Schweitzer Fachinformationen
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Der Junge im Heck des Motorbootes lacht.
Der Himmel zinngrau, es sieht nach Regen aus.
Michael Starling, dreiunddreißig, sitzt im Angelboot seines Vaters und blickt auf das andere Boot, das Kind, die Bucht - das Wasser, das ihm nie gehören wird, weil seine Eltern das Haus verkaufen wollen.
Gestern sind sie angekommen - Michael mit Diane, Thad mit Jake - und haben es erfahren: Richard und Lisa Starling werden sich nicht an diesem See zur Ruhe setzen. In einer Woche wird das Sommerhaus verkauft, damit die Eltern ihren Lebensabend auf irgendeinem Streifen Strand in Florida verbringen können, mit Margaritas, Sand und allerlei Zeug, das überhaupt nicht zu den Starlings passt.
Die Entscheidung sieht Michaels Eltern nicht ähnlich. Sie sind einstige Hippies, Akademiker, kein Florida-Volk. Die beiden lieben kalte Bergseen und klare Flüsse, Bäume, deren Laub sich im Herbst färbt. Den Sommer verbringen die Starlings seit Langem unter dem Sternenhimmel von North Carolina, in dem Mobilheim, das die Familie liebevoll unsere Blockhütte in der Wildnis getauft hat.
Was ist nur aus Michaels Eltern geworden? Wer sind die zwei närrischen Alten, die an diesem Sommertag mit Schwimmringen im stillen Wasser des Lake Christopher herumplanschen?
Am Ufer stochert ein Reiher im Schilf nach Fischen. Wolken sind aufgezogen, verdecken die Sonne.
Ein Vormittag am See - Sandwiches, Schwimmen -, das war der Plan der Starlings, bevor der Eindringling auftauchte, ein großes Motorboot, das die Oberfläche mit schäumendem Kielwasser zerschlitzte, obwohl das hier verboten ist. Viel zu nah wurde Anker geworfen, dann riss der Mann am Steuer seine Kappe - eine Kapitänsmütze! - vom Kopf und schwenkte sie johlend. Spuckte ein Stück Kautabak ins Wasser und stellte dröhnend laute Musik an.
Das gehört sich nicht hier am See. Das sind miserable Manieren.
Lake Christopher ist kein Partysee, und an den Ufern geht es ruhig zu. Wer hier schon lange lebt, setzt sich hartnäckig dafür ein, dass das so bleibt. Seit Jahrzehnten wehrt man sich gegen die geplante Erschließung und hat zwei Enteignungsoffensiven - eine private, eine von staatlicher Hand - erfolgreich abgeschmettert.
Von dem penetranten Gefährt mit der rosa Aufschrift »Partyboot« dröhnt ein Countrysong herüber. Die Pontons des Bootes glänzen grau unter grauem Himmel.
Michaels Vater scheint sich von alldem nicht gestört zu fühlen. »Kommt ins Wasser!«, ruft er dem Mann mit der Kapitänsmütze zu. Alle springen von Bord, bis auf den Jungen (Ohrenentzündung, ein Jammer, ruft die Mutter Richard zu) und die ältere Schwester, die auf den Kleinen aufpassen soll. Doch kurz darauf liegt sie unterm Sonnendach, Augen zu, Earbuds in den Ohren.
Michael beobachtet den Jungen und sehnt sich nach einem Drink.
Der Kleine mag vier oder fünf sein. An seinen Oberarmen sitzen Schwimmflügel, orange wie Halloween-Kürbisse. Er läuft zum Außenbordmotor und hockt sich breitbeinig darauf, ein Jockey in silbrigen Badeshorts. Sein Pferd hört auf den Markennamen Evinrude, das glitzernde Wasser ist die Rennbahn. »Hü-hott!«, schreit der Junge.
Manch einer hätte das niedlich gefunden. Michael nicht.
Die Schwimmflügel sind aufgeplustert wie Blutdruckmanschetten. Eine Hand lässt die imaginären Zügel los und versenkt sich in die Tüte Cheetos auf dem Schoß. Der Junge späht zu seiner Schwester hinüber, die Eltern schwimmen etwa fünfzig Meter entfernt. Michael folgt seinen Blicken, und als er wieder auf den Jungen schaut, sieht er einen Finger, grellorange vom Käsefarbstoff. Es ist ein Mittelfinger, und er ist in Michaels Richtung gereckt.
Er schließt die Augen. Wieso beobachtet er dieses Kind? Er mag Kinder überhaupt nicht. Als er die Augen wieder öffnet, streckt der Junge ihm die Zunge heraus.
Hey, würde Michael den achtlosen Eltern gern zurufen, euer missratener Sohn zeigt mir den Stinkefinger, und eure missratene Tochter pennt.
Eigentlich sollte er auch schwimmen, aber er hat Fledermäuse im Kopf. Sobald er nüchtern ist, flattern sie dort wild herum. Echoortung unter den Augenlidern. Er bräuchte dringend Wodka, hat aber beim Aufwachen nur einen leeren Orangensaftkrug vorgefunden und keinen Alkohol an Bord schmuggeln können. Seine Familie ist ziemlich tolerant, aber Wodka vor dem Lunch geht zu weit.
Der Junge schüttet sich den Rest der Chips in den Mund, jetzt sind auch Gesicht und Brust orange. Dann schmeißt er die Tüte in den See und starrt zu Michael hinüber, wartet auf die Reaktion.
Von einem Kind provoziert zu werden ist eine neue Erfahrung für Michael. Und er würde sehr gern darauf verzichten.
Er stützt den Kopf in die Hände. Sein Schnapsschrank in Texas fehlt ihm, sein Haus nicht. Er ist lieber hier. An diesem See hat er seit seinem zweiten Lebensjahr jeden Sommer verbracht. Wenn er überhaupt irgendwo innerlich zur Ruhe kommt, dann hier.
Der Junge kniet jetzt auf dem Außenbordmotor und späht ins Wasser.
Die Familie ist nicht von hier, vermutet Michael. Aber Touristen leihen sich Boote aus, und das hier ist kein Leihboot. Diese Pontonschüssel ist ein Avalon Ambassador, dafür blättert man locker neunzigtausend Dollar hin. Dagegen wirkt das Angelboot der Starlings, ein Sechssitzer, wie Tom Hanks' Holzfloß in Verschollen. (Michaels Vater hat das Familienboot Seekuh getauft und den Namen mit blauer Fassadenfarbe draufgepinselt. Jetzt, dreißig Jahre später, ist nur noch »kuh« übrig.) Nein, diese Leute - die Mutter mit der Dolce-&-Gabbana-Sonnenbrille, der Vater mit der Kostümkapitänsmütze - sind weder Einheimische noch Urlauber. Das sind eindeutig frischgebackene Besitzer eines Seeanwesens, sie weihen gerade das neue Spielzeug ein, das sich der Kapitän zur Midlife-Crisis selbst geschenkt hat. Vermutlich hat die Frau noch die Preisschilder von den Badehandtüchern abgeschnitten, während das Boot schon die Bucht ansteuerte.
Laute Menschen, die mit ihrem Wohlstand laut herumprotzen. Für Michael verkörpern solche Leute alles, was 2018 mit den USA nicht stimmt.
Bässe wummern, Gitarren kreischen. Kann bitte endlich jemand Jimmy Buffett seinen verfluchten Cheeseburger ins Paradies bringen?
Der Reiher am Ufer stößt zu, erbeutet aber nur Schlamm.
Das Mädchen, das auf den kleinen Bruder aufpassen soll, schläft. Teenager im Bikini, Fitnessfigur, honigbrauner Teint. Diane war etwa in diesem Alter und auch so schlank, als Michael sie vor fünfzehn Sommern in dieser Bucht kennenlernte.
Der Junge geht auf dem Motor in die Hocke. Die Schwester bewegt sich im Schlaf, und Michael fällt auf, wie groß der Altersunterschied zwischen den beiden ist. Der Kleine könnte ein Missgeschick gewesen sein.
Das erste Kind überschüttet man mit Liebe. Die folgenden ziehen sich selbst groß, hat er mal gehört.
Michael will gar keines. Das war die Abmachung. Und zwar von Anfang an.
Diane liegt in einem Schlauchboot auf dem Rücken, treibt auf dem blauen Wasser. Man sieht es ihrem Bauch noch nicht an, obwohl Michael manchmal schwören könnte, dass sich die Konturen verändern, dass sie schon dicker geworden ist. Seine Frau ist beileibe nicht dick, aber auch nicht mehr so schlank wie dieses Mädchen auf dem Pontonboot. Er wünschte, sie wäre es noch, weiß aber, dass er dafür heutzutage irgendein Schlagwort mit Hashtag verpasst bekäme. Er will nicht so einer sein, der sich eine schlanke junge Frau wünscht. Aber der Wunsch geht nicht weg, nur weil er »so einer« nicht sein will. Ihm fehlt die Jugend, seine eigene und die seiner Frau.
Ist er deshalb sexistisch? Seine Mutter würde das wohl bejahen, sein Vater verneinen. Seinem Bruder Thad wäre es egal, und Jake würde das Thema gar nicht verstehen. Jake, Thads reicher, attraktiver, schlanker Partner, ist jung und naiv. Er lebt in New York und malt Bilder für andere reiche, attraktive, schlanke Menschen, die in New York leben. Michael kommt es so vor, als interessiere Jake an seinen Mitmenschen lediglich, ob sie bereit sind, die Dollarbeträge zu berappen, die an seinen Gemälden stehen.
Jake und Thad werfen sich im Wasser einen Fußball zu. Michaels Vater und der Kapitän lachen lauthals, Schwimmnudeln ragen zwischen ihren Beinen auf, rot und obszön. Die Mütter treten Wasser und unterhalten sich, Diane treibt in ihrem Schlauchboot neben ihnen.
Das Mädchen auf dem Pontonboot setzt sich auf und sagt etwas zu dem Jungen, das Michael wegen des Radaus nicht versteht. Dann tippt das Mädchen auf seinem Handy herum, lässt es sinken, legt sich wieder hin und schließt die Augen.
Diane würdigt Michael keines Blickes.
Fünfzehn Jahre lang waren sie glücklich zusammen. Ziemlich glücklich jedenfalls. Zufrieden zumindest, bis Diane alles auf den Kopf gestellt hat. Menschen verändern sich eben, hat sie gesagt. Michael weiß nicht, ob das stimmt. Hat Diane sich wirklich verändert oder ihn hinters Licht geführt? Hatte sie das von Anfang an so geplant?
Er geht zum Steuer und schaltet den Fischfinder ein. Der See ist hier achtzehn Meter tief. Bei fünfzehn Metern treibt etwas Großes, Graues über den Bildschirm, ein Wels vielleicht oder ein Ast, der sich in Algen verfangen hat.
Michaels Mutter rückt ihren breitkrempigen Sonnenhut zurecht - den Antikrebshut, wie sie ihn gern nennt -, aber Michael findet diese bemühte Lockerheit furchtbar. Wahrscheinlich erzählt sie gerade von ihrem überstandenen Hautkrebs. Und dann Florida? Im...
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