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KAPITEL 1
Queichhambach bei Annweiler im Wasgau,
21. März, Anno Domini 1524
er Junge, dem der Henker die Schlinge um den Hals legte, war nicht älter als Mathis. Er zitterte am ganzen Körper, und dicke Tränen rannen ihm über das von Rotz und Dreck verschmierte Gesicht. Von Zeit zu Zeit würgte der Knabe ein Schluchzen hervor, ansonsten schien er sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben. Mathis schätzte, dass er vielleicht sechzehn Sommer zählte, ein erster Flaum spross um seine Lippen. Vermutlich hatte der Junge ihn mit Stolz getragen und versucht, die Mädchen damit zu beeindrucken, doch nun würde er ihnen nie wieder hinterherpfeifen. Sein kurzes Leben war vorbei, ehe es richtig begonnen hatte.
Die beiden Männer neben dem Knaben waren um einiges älter. Ihre Hemden und Beinlinge waren schmutzig und zerrissen, das Haar stand ihnen wirr vom Kopf, und sie murmelten lautlose Gebete. Alle drei standen auf schiefen Leitern, die an einem von Sturm und Regen stark verwitterten Holzbalken lehnten. Der Queichhambacher Galgen war fest und massiv gebaut, seit vielen Jahrzehnten fanden hier die Hinrichtungen der Gegend statt. Und in letzter Zeit waren es mehr und mehr geworden. Die vergangenen Jahre hatten zu kalte Winter und zu trockene Sommer gebracht, die Pest und andere Seuchen waren über das Land gezogen. Hunger und die drückenden Abgaben hatten viele der Pfälzer Bauern in die Wälder getrieben, wo sie sich Räuberbanden und Wilderern anschlossen. Auch die drei dort vorne am Galgen waren auf frischer Tat beim Wildern erwischt worden, nun wurde die dafür vorgesehene Strafe an ihnen vollstreckt.
Mathis hielt sich ein wenig abseits der gaffenden Menschenmenge, die sich an diesem verregneten Vormittag zur Hinrichtung versammelt hatte. Der Galgenhügel befand sich gut eine Viertelmeile entfernt vom Ort, jedoch nahe genug an der Straße nach Annweiler, dass Reisende ihn gut sehen konnten. Eigentlich hatte Mathis nur dem Queichhambacher Dorfvogt ein paar Hufeisen gebracht, die dieser bei Mathis' Vater, dem Trifelser Burgschmied, bestellt hatte, doch auf dem Rückweg war er am Galgenhügel vorbeigekommen. Er wollte schon weitergehen - schließlich war heute sein freier Tag, und er hatte noch etwas Bestimmtes vor -, aber angesichts der vielen Menschen, die mit angespannten, verhärmten Gesichtern im eisigen Regen auf die Hinrichtung warteten, siegte die Neugierde. Also blieb er stehen und beobachtete den Schinderkarren, auf dem die drei Gefangenen der Hinrichtungsstätte entgegenfuhren.
Mittlerweile hatte der Henker die Galgenleitern aufgestellt und die drei armen Sünder wie Schlachtvieh zum Balken hinaufgezerrt, wo er einem nach dem anderen die Schlinge um den Hals legte. Als es schließlich so weit war, senkte sich ein tiefes Schweigen über die Menge, nur unterbrochen durch das gelegentliche Schluchzen des Jungen.
Mit seinen siebzehn Jahren hatte Mathis bereits einige Hinrichtungen erlebt. Meist waren es Räuber oder Diebe gewesen, die gehenkt oder gerädert wurden, und die Leute hatten geklatscht und die zitternden Kreaturen noch am Schafott mit faulem Obst und Gemüse beworfen. Doch diesmal war es anders. Eine beinahe vibrierende Spannung lag in der Luft.
Obwohl es bereits Mitte März war, fanden sich auf den umliegenden Äckern noch zahlreiche Schneefelder. Fröstelnd beobachtete Mathis, wie die Menge sich widerwillig teilte, als nun der Annweiler Stadtvogt Bernwart Gessler gemeinsam mit dem feisten Gemeindepfarrer Pater Johannes auf die Anhöhe zuschritt. Es war offensichtlich, dass die beiden Herren sich Besseres vorstellen konnten, als an einem verregneten, nasskalten Frühlingstag drei Galgenvögeln beim Baumeln zuzusehen. Mathis vermutete, dass sie gerade noch bei ein paar Gläsern Pfälzer Wein in einer warmen Annweiler Wirtsstube gesessen hatten, doch als herzoglicher Stellvertreter war der Stadtvogt nun einmal für die hohe Gerichtsbarkeit in der Gegend zuständig, und nun galt es, Recht zu sprechen. Gessler stemmte sich gegen den Regen, der ihm in Böen ins Gesicht wehte, angestrengt hielt er sein schwarzsamtenes Barett fest, dann kletterte er auf den nunmehr leeren Schinderkarren.
»Bürger von Annweiler!«, wandte er sich mit lauter, hochfahrender Stimme an die Umstehenden. »Diese drei Burschen sind der Wilderei überführt! Sie sind nicht mehr als Vagabunden und Räuber und haben das Recht auf Leben verwirkt. Ihr Tod sollte uns allen eine Mahnung sein, dass Gottes Zorn furchtbar, aber auch gerecht ist!«
»Von wegen Räuber«, knurrte ein hagerer Bauer neben Mathis. »Den armen Schlucker ganz rechts kenn ich, das ist der Sammer Josef aus Gossersweiler. Ein ganz anständiger Knecht war das, doch dann konnte ihn sein Herr nicht mehr bezahlen, und er ist in die Wälder.« Er spuckte auf den Boden. »Was soll unsereins denn noch essen nach zwei verhagelten Ernten? Nicht einmal mehr Bucheckern gibt's im Wald. Der ist so leer wie die Mitgifttruhe meiner Frau!«
»Die Pacht haben sie uns auch schon wieder erhöht«, fiel ein zweiter Bauer brummend ein. »Und die Pfaffen leben in Saus und Braus, die kassieren trotz allem ihren Kirchenzehnten. Schaut nur, wie fett unser Pfarrer mittlerweile ist!«
Soeben ging der wohlbeleibte Pater Johannes mit einem einfachen Holzkreuz hinüber zu den Galgenleitern. Unter jeder von ihnen blieb er stehen und sprach mit hoher, leiernder Stimme ein kurzes lateinisches Gebet. Doch die Verurteilten über ihm schienen bereits in einer anderen Welt, sie starrten ins Leere. Nur der Junge schluchzte noch immer herzerweichend. Es klang, als riefe er nach seiner Mutter, aber niemand in der Menge antwortete.
»Kraft des mir vom Zweibrückener Herzog verliehenen Amtes befehle ich dem Scharfrichter, diese drei Missetäter ihrer gerechten Strafe zuzuführen!«, rief der Stadtvogt hinaus in die Menge. »Ihr Leben ist hiermit verwirkt!«
Er zerbrach einen kleinen Holzstab, und der Queichhambacher Scharfrichter, ein stämmiger Mann mit weiten Landsknechtshosen, Leinenhemd und Augenbinde, zog dem ersten Delinquenten die Leiter unter den Füßen weg. Der Mann zappelte eine Weile, sein ganzer Körper schwang hin und her wie ein außer Kontrolle geratenes Uhrpendel, ein nasser Fleck breitete sich auf seiner Hose aus. Während seine Bewegungen schwächer wurden, zerrte der Henker bereits an der nächsten Leiter. Ein weiterer wilder Tanz setzte ein, als der zweite Mann am Seil baumelte. Als der Scharfrichter sich schließlich dem Knaben zuwandte, ging ein Raunen durch die Menge. Nicht nur Mathis war aufgefallen, wie jung der Bursche war.
»Kinder! Ihr hängt Kinder!«, zeterte jemand. Mathis wandte sich um und sah eine verhärmte Frau, an deren Rockzipfeln zwei kleine rotznasige Mädchen hingen. Ein winziger Säugling schrie unter dem zusammengerollten Leinentuch, das sich die Frau auf den Rücken gebunden hatte. Sie schien nicht die Mutter des Jungen zu sein, trotzdem war ihr Gesicht rot vor Zorn und Entrüstung. »So was kann Gott nicht gewollt haben!«, schrie sie ihre Wut hinaus. »Kein gerechter Gott lässt so etwas zu!«
Der Henker zögerte, als er merkte, wie unruhig die Zuschauer wurden. Mit erhobenen Händen wandte sich der Stadtvogt Bernwart Gessler an die Menge. »Er ist kein Kind mehr!«, schnarrte er mit befehlsgewohnter Stimme. »Er wusste, was er tat. Und nun wird er dafür seine Strafe erhalten, das ist nur gerecht! Oder gibt es hier jemanden, der das anzweifeln will?«
Mathis wusste, dass der Vogt im Recht war. Schon Vierzehnjährige konnten in deutschen Landen gehenkt werden. Wenn sich die Richter über das Alter nicht sicher waren, wandten sie gelegentlich einen Trick an: Sie ließen den Knaben oder das Mädchen zwischen einem Apfel und einer Münze wählen. Nahm das Kind die Münze, galt es als schuldfähig - und wurde hingerichtet.
Trotz der klaren Worte des Vogts ließen sich die Menschen neben Mathis nicht einschüchtern. Murrend scharten sie sich enger um den Galgenhügel. Der zweite Gehenkte zuckte noch ein wenig, während der erste bereits still im Wind hin und her pendelte. Zitternd, noch immer den Strick um den Hals, blickte der Knabe von der Leiter hinab auf den Henker, der wiederum zum Stadtvogt hinüberstarrte. Es war, als würde die Zeit einen Augenblick stillstehen.
»Nieder mit den Ausbeutern! Nieder mit dem Zweibrückener Herzog und seinem Vogt, die uns wie Vieh hungern und verrecken lassen!«, erklang plötzlich ein weiterer Schrei. »Tod allen Herrschern!«
Stadtvogt Bernwart Gessler zuckte zusammen. Die Menschen brüllten und johlten, vereinzelt waren Hochrufe auf die drei Wilderer zu vernehmen. Unsicher sah Gessler sich um und versuchte den Rufer auszumachen, der da so offen zur Rebellion anstachelte.
»Wer war das?«, schrie der Vogt entrüstet gegen den Lärm an. »Wer ist so frech, sich gegen den von Gott eingesetzten Herzog und seine Diener zu stellen?«
Doch der Gesuchte war bereits wieder in der Menge untergetaucht, allerdings hatte Mathis noch einen kurzen Blick auf ihn erhaschen können. Es war der bucklige Schäfer-Jockel, der sich nun hinter eine Reihe Weiber duckte und von dort aus das weitere Geschehen beobachtete. Wieder einmal war seine Stimme eindringlich und auf eine seltsame Art aufrüttelnd gewesen. Mathis glaubte ein leises Lächeln auf Jockels Lippen zu sehen, dann versperrten ihm ein paar schimpfende Bauern die Sicht.
»Weg mit dem verfluchten Zehnten!«, verlangte nun ein anderer Mann in seiner Nähe, ein dürrer Alter, der sich an einen Stock klammerte. »Der Bischof und der Herzog sind fett und feist, und ihr hängt hier Kinder, die nicht wissen, was sie essen sollen! Was ist das nur für eine Welt!«
»Ruhig, bleibt ruhig, Leute!«, befahl der Vogt...
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