Schweitzer Fachinformationen
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Esras Anruf erreichte mich am Morgen des 19. Dezember. Ich hatte soeben meinen letzten Nachtdienst vor Weihnachten absolviert und spazierte gerade durch die Spielzeugabteilung des Kaufhofs an der Mönckebergstraße in Hamburg. Da lebte Wolle Küppers noch, wobei man bei seinem Zustand eigentlich nicht mehr von Leben in des Wortes radikalster Bedeutung sprechen konnte. Er lag im ehrwürdigen Johanna-Stift-Krankenhaus in Essen Huttrop und war zu diesem Zeitpunkt - es war etwa neun Uhr - bereits dreimal reanimiert worden. Jetzt lag er laut Esra in einem Koma, wobei sich die Ärzte anscheinend selbst nicht einig waren, ob es sich um ein echtes oder ein künstliches handelte.
"Was ist denn das für ein hirnloser Scheiß?", fragte ich. "So was weiß man doch! Ich meine, das ist ja wohl für die weitere Behandlung nicht komplett unwichtig!"
"Ich kann dir bloß sagen, was sie mir hier gesagt haben", meinte Esra, "und da war sowohl von Koma als auch von künstlichem Koma die Rede!"
"Vielleicht hast du nicht richtig hingehört oder so, immerhin ."
"Quatsch. Ich bin nicht blöd, Alter, hier erzählt dir jeder was anderes. Vielleicht haben sie ihn ins künstliche Koma gelegt, obwohl er schon im echten Koma lag!"
"Ach ja? Warum? Ich meine, wieso sollten sie so was tun? Damit er nur ja nicht wieder wach wird, oder wie?"
"Du wirst lachen, aber so was gibt's. Das macht man zur Sicherheit, damit er nicht aufwacht, wenn es gerade . na ja, ungünstig ist?"
"Wann um Himmels willen ist es denn ungünstig, aus dem Koma aufzuwachen? Bei Scheißwetter? Wenn gerade nichts Gutes im Fernsehen läuft?"
"Nein, du Dussel! Aber wenn sie ihn gerade operieren und aufschneiden oder sonst wie behandeln, zum Beispiel. Es war auf jeden Fall ein massiver Schlaganfall, so viel konnten sie mir immerhin sagen, ich meine, darüber waren sie sich alle einig."
Ich ließ mein Telefon vorübergehend vom Ohr runter auf die Brust sinken, sah in das bunte Kinderparadies ringsum, in dem es vor Weihnachtsmännern und Rentieren und elektronischem Spielzeugkram leuchtete und dudelte und blinkte wie seinerzeit im Maschinenraum der Enterprise, wenn Scotty dem Warp-Antrieb mit seinem Schraubenzieher zu Leibe rückte.
"Ein Schlaganfall also", dachte ich und überlegte kurz, wie alt Wolfgang "Wolle" Küppers war. Ich einigte mich mit mir selber auf 47 Jahre und stimmte mir auch in dem Punkt zu, dass das eigentlich kein Alter für Schlaganfälle war.
"Ja", sagte ich, "ich bin noch dran."
"Es war echt schlimm", fuhr Esra fort, "es kommen Millionen Schläuche aus ihm raus und außerdem hat er ."
"Ich schätze, die Schläuche gehen eher in ihn rein", sagte ich. Manchmal kann ich meine Klappe einfach nicht halten, auch wenn das, was ich dann sage, ziemlich unpassend ist.
"Herrgott, du blöder Klugscheißer! Jedenfalls waren da Schläuche ohne Ende und Monitore und so'n Zeugs. Ich geh heute Mittag noch mal hin, vielleicht wissen sie dann schon was. Er hatte so ein blödes Engelhemd an. Wusstest du, dass er tätowiert ist?"
"Nein", sagte ich nachdenklich.
"Er hat das blödsinnigste Tattoo, das du dir vorstellen kannst", sagte Esra. "Unter dem Schlüsselbein hat er dieses Symbol für Schurwolle und darunter steht 'Waschen von Hand'. Ist das nicht komplett bescheuert?"
Ich ließ das Telefon erneut sinken und trotz der erschütternden Nachricht musste ich lachen. Ich lachte verhalten und leise, aber doch so, dass eine junge Mutter mit einem krebsroten Baby auf dem Arm mich irritiert ansah. Und nicht nur sie, auch das krebsrote Baby sah mich irritiert an, was ausgesprochen gruselig war.
Ich nahm das Telefon wieder hoch.
"Ob du kommst, will ich wissen", sagte Esra. "Ich versuche auch noch, Vegas zu erreichen, wobei ich nicht genau weiß, ob das klappt. Vegas ist ja schwerstens zum Unternehmer und Familienmenschen mutiert. Aber wir vier, das war immerhin irgendwie . wir sollten noch mal zusammen zu ihm gehen, zusammen feiern, auf ihn anstoßen oder was auch immer!"
"Na", sagte ich, "noch lebt er ja. An einem Schlaganfall stirbt man nicht mehr so ohne Weiteres, da kann er ruhig massiv sein. Wieso kriegt er überhaupt einen Schlaganfall? Er ist noch keine fünfzig, Herrgott!"
"Na, vielleicht weil er geraucht und gesoffen hat wie ein Ketzer", schlug Esra vor, "und gekifft und Pillen geschmissen hat wie Pfefferminz ."
Natürlich hatte sie recht. Ich brummte etwas Zustimmendes und verzog mich in einen anderen Gang des Spielzeugparadieses, weil ich die Blicke des krebsroten Babys nicht länger ertragen konnte.
"Es ist gestern passiert, auf dem Weihnachtsmarkt in Rüttenscheid", sagte Esra. "Ich erzähl's dir, wenn du da bist. Du kommst doch, oder?"
"Logisch", sagte ich, ohne nachzudenken, "natürlich komm ich. Ich hab jetzt frei und bin eh gerade am Bahnhof, also ."
"Wie ist das Wetter in Hamburg?"
"Komplett beschissen, grau und nass! Und bei euch?"
"Haargenau das Gleiche! Schreib mir, wann du kommst, dann hole ich dich am Bahnhof ab, okay? Ich organisiere ein Zimmer für dich."
"Das ist super. Ciao! Und Kopf hoch, okay? Nützt ja nix!"
"Sag jetzt bitte nicht, dass Wolle ein Kämpfer ist oder so einen Scheiß, dann kotz ich durchs Telefon!"
"O Gott", machte ich, "dann natürlich nicht. Bis später dann!"
Erst als ich aufgelegt hatte, fiel mir ein, dass ich Esra nicht gesagt hatte, dass es guttat, ihre Stimme zu hören, trotz allem. Ich hatte nicht gesagt, dass ich mich darauf freute, sie wiederzusehen. Seit ich aus Essen weggezogen war, sah man sich nicht mehr oft. Ich war vor etwa sechs Jahren nach Hamburg gezogen, der Liebe wegen, wie man so sagt, und hatte mir eingebildet, in dieser brausenden, geschichtsträchtigen, maritimen Stadt mit ihrem Hafen, der City, den charmanten Vierteln und nicht zuletzt der Reeperbahn glücklich werden zu können. Dass ich es nicht wurde, lag nicht nur daran, dass die Liebe, die mich hierher verfrachtet hatte, nach einem knappen Jahr bereits wieder Geschichte war. Es hing auch damit zusammen, dass jemand, der gebürtig aus dem Ruhrpott stammt und dort vierzig Jahre lang gelebt hat, mit der hanseatischen Mentalität so seine Probleme hat. Seit ich wieder alleine war, nahm ich mir jedes Jahr vor, zurück nach Essen zu ziehen. Die Mieten dort waren billiger, das Bier schmackhafter und die Menschen redeten so wunderbaren Blödsinn, wie ihn kein Hanseat in hundert Jahren zustande bringen könnte. Aber zum einen wollte ich in meiner Stammkneipe, dem Blue Mill in Frohnhausen, nicht als der Loser dastehen, der es in der großen weiten Welt nicht geschafft hat, und zum anderen hatte Hamburg natürlich auch seine guten Seiten, speziell, wenn man als Single dort lebte. Stadtpark, Alster, Altona, das Elbufer in Blankenese und die Nähe zur Nord- und zur Ostsee, die Nächte auf dem Kiez und die Fischbrötchen am Hafen - all das, sagte ich mir, würde ich vermissen. Wenn ich morgens Feierabend hatte, fuhr ich auf meinem Rad an Dutzenden Postkartenmotiven vorbei, an weiträumigen Parkanlagen, Kanälen, Hausbooten und barocken Villen. Wer im Ruhrpott konnte das von sich sagen? Mein Heimweg in Essen führte mich durch die Gemarkenstraße, die Keplerstraße und die Berliner Straße. Ortskundige werden bestätigen: kein einziges Postkartenmotiv. Keine einzige barocke Villa. Und davon mal ganz abgesehen - auch in Essen wartete niemand auf mich, ich war frei und allein wie irgendein Mond im All, dem seine Erde abhandengekommen ist.
Ich steckte mein Handy in die Tasche und fasste spontan den Entschluss, gar nicht erst nach Hause sondern direkt nach Essen zu fahren. Ich setzte mich mit einem Kaffee an eine Imbisstheke und dachte an Wolle. Natürlich, er hatte nicht wirklich gesund gelebt, das hatte keiner von uns vieren - aber direkt einen Schlaganfall zu kriegen, das schien mir dann doch übertrieben. Schlaganfall, arbeitete es in mir und ich begann, all das abzurufen, was ich über Schlaganfälle wusste. Mein Wissen ging zurück auf die Neurologin Frau Dr. Süss, die vor gefühlt zwölf Millionen Jahren am Fachseminar Krankheitslehre unterrichtet hatte.
Frau Dr. Süss machte ihrem Namen alle Ehre, sie war schlank und langbeinig und hatte ein erfrischendes Lächeln und wenn sie sich zur Tafel drehte, um irgendwas aufzuschreiben, blieb mein Blick jedes Mal an ihrem kleinen runden Hintern kleben. Ich weiß noch, dass ich es immer ziemlich ungerecht fand, dass jemand, der so schön war, gleichzeitig so viel wusste. Gott hätte seine Gaben irgendwie besser verteilen können, fand ich - entweder schön oder schlau. Oder andersherum, entweder blöd oder schäbig. Aber nicht immer gleich beides.
Ein Schlaganfall hieß jedenfalls, das machte ich mir dann klar, dass Wolle möglicherweise gelähmt war und blieb, dass er womöglich nicht mehr sprechen konnte. Oder nicht mehr sehen oder denken, was auch immer. Sein Gehirn hatte vielleicht gelitten, sehr wahrscheinlich sogar, da es ja ein massiver Schlaganfall gewesen war. Langsam dämmerte mir die Möglichkeit, dass Wolle Küppers, mein Freund aus alten Tagen, sterben könnte. Esra hatte derart aufgeregt und aufgelöst geklungen, als sei er schon tot, und dieses ständige Reanimiertwerden ging sicher auch nicht spurlos an einem vorüber.
Ich kannte allerdings ein paar Leute, das sei gerechterweise erwähnt, die Schlaganfälle gehabt hatten und noch lebten - ich betreute sogar einige dieser...
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