ALLER ANFANG IST SCHWER
Als ich 12 Jahre alt wurde, erlaubte mir mein Vater endlich geregelten Reitunterricht, mit dem er einen Dragonerwachtmeister beauftragte. Gabriel war mittelgroß und untersetzt, hatte einen Backenbart wie Kaiser Franz Joseph und eine gewaltige Stimme, mit der er eine Schwadron hätte einexerzieren können. Seine neue Aufgabe nahm er verteufelt ernst. Nach einer kurzen Begrüßung wurde ein gesatteltes Pferd ohne Bügel und Zügel auf den Reitplatz vor der Kaserne in Wels gebracht, ein recht friedlich aussehendes Tier, dessen Ausbindezügel von den Trensenringen zum Sattelgurt führten. Ich mußte aufspringen, durfte mich aber am Sattel anhalten, während das Pferd sich an einer langen Leine - Longe genannt, da sie im 17. Jahrhundert zuerst in Frankreich verwendet worden war - im Kreis um den im Mittelpunkt stehenden Gabriel bewegte. Durch seine gleichmäßigen Bewegungen sollte es mich nun lehren, wie ich mich am besten auf seinem Rücken zurechtfinden könne, was im Schritt leicht, im Galopp aber sehr schwierig war.
Natürlich muß das Reiten nicht unbedingt an der Longe beginnen, vor allem dann nicht, wenn es an geeigneten Pferden und Lehrern fehlt. In meiner langjährigen Tätigkeit als Lehrer wurde mir jedoch immer wieder bestätigt, daß der langwierig scheinende Ausbildungsweg über das Longieren den Reiter die Beherrschung seines Körpers in schöner Form und höchster Geschmeidigkeit lehrt, sodaß er das Gleichgewicht seines vierbeinigen Partners nicht stört und schließlich mit ihm zu einer Einheit verwachsen kann. Ein Ziel, das für mich in jenen Tagen noch in weiter Ferne lag, denn es galt doch zunächst nur, sich in den verschiedensten Bewegungen im Sattel zu halten.
Mein erstes Longepferd war also ein braves Dienstpferd, das so manchen Dragoner gelehrt hatte, auf seinem Rücken dem Vaterland zu dienen, und das mich nun in eine Welt einführte, von der ich von frühester Kindheit an geträumt hatte. »Sigi« war ein brauner Wallach ohne Abzeichen und mittelgroß - bei der heutigen Vorliebe für große Pferde würde man ihn als klein bezeichnen. Der schmale Kopf mit den ruhigen, etwas resignierenden Augen wandte sich vor dem Aufspringen neugierig nach mir um, und hätte »Sigi« sprechen können, würde er mir vermutlich zugeflüstert haben: »Es wird schon nicht so arg werden!« Ich hatte auch gleich Vertrauen zu ihm und war bemüht, mich seiner freundlichen Teilnahme würdig zu erweisen. Bügellos auf dem harten Kommiss-Sattel sitzend, leistete ich den Aufforderungen meines Lehrers gewissenhaft Folge und versuchte, wenn er es verlangte, mich weniger fest mit den Händen am Sattel anzuhalten. Ich sah, wie mein vierbeiniger Partner den leisesten Weisungen mit abgeklärter Ruhe folgte, und nahm ihn mir zum Vorbild, was den Gehorsam betraf. Seine willige Hingabe beeindruckte mich derart, daß ich auch keine Miene verzog, als es am Knie, Oberschenkel und Gesäß verdächtig zu brennen begann. Später stellte sich heraus, daß die zarte Haut den Härten des Reitens und besonders des Kommiss-Sattels noch nicht gewachsen war und sich ganze Flächen eines klassischen Aufrittes abzuzeichnen begannen. Natürlich behielt ich dieses Geheimnis für mich, um den Reitunterricht nicht zu unterbrechen, und brachte damit dem Reitsport ein erstes, aber noch lange nicht das letzte Opfer dar.
Vielmehr hatte ich in meiner Verbissenheit bereits nach wenigen Tagen wieder Gelegenheit, meiner Passion zum zweiten Mal zu opfern. In der Meinung, ich sei ein Wunderkind, und ermutigt durch mein Behaupten auf dem Pferderücken in Trab und Galopp - nur ein Verdienst von »Sigis« Gutmütigkeit und seinen weichen Bewegungen - stellte mir Wachtmeister Gabriel bereits am dritten Tag die Frage, ob ich Lust hätte, über eine auf der Reitbahn stehende Hürde zu springen. Ich betrachtete zweifelnd diese einsam auf weiter Flur stehende, ungefähr 90 Zentimeter hohe und sehr schmale Hürde und antwortete wahrheitsgetreu »Nein«, was mein gestrenger Lehrer nicht gelten lassen wollte. »Für einen richtigen Reiter gibt es kein Hindemis, er wirft sein Herz hinüber und springt dann mit dem Pferd hinterdrein!« Er führte mein Pferd mit der Longe an das Hindernis heran, knallte mit der Peitsche und »Sigi« setzte über die Hürde. Ob ich mein Herz vorausgeworfen hatte oder ob es mir in die Hosen fiel, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Tatsächlich landete ich in großem Bogen auf der Erde und brauchte einige Augenblicke, um mich von der Erschütterung zu erholen. Als ich den Kopf hob, begegnete ich den mitleidigen Augen meines »Sigi«, der mir zu sagen schien: »Ich kann nichts dafür, ich habe mein Bestes getan.« Es blieb mir aber nicht viel Zeit zur stummen Zwiesprache mit meinem mitfühlenden Partner, denn schon brüllte der Wachtmeister: »Also vorwärts, gleich aufspringen und den Sprung wiederholen!« Gesagt, getan, und wieder lag ich am Boden, über und über mit Staub bedeckt. Aber auch durch diesen zweiten mißlungenen Versuch ließ sich mein Erzengel nicht beirren und wiederholte das grausame Spiel in gleicher Weise mit dem gleichen Ergebnis, bis ich schließlich nach dem fünften oder sechsten Versuch krampfhaft irgendwie am Sattel angeklammert oben blieb. Gabriel war riesig stolz auf den Erfolg, ich spürte alle meine Glieder, und das Pferd war froh, daß die Hupferei mit dem blutigen Anfänger ein Ende hatte. Die Ansicht über den Erfolg teilte ich aber keinesfalls mit meinem Lehrer, und mein vierbeiniger Leidensgenosse hätte mir sicher zugestimmt; mein Vertrauen war nämlich erschüttert, und es dauerte Jahre, bis ich das flaue Gefühl in der Magengegend beim Springen überwunden hatte.
Über das Ziel der Ausbildung an der Longe sprach ich schon. Näher kommen konnte ich ihm aber erst allmählich, und erreicht habe ich es erst nach einer langen Reihe von Jahren mit Hilfe meiner vielen Longepferde. Ihre Namen - bei meiner ersten militärischen Ausbildung, bei meiner Fortbildung am Militär-Reitlehrerinstitut und dann an der Spanischen Hofreitschule - sind mir entfallen, aber das, was sie mich lehrten, versuchte ich zu behalten und durch dauernde Korrekturen an mir selbst noch zu verbessern. Jene Longepferde, die den Buben auf ihrem Rücken duldeten, sich mit dem jungen Soldaten plagten und die dann dem Schüler der Spanischen Hofreitschule die Wichtigkeit des richtigen Sitzes bewiesen, waren meine geduldigsten Lehrmeister.
Sie lehrten mich auch, die Welt der Pferde mit anderen Augen zu betrachten, zu versuchen, in den Gedankengang unserer treuen Weggenossen einzudringen und das Geheimnis ihres Verhaltens zu erschließen. Die Erfahrungen und Erkenntnisse, die ich auf ihrem Rücken sammeln durfte, konnte ich gut verwerten, als ich später selbst die Longe für meine Schüler und zur Ausbildung der Pferde führte.
Als erstes lehrten sie mich die Wichtigkeit des gegenseitigen Vertrauens, das die Basis ist, auf der auch sie zu freudigen Mitarbeitern heranreifen können. Gerade das Longepferd, das dem jungen Reiter das Gefühl der Sicherheit geben soll, ist als brutal unterworfene Kreatur undenkbar.
Das Longieren, bei dem das Pferd an der Leine im Kreise um den im Mittelpunkt stehenden Ausbilder läuft, ist von großer Wichtigkeit für die Ausbildung. Das bügellose Reiten festigt den Sitz und lehrt die korrekte Haltung. Später lernte ich auch, welch ein wertvolles Mittel das Longieren bei der Ausbildung des Pferdes selbst ist. Die Arbeit an der Longe kräftigt das junge Pferd, macht es geschmeidig und gehorsam und bereitet es auf die Arbeit unter dem Reiter vor. Für Pferd, Reiter und Lehrer gilt ähnliches: Das Pferd muß in gleichmäßigem Gang den Reiter tragen, Selbstbeherrschung muß der Reiter üben, um seinen Körper in der Haltung des schönen und zweckmäßigen Sitzes zu gymnastizieren, und Selbstbeherrschung soll den Lehrer auszeichnen, auch wenn seine Anweisungen nicht immer gleich Erfolg haben. Geduld müssen Lehrer und Schüler aufbringen, um das Ziel zu erreichen, und Mäßigung in allen Anforderungen ist oberstes Gesetz. Der Reiter muß wissen, daß der Weg zum Erfolg lang ist, und darf nicht aus Eitelkeit oder Geltungstrieb sein Pferd überfordern. Der Lehrer muß sich im klaren sein, was Mensch und Tier zumutbar ist, um nicht beide zu ermüden oder verzagt zu machen.
Selbstbeherrschung als Reiter an der Longe lehrte mich besonders anschaulich ein Furiosohengst an der Spanischen Hofreitschule, der zur Entlastung der Lipizzaner zum Unterricht verwendet wurde und den ich während meiner Kommandierung in den Jahren 1933 und 1934 manchmal reiten mußte. Den kleinsten Sitzfehler, der sein Gleichgewicht störte, quittierte er mit einem mächtigen Bocker und setzte so manchen Reiter in den Sand des festlichsten Reitsaals der Welt, was nicht nur peinlich war, sondern auch eine Buße von fünf Kilogramm Zucker kostete. Wenn Zuckermangel für die Lipizzaner drohte, wurde einfach ein schwächerer Reiter auf diesen Hengst gesetzt, der den Beinamen »Zuckerlieferant« erhielt. Es gab aber auch Reiter, die es vorzogen, sich durch freiwillige Spenden von dem unbequemen Lehrmeister loszukaufen.
Beim Longieren junger Pferde - der besten Vorbereitung für jedes Reitpferd - kann man durch Beobachtung eine Menge von den uns anvertrauten Geschöpfen lernen. Bei meinem letzten Amerikaaufenthalt wurde ich gebeten, einer passionierten jungen Reiterin beim Longieren ihres jungen Hengstes zu helfen, der wegen einer ausgeheilten Verletzung nur sehr schonend gearbeitet werden durfte. Er war noch niemals longiert worden und nach sechs Wochen Krankenarrest dementsprechend bummelwitzig. Er stürmte an der Longe zunächst wild davon. Ich führte »Trumpeter« nun im Schritt und...