Schweitzer Fachinformationen
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Leipzig, Augustusplatz. Vor der Oper
Hanna Seiler zuckt zusammen, als es an der Scheibe klopft. Sie steckt ihr Handy weg, ringt sich ein Lächeln ab und hebt den Kopf. Dann muss sie wirklich lächeln, denn statt wie erwartet Novic zu erblicken, sieht sie nur eine überdimensionale verspiegelte Sonnenbrille. Darin erkennt sie sich selbst. Beinahe in Lebensgröße. Die Gläser lassen das Gesicht ihres Kollegen aussehen wie das eines riesigen Insekts.
Novic läuft um das Auto herum, wobei er die Arme an den Körper presst, was dem komischen Anblick irgendwie die Krone aufsetzt. Aus dem Insekt ist jetzt eine Art Taubenmensch geworden. Allerdings trägt er keine Mütze heute, was Seiler einigermaßen seltsam findet. Sie beugt sich über den Beifahrersitz und öffnet ihm die Tür. Kurz darauf lässt er sich neben ihr in die Polster fallen. Hastig schließt er die Tür und schnappt nach Luft, als hätte er die Luft angehalten, bis er das sichere Innere des Autos erreicht hat.
»Morgen, Milo«, sagt Seiler, und er nickt ein paarmal hastig in ihre Richtung, während er versucht, zu Atem zu kommen. »Schöne Brille.«
»Die Sonne scheint«, sagt Novic, Herald des allzu Offensichtlichen.
»Zum ersten Mal in diesem Jahr, wie?«
Er nickt, diesmal zur Scheibe raus. Als Seiler den Wagen startet und ausparkt, beginnt er sich zu entspannen.
»Wusste gar nicht, dass sie um diese Uhrzeit schon Vorstellungen in der Oper geben«, sagt Seiler.
»Tun sie nicht«, erklärt er knapp. »Generalprobe.«
»Und da darfst du zuschauen?«, fragt sie beeindruckt.
»Zuhören«, korrigiert er. »Es ist eine Oper.«
»Verstehe.«
»Der Tontechniker ist ein Freund von mir. Er bittet mich manchmal um Hilfe beim Sound.«
»Sieh an, Milo Novic, ein Mann vieler Talente«, witzelt Seiler.
»Wir haben uns über eine Annonce in der Zeitung kennengelernt.«
Jetzt muss Seiler kichern. »Was? Wer?«
»Der Ulrich und ich. Ulrich ist der leitende Tontechniker des Opernhauses. Er wollte ein Paar Geithain RL 900 verkaufen. Das sind Hi-Fi-Boxen.«
Ja, genau. Novic und sein anderer Fimmel.
»Und das war der Anfang einer wundervollen Beziehung zwischen euch beiden.«
»Ja. Ich habe ihm die Boxen nicht abgekauft. Die sind riesengroß, und ich glaube, er wollte sie gar nicht wirklich loswerden. Manchmal treffen wir uns und hören gemeinsam Opern an. Auf seinen Geithain.«
»Und blättert dabei verträumt in alten Rundfunkzeitschriften. Süß.«
»In Hi-Fi-Magazinen«, korrigiert Novic.
Wieder mal hat Seiler keine Ahnung, ob er sie gerade auf den Arm nimmt. Aber die Vorstellung bringt sie zum Schmunzeln. Was allerdings auch an der Sonne liegen könnte. Man sieht es dem Thermometer nicht an, aber es ist ein verdammt schöner Tag. Zumindest bis jetzt.
»Wie lange darf ich dich eigentlich noch herumkutschieren, Milo?«, erkundigt sie sich, während sie sich in den morgendlichen Berufsverkehr einfädelt. Sogar der scheint heute flüssiger zu laufen als sonst.
»Übermorgen soll sie fertig sein«, erwidert er. »Der Mechaniker klang sehr zuversichtlich.«
»Zuversichtlich, ja?«, wiederholt sie grinsend. »Dir ist aber schon klar, dass die dich da ohne Ende abzocken, oder?«
»Der Preis ist in Ordnung«, behauptet er.
»Mag sein. Aber irgendwie steht der Wagen öfter in der Werkstatt als auf der Straße, findest du nicht? Und dabei kann deiner nicht mal fliegen.«
Gemeint ist Novics alter Citroën DS. Ein Modell, das eine gewisse Berühmtheit dadurch erlangte, dass es dem damaligen französischen Präsidenten Charles de Gaulle das Leben rettete, indem es nach einem Attentat auf den Felgen der zerschossenen Räder einfach weiterfuhr. Und durch die Fantomas-Filme mit Louis de Funès, in denen der geniale Maskengauner damit durch die Gegend geflogen war. Seiler hat das recherchiert, nach einer entsprechenden Lektion seitens ihres Kollegen.
»Sie ist ein sehr guter Wagen.«
»Sie?« Seiler konzentriert sich mit hochgezogener Augenbraue auf den Verkehr. Und darauf, nicht allzu sehr zu grinsen.
»DS«, erklärt Novic mit einem Anflug von Ungeduld. »Déesse. Das bedeutet >Göttin<, auf Französisch. Daher ist sie weiblich.«
»Das erklärt es natürlich«, sagt Seiler.
»Es ist wegen der Hydropneumatik«, führt Novic aus. »Das ist ziemlich kompliziert. Der Hub und die Bremsen, alles hängt da dran, und die Leitungen sind ziemlich anfällig. Das Alter macht ihnen zu schaffen.«
»Verstehe«, lügt Seiler. »Und mal einen neuen Wagen kaufen, wie wäre das?«
Novic starrt sie an, als habe sie ihm soeben vorgeschlagen, dass er, wenn er das nächste Mal Hunger verspürt, doch einfach seinen linken Arm abhacken und verspeisen könnte. Jetzt muss sie doch ein bisschen grinsen. Das ist fast noch besser als die ersten Sonnenstrahlen.
»Was ist denn eigentlich los?«, fragt Novic nach einer Weile. »Der Reuter klang mal wieder, als sei es furchtbar dringend. Aber das tut er ja immer.«
Inzwischen haben sie fast die Stadtgrenze erreicht, und das, zugegeben, in eine Richtung, in der sie nur selten dienstlich unterwegs sind. Die Häuser werden weniger, die Zwischenräume größer. Ein paar Bäume hier und da.
»Weiß glaubt, er habe den Guido Ehrlich gefunden«, sagt Seiler.
»Chef des Liegenschaftsamts, seit Tagen vermisst«, murmelt Novic, und Seiler nickt anerkennend. Offenbar liest Novic also doch gelegentlich die Zeitung.
»Genau genommen heißt es Amtsleiter und nicht Chef, aber ja, um genau den geht's.«
»Und jetzt wird er nicht mehr vermisst«, sagt er.
»Nein.« Sonst hätten sie nicht unser Dezernat verständigt. »Weiß sagt, sie hätten seinen Ausweis bei ihm gefunden. Man hat die Leiche noch recht gut identifizieren können.«
»Hm«, macht Novic und schaut zum Fenster hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft, der die Häuschen am Stadtrand nun allmählich weichen. Lange Sonnenstrahlen funkeln verführerisch durch die Äste scheintoter Bäume.
Seiler glaubt, ein paar erste grüne Triebe zu erkennen, aber vielleicht bildet sie sich das nur ein.
»Dieser Ehrlich hatte wohl eine Menge Bewunderer?«, fragt Novic und guckt weiter der vorbeiziehenden Landschaft beim zögerlichen Erblühen zu.
»Was man so hört«, bestätigt Seiler. »Er soll sich für eine Menge unbequemer Dinge starkgemacht haben. Problematische Jugendliche, Drogensüchtige, Flüchtlinge, so was eben.«
»Merkwürdige Aufzählung«, findet Novic.
Sie nickt. »Alles Dinge, die die meisten Politiker höchstens mal für den Wahlkampf nutzen, wenn gerade kein Baby zum Küssen zur Hand ist. Und dann möglichst schnell wieder vergessen, sobald sie im Amt sind. Aber Ehrlich war da anders. Habe ich zumindest gehört.«
»Ah«, sagt Novic. »Ein Idealist.«
»Und dein Problem damit ist .?«
»Idealisten«, sagt Novic und wendet sich Seiler zu, mit seiner komischen Brille, die nun gar nicht mehr so komisch wirkt, sondern einfach nur daneben. »So fängt es meistens an. Weil es immer die Idealisten sind, denen die Leute folgen. Und dann gib einem Idealisten ein bisschen Macht und setz ihm die Idee in den Kopf, dass er mit dieser Macht etwas verändern kann am Weltgefüge. Ein paar Jahre später hast du einen Stalin, einen Mao, einen Nicolae Ceau?escu. Oder einen Milosevic.«
»Oha«, sagt Seiler. »Milo Novic erklärt die hohe Politik.«
Daraufhin schweigt Novic.
»Wie geht's Romana?«, erkundigt sie sich dann, um das Thema zu wechseln.
»Gut, glaube ich. Ich werde sie mal fragen, ob sie diesen Ehrlich kannte, wenn ich sie demnächst sehe. Wo sie doch eine von den Problemjugendlichen ist und außerdem ein Flüchtling.«
»Gott, haben wir eine Laune heute, Milo.«
Lange erwidert Novic nichts, dann: »Entschuldige. Das hab ich nicht so gemeint. Es ist nur .«
»Du kannst Politiker nicht leiden, schon kapiert.«
»Nein«, sagt Novic. »Nicht Politiker. Politik.«
Seiler nickt und verkneift sich die Bemerkung, dass sie beide, Beamtenstatus und das alles, vielleicht auch ein bisschen zu diesem Zirkus gehören, der sich Politik nennt. Der eine mehr, der andere weniger.
»Dein Lippenstift, Hanna«, sagt Novic unvermittelt.
»Was?«
»Er ist ein bisschen verschmiert.«
Seiler wirft einen Blick in den Rückspiegel. Er hat recht.
Mist.
»War ein bisschen in Hektik heute Morgen«, sagt sie hastig. »Jonas hat krank gespielt, weil sie heute irgendeine Arbeit schreiben müssen und . Na ja, du kennst ihn ja.«
Im selben Moment bekommt sie Gewissensbisse, weil sie ihren Sohn vorschiebt, der mit dem Lippenstift überhaupt nichts zu tun hatte und in Wahrheit ausgesprochen gern zur Schule geht, wie ihr Kollege nur allzu gut weiß. Er muss zumindest ahnen, wodurch sich ihr Lippenstift gelegentlich verschmiert, schließlich ist er kein Idiot. Er kann sich denken, dass sie auch nach Franz' Tod gewisse Bedürfnisse hat. Was er allerdings nicht weiß, ist .
»Milo, ich .«, beginnt sie, dann bricht sie den Satz ab. Die verbleibende Fahrzeit würde nicht ausreichen, um das zu erklären. Vermutlich nicht mal, wenn sie dabei um den halben Globus düsen würden. Sie kann es sich ja noch nicht mal selbst erklären.
Novic nickt nur, dann guckt er wieder zum Fenster...
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