tier von Bauernhaus zu Bauernhaus, es ergeht ihm überall gleich. Schließlich, schon recht erschöpft, kommt die Ente zu einem Hof mit einem Teich und da erst erkennt sie, wonach sie gesucht hat. Natürlich beschließt sie zu bleiben. Die Geschichte erinnerte mich an mein Lieblingsmärchen der Gebrüder Grimm über die Bremer Stadtmusikanten. Darin heißt es: "Komm mit, etwas Besseres als den Tod finden wir überall!" Hinter dem Briefschlitz wurde andächtig geschwiegen.
Ich hatte dieses Refugium mit Angelika bitter nötig. Mochte ich auch umgeben sein von Vater, Mutter, Geschwistern, Großmutter, Urgroßmutter sowie zahlreichen Tanten und Onkeln, fühlte ich mich doch meist wie ein Waisenkind. Familien hatten die anderen, mir war das nicht gegönnt. Urgroßvater, Großvater, Vater - alle waren sie von Kindermädchen großgezogen worden. Feine Leute waren das gewesen, im Frack mit Zylinder am Kopf unterwegs. Bloß die Zeiten hatten sich geändert: Nannys kamen im Fünfjahresplan des Arbeiter- und Bauernstaates nicht vor. Wir Kinder wurden also zur Großmutter mütterlicherseits in den Hinterhof abgeschoben, während meine Eltern, die im vorderen Teil des Gebäudes eine große Wohnung innehatten, sich Tag für Tag und Nacht für Nacht mit ihren beiden Restaurants und einer Eisdiele abmühten. Von Omas Behausung aus konnten wir die hinteren Fenster der Wohnung meiner Eltern sehen. Ohne dass ich davon ein Bewusstsein gehabt hätte, war ich als Kind von einer doppelten Anzahl von Mauern umgeben.
Nachdem auch keine Dienstmädchen zu haben waren, wurden meine Schwester Rosi und ich, sehr viel später ebenso mein kleiner Bruder Dirk, dazu angehalten, an den Wochenenden bei den Eltern aufzuräumen und zu putzen. So schlecht war das aber nicht. Als Belohnung dafür wurden wir Kinder mit einer Tafel Schokolade bedacht. Abwechselnd war das Zitronen- oder Erdbeerschokolade, beide schmeckten mir gut. Außerdem fand ich ein seltsames Vergnügen am Saubermachen. Einmal hatte ich den Salon so auf Hochglanz gebracht, dass ich es nicht mehr wagte, einen Schritt in diesen zu setzen, aus Sorge, eine unschöne Spur auf dem blank polierten Boden zu hinterlassen. So sehr war ich angetan von meinem Werk.
Die Familie meiner Mutter war nicht so vornehm. Das war vielleicht der Grund, warum Mama meinem polternden Vater widerspruchslos ergeben war. Vielleicht auch bot Vater, selbst ein wankendes Schiff, ihr den Halt, den sie bei ihrer eigenen Mutter schmerzlich vermisst hatte. Jedenfalls mangelte es ihr nicht an Schmuck, schicker Kleidung - soweit im Land vorhanden - und teuren Pelzmänteln. Ein Auto stand vor der Tür, ein Trabi zwar, aber doch ein Luxusgut in der DDR. Lange Zeit wurden da Lebensmittel noch mit Pferd und Wagen transportiert.
Mutter folgte bei den jeweiligen "Kindesweglegungen" vermutlich nicht nur staatlichen Vorgaben, sondern auch Vaters Wünschen: Solche Macht hatte er über sie, dass sie sich nicht um ihre Kinder kümmerte! Vater seinerseits hatte wenig Zeit für mich und meine Schwester. Wenn er aber da war, etwa im Urlaub, beschäftigte er sich hauptsächlich mit mir. Er war mein Abgott.
Oma war gleichmäßig freundlich zu uns Enkeln. Es gab allerdings nichts auf der weiten Welt, worüber sie sich nicht ereifert hätte. Sie fühlte sich umzingelt von feindlichen Nachbarn, feindlichen Mitbürgern, einer an sich feindlichen Umgebung. Ihr Ehemann hatte sie verlassen und es ging die Mähr, dass sie ihm noch in Socken nachgelaufen war, um ihn zurückzuholen. Die Bemühung war vergebens. Anfangs schenkte ich Omas Geschichten Glauben und sah sie auch als Opfer widriger Umstände. Mit der Zeit begann ich doch am Wahrheitsgehalt ihrer Klagen und ihrer Urteilsfähigkeit zu zweifeln. Das Verhalten des weggelaufenen Ehemanns wurde mir immer begreiflicher.
So etwas wie Einfühlung war meiner Großmutter gänzlich unbekannt. Aufgrund meiner Verlassenheit war ich Bettnässer und hing viele Jahre lang an der Milchflasche. Oma posaunte meine Schwächen gerne in den Hof hinaus: "Olaf, komm deine Milchflasche holen!", rief sie mir noch nach, als ich schon fünf Jahre alt war. Auch mit den durchnässten Laken ging sie wenig diskret um. Diskreter schon mit den Liebesschundromanen, die sie unter ihrem Kopfkissen verborgen hielt. Ernst zu nehmende Bücher las mein Vater, mütterlicherseits war man mehr fürs Schmachten.
Eines Tages war meine Freundin Angelika plötzlich verschwunden. Sie war gestorben. Laut den Erzählungen meiner Großmutter hatte ihr aggressiver Bruder sie so hart gestoßen, dass sie sich bei dieser Misshandlung einen Leber- und Milzriss zugezogen hatte. Zur Beerdigung durfte ich nicht gehen und eine andere Informationsquelle als meine Großmutter hatte ich nicht. So blieb ich für immer im Unklaren darüber, was meiner Freundin tatsächlich widerfahren war. Konnte man denn wirklich glauben, dass ein so schöner junger Mann, wie ihr Bruder einer war, zu einer solchen Rohheit in der Lage gewesen wäre? Auf eine merkwürdige Weise machte die ungeheuerliche Tat ihn in meinen Augen noch attraktiver. Fest stand, dass Angelikas Mutter und Bruder kurz nach dem Unfall - wenn es denn einer war - umzogen.
Ich war die Schwester meiner Schwester - das empfand auch sie so. Als ich in etwa sechs Jahre alt war, nicht lange nach dem schmerzlichen Verlust von Freundin und Refugium, wurden Rosi und ich gemeinsam gebadet. Ich schaute meiner Schwester verblüfft zwischen die Beine und begann mich zu fragen, wie sie wohl pinkelte. Direkt darauf ansprechen wollte ich sie nicht, aber anschließend sagte ich zu Oma: "Rosi ist krank, sie hat keinen Piephahn da vorne!" Oma musste lachen. Sie erklärte mir, dass Rosi ein Mädchen und ich eben ein Bub sei. Der Gedanke wollte mir nicht wirklich eingehen.
Auf allen Bockwurst-, Bouletten-, Bier- und Schnaps-Feiern meiner Eltern ging es schenkelklopfend lustig zu. Eine ihrer lächerlichen Faschingspartys sollte mich in einen Abgrund reißen. Vermutlich hatte keiner daran gedacht, mir ein Kostüm zu besorgen. So griff man auf ein von meiner Schwester abgelegtes zurück und verkleidete mich kurzerhand als Ungarin. Ich trug ein kurzes Röckchen, ein Mieder, und hatte Bänder und Schleifen im Haar. Die weiße Strumpfhose und die Lackschuhe passten wunderbar dazu. Ich betrachtete mich im Spiegel und gefiel mir ausnehmend gut. Und obwohl ich schon des Öfteren die Kleider meiner Schwester angelegt und mir damit gefallen hatte, war es diesmal noch besser: Denn ich konnte nun der ganzen Welt zeigen, was für ein hübsches Mädchen ich war.
Das Kostüm sah so aus, als würde es mein wahres Selbst zur Geltung bringen. Ich drehte mich hin und her, zupfte an den Bändern und warf mir lächelnd kokette Blicke über die Schulter zu. Innerlich klatsche ich dabei in die Hände. Damals bereits ahnte ich, was ich heute mit Sicherheit weiß: Die Körper enden nicht mit der Haut, sondern an der Außenseite ihrer Gewänder; und so verlängert finden sie sich wieder im Auge des Betrachters. Die Bubensachen ließen mich jedenfalls meinen "Fremdkörper" spüren.
Meine Eltern kamen herein. Mutter war als Katze verkleidet und bewegte sich mit seltsamen Verrenkungen so vorwärts, wie sie es für katzenartig hielt. Vater wandte den Blick von ihr ab. Er beobachtete mit Verwunderung mein Spiegelbild und meinen selbstverliebten Blick. Mit einem Mal schien ihm etwas über mich...
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