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(2023)
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat Europa in seinen Grundfesten erschüttert. Alte Ängste und Vorurteile kommen hoch, die wir längst für überwunden hielten. Wir müssen nun erkennen, dass wir sie bloß verdrängt haben, weil uns das bequemer erschien, als uns gründlich mit ihnen und ihren Ursprüngen auseinanderzusetzen. Ein Blick zurück mag schmerzlich sein, doch er kann helfen, manches zu verstehen, womit wir jetzt konfrontiert sind.
Mir kommt dabei eine frühe Reise in den Sinn, die ich 1960 nach Prag unternahm. Ich fuhr mit der Bahn von Linz nach Ceské Budejovice/Budweis, wo ich in den Zug nach Prag umstieg. In diesem Zug kontrollierte eine junge Frau in Uniform, mollig, blond und hübsch, die Fahrkarten. In Österreich waren Frauen als Zugschaffnerinnen zu jener Zeit noch undenkbar.
Der Zug war leer und die junge Frau setzte sich zu mir. Sie sprach nur gebrochen Deutsch und ich kein Tschechisch, trotzdem unterhielten wir uns hervorragend. Wir lachten und schäkerten, und als sie den Zug verließ, gab ich ihr ein paar Bananen und eine Schachtel Zigaretten, die ich, obwohl selber Nichtraucher, für solche Gelegenheiten mitgenommen hatte. Sie bedankte sich mit einem Kuss auf die Wange.
Ich kam mir großartig vor. Ein Bote aus einer schöneren, besseren Welt, der hier, in einem Land, wo alles aus dem Westen bewundert wurde, Gaben verteilte und dafür Dankbarkeit erntete. Erst Jahre später dämmerte mir, dass ich mich benommen hatte wie ein Idiot, wie ein großspuriger Angeber, der sich als Wohltäter aufspielte.
Diese paternalistische Attitüde in Bezug auf die Menschen in Osteuropa, das wir so pauschal wie diffamierend Ostblock nannten, hat sich im Westen jahrzehntelang erhalten, manchmal bis heute, obwohl der sogenannte Ostblock längst verschwunden ist. Begleitet wurde diese überhebliche Sicht von der Überzeugung, die Menschen drüben, hinter dem Eisernen Vorhang, hätten ihre Misere selber verschuldet, denn sie seien nicht bereit, ihre beklagenswerte Situation aus eigenem Antrieb zu ändern. Dass sie zu Opfern der Geschichte geworden waren, auf die sie keinen Einfluss hatten, nahmen wir nur ungern zur Kenntnis.
Auf diese Weise entwickelten wir gegenüber unseren östlichen Nachbarn ein Überlegenheitsgefühl, gepaart mit Verachtung, das die gegenseitigen Beziehungen auf Jahre hinaus vergiftete.
Dass unsere Beziehungen zu den Ländern im Osten historisch schwer belastet sind, wird bis heute gern ausgeblendet. Dabei ist unbestritten, dass Deutsche und Österreicher in diesen Gebieten im 20. Jahrhundert grausam gewütet haben. In keinem anderen Teil Europas wurden ganze Bevölkerungsgruppen so systematisch und brutal entwurzelt und hin und her getrieben, von Osten nach Westen und umgekehrt. Vertreibungen, Deportationen und sogenannte Säuberungen, denen Zehntausende zum Opfer fielen, waren an der Tagesordnung.
Die Tatsache, dass unsere Väter und Großväter zu den Tätern gehörten, verantwortlich für die schlimmsten Verbrechen, voran den Holocaust, wurde lange verschwiegen oder geleugnet. Nach 1945 setzte eine kollektive Amnesie ein, und unser Land wurde zu einem unrühmlichen Beispiel für einen schlampigen Umgang mit der Vergangenheit, geprägt von Selbstzufriedenheit und Verdrängung. Keiner wollte von den Schandtaten gewusst haben, nicht einmal die Täter selber. Wir haben uns rasch daran gewöhnt, kurz nach einer alle Dimensionen sprengenden Katastrophe wieder in einer angeblich heilen und sicheren Welt zu leben. Ohne Schuldgefühle. Das Rezept war ganz einfach: Es galt, Schweigen über die düstere Vergangenheit zu breiten. Wer gegen dieses Gebot verstieß, wurde als Störenfried diffamiert.
Das fiel umso leichter, als die am schlimmsten heimgesuchten Länder nach Kriegsende hinter dem Eisernen Vorhang verschwanden. Eine Folge war eine tiefe Entfremdung zwischen den Menschen im Osten und Westen, die bis heute nachwirkt. Es dauerte lange, bis wir damit begannen, die tiefen Gräben zu überwinden. Doch heute stellt sich die Frage, ob das wirklich gelungen ist. Ist es nicht so, dass die ehemaligen Gegensätze nach wie vor existieren und nur kurzfristig übertüncht wurden?
Es ist nicht elegant, sich selber zu zitieren, doch ich will hier eine Ausnahme machen. 2005 habe ich im Vorwort des von mir herausgegebenen Essaybandes "Sarmatische Landschaften. Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland" geschrieben: "Ignoranz, Unkenntnis, Desinteresse gegenüber allem, was man oberflächlich als 'den Osten' bezeichnet, und dazu eine ordentliche Portion Angst und Misstrauen - dieses Gemisch gab seit jeher den Mörtel für die Mauern ab, hinter denen sich die Menschen gegen die anderen, die dort drüben, die aus dem Osten abgrenzten."
Das scheint mir noch heute zu gelten. Natürlich hat sich seit damals vieles geändert, Grenzen sind verschwunden oder durchlässiger geworden, Konflikte wurden beigelegt, allerdings oft nur oberflächlich, wie sich jetzt herausstellt. Manchmal hat man den Eindruck, es sei ein schier aussichtsloses Unterfangen, alte Vorurteile und Klischees in Bezug auf die Anderen, die wir als Fremde, häufig als Feinde betrachten, bleibend zu überwinden.
Eine unabdingbare Voraussetzung dafür erscheint mir die Bereitschaft, Unwissen abzubauen und uns kundig zu machen, auch und vor allem in Bezug auf die Länder im östlichen Mitteleuropa, um nicht den heiklen Begriff Osteuropa zu verwenden. Die politischen Entwicklungen, das Erstarken autokratischer Tendenzen bis hin zur Errichtung offener Diktaturen in Russland und Belarus, erweisen sich als ernsthafte Hindernisse auf diesem Weg. Wir müssen uns den Vorwurf machen, uns zu lange in Sicherheit gewiegt und die Augen vor der Realität verschlossen zu haben.
Als ein Beispiel für diese Realitätsverweigerung mag die ungläubige Überraschung gelten, mit der die meisten Menschen im freien Europa, auch Politiker, auf den Angriffskrieg Russlands reagierten. Die Ukraine blieb für viele nach der Ausrufung ihrer Unabhängigkeit 1991 weiterhin eine Terra incognita, von der man kaum etwas wusste und, Hand aufs Herz, noch weniger wissen wollte. Existiert sie überhaupt als unabhängiges Land mit eigener Geschichte, Kultur und Sprache? Diese tiefsitzende Ignoranz gilt noch mehr für Länder wie Belarus oder die Republik Moldau.
Es ist eine tragische Ironie des Schicksals, dass diese Länder erst in unser Blickfeld rücken, wenn sie von schweren Krisen oder gar Kriegen heimgesucht werden. Das zeigt das Beispiel der Ukraine. Putin erklärt unverblümt seine Entschlossenheit, das Land zu vernichten und mit ihm alle Menschen, die nicht bereit sind, sich seinen wahnwitzigen Plänen unterzuordnen. Er spricht der Ukraine jedes Existenzrecht ab und sagt, es gebe das Land mit eigener Identität und Kultur gar nicht, es habe es nie gegeben, die ukrainischen Gebiete seien immer Teil des Russischen Reichs gewesen und müssten wieder in jenes Großrussische Reich zurückgeholt werden, das er wiederzuerrichten verspricht.
Der von Putin vom Zaun gebrochene Krieg, der in Russland nicht einmal so genannt werden darf, hat nicht erst im Februar 2022 begonnen, sondern spätestens 2014, als Putin die Krim annektierte und die Separatisten im Donbas aktiv dabei unterstützte, sich von der Ukraine abzuspalten.
Schon 2005 bezeichnete der Kremlherr in einer Rede den Zerfall der Sowjetunion als "die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts", wobei die Absicht herauszuhören war, in Russland wieder eine totalitäre Ordnung unter seiner unbestrittenen Führung zu errichten. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist nur ein logischer Schritt in diese Richtung, denn Putin weiß, dass er die Wiedererrichtung eines Großrussischen Reichs nur erreichen kann, wenn es ihm gelingt, die Gebiete der Ukraine, Heimat der Kiewer Rus, auf die sich das heutige Russland zurückführt, zu erobern und ihrer Selbständigkeit zu berauben.
Also Krieg. Ein Krieg, von dem viele hierzulande anfangs meinten, er gehe uns nichts an, denn er werde anderswo geführt, in einer Welt, die uns völlig fremd erscheint. Wir schauen hin und registrieren mit Schrecken die unerträglichen Bilder von den Opfern und Zerstörungen. Einzig die Tatsache, dass der Krieg scheinbar weit weg ist, vermag uns einigermaßen zu beruhigen. Doch ist der Krieg tatsächlich so fern? Entspricht diese Einschätzung nicht einem Wunschdenken, das die Realität ausblendet? Immerhin liegt das ehemals österreichische Lemberg/L'viv, von den Russen mit Raketen beschossen und bombardiert, näher zu Wien als Bregenz. Dazu setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass sich der Krieg nicht nur gegen die Ukraine richtet, sondern gegen das gesamte freie Europa. Trotzdem mehren sich in unseren Ländern die Stimmen, die die Ukraine auffordern, den Dialog mit dem Aggressor zu suchen und Verhandlungen aufzunehmen. Auch manche österreichischen und deutschen Intellektuellen, die sich bisher kaum mit der Ukraine beschäftigt haben, fühlen sich mit einem Mal berufen, die überfallene Ukraine aus sicherer Entfernung aufzufordern, Verhandlungen mit dem Aggressor zu suchen, auch wenn das mit Kompromissen verbunden sein mag, die unweigerlich Gebietsverluste bis hin zum Verlust der Unabhängigkeit mit sich bringen würden.
Die Geschichte wiederholt sich nie eins zu eins, doch es erscheint legitim, an dieser Stelle an die maßlosen Forderungen Hitlerdeutschlands zu erinnern. Auch damals meinten anfangs viele, man müsse dem Aggressor entgegenkommen, wenn nötig durch großzügige Kompromisse auf Kosten Schwächerer. Appeasement lautete...
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