Schweitzer Fachinformationen
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Im April und Mai 1873 platzte an der Wiener Börse eine Immobilienblase. Unter den zahlreichen Anlegern aus Hochadel, Bürgertum und einfachem Volk brach eine Panik aus. Die eben noch so erfolgreichen Bankiers und Börsenhändler fürchteten plötzlich um Freiheit und Leben. Manche griffen zu drastischen Mitteln. So schrieb eine Wiener Zeitung, dass einige Börsenhändler «Selbstmord fingierten, indem sie ihre alten Kleider an einer Brücke niederlegten und in neuen das Weite suchten». Ganz ähnlich berichtete der «Spiegel» am 26. Januar 2009: «Eine Reihe prominenter Selbstmorde schockiert die Wall Street. Doch nicht in allen Fällen bringen sich Banker und Börsenhändler tatsächlich um - einige täuschen ihren Freitod vor, um der Strafverfolgung zu entkommen.» Das Fluchtverhalten scheint nicht unbegründet: Noch jüngst forderte ein Münchener Strafrechtsprofessor, die Verantwortlichen für die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise müssten vor Gericht gebracht werden. Prominente Fälle wie der des New Yorker Vermögensverwalters Bernard Madoff und mancher offenkundig raffgieriger Fondsmanager komplettieren das Bild: Die Finanzwelt scheint in der Hand einer Bande von skrupellosen Gaunern, die es lieber auf eine schwere Wirtschaftskrise ankommen lassen, als auf eine Gewinnchance zu verzichten. Ohne skrupellose Banker, so scheint es, wären uns die jüngsten Verwerfungen erspart geblieben.
Doch ein Blick zurück durch die Jahrhunderte schürt Skepsis gegenüber diesem ebenso populären wie vereinfachenden Bild. Denn Wirtschaftskrisen zählen zu den wiederkehrenden, prägenden Ereignissen der Geschichte; ihre Bedeutung war und ist häufig so groß, dass sie weit über das wirtschaftliche Geschehen hinaus ausstrahlen und ernsthafte politische und soziale Probleme auslösen. Wirtschaftskrisen sind auch keine neue Erfahrung. Bereits aus dem Alten Testament sind mit der Josephs-Geschichte die sieben mageren und die sieben fetten Jahre überliefert. Ernteschwankungen und in ihrem Gefolge Teuerung, Hunger und Not zählten zu den ständigen Begleitern der Geschichte Alteuropas. Auch deren Überwindung durch die Zunahme der Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft seit dem 19. Jahrhundert hat keineswegs zu einem Ende der Krisen geführt. Seither wird die Entwicklung der Wirtschaft von wiederkehrenden konjunkturellen Störungen geprägt. Ernteschwankungen und Schwankungen der Konjunktur sind nicht einmal die einzigen Plagen, die die Menschheit zu ertragen hatte und noch erträgt. Hinzu treten Spekulationskrisen, die ebenfalls keine neue Erscheinung sind. Der «Tulpenschwindel» in Holland im 17. Jahrhundert, die «Südseeblasen» im England des 18. Jahrhunderts oder die zahlreichen Spekulationsblasen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts markieren eine schier nicht enden wollende Reihe krisenhafter Abschwünge. Und schließlich die verbreiteten Staatsbankrotte. Folgt man den amerikanischen Ökonomen Carmen M. Reinhart und Kenneth S. Rogoff, zählen die durch Zahlungsschwierigkeiten von Staaten bzw. durch ihre überhöhte Verschuldung ausgelösten Probleme zu den häufigen Krisenverursachern der letzten Jahrhunderte. Auch wenn man die Staatsbankrotte nicht unbedingt zu den Wirtschaftskrisen im engeren Sinn rechnen möchte, da ihre Ursachen in der Regel politischer und nicht ökonomischer Art sind, entfalten sie gleichwohl eine ungeheure Krisendynamik, wie 2009 und 2010 die Schwierigkeiten des griechischen Staates gezeigt haben. Nimmt man alles zusammen, sind Krisen offensichtlich normaler Bestandteil des ökonomischen Geschehens. Sie scheinen überdies so vielfältig zu sein, dass es schwerfällt, hierfür das Verhalten einzelner Personen verantwortlich zu machen, geschweige denn ein aussagefähiges theoretisches Krisenmodell vorzulegen. Der deutsche Nationalökonom und Wirtschaftshistoriker Werner Sombart (1863-1941) beklagte bereits 1904 eine nicht mehr überschaubare Fülle an Krisentheorien. Die gegenwärtige ökonomische Theorie verzichtet im strengen Sinn ganz auf die Verwendung des Krisenbegriffs und benutzt stattdessen in der Sprache der Konjunkturtheorie Begriffe wie Rezession, Abschwung oder Depression, um das zu bezeichnen, was in der Öffentlichkeit im Allgemeinen als Wirtschaftskrise verstanden wird.
Trotz dieser Ungenauigkeiten ist die Verwendung des Begriffs «Wirtschaftskrisen» durchaus sinnvoll, nicht zuletzt, weil seine Bedeutung in den öffentlichen Debatten außer Frage steht. Im Folgenden wird er im Sinne gesamtwirtschaftlicher Störungen verwendet. Er soll einerseits den Umschlagpunkt von einer Aufschwungphase oder zumindest einer Phase stabiler wirtschaftlicher Entwicklung in Stagnation und Abschwung, andererseits aber auch die Abschwung- und Depressionsphase selbst bezeichnen. Ganz ähnlich wird der Rezessionsbegriff verwendet, der Phasen stagnierender bzw. sinkender wirtschaftlicher Gesamtleistung markiert. Das Platzen von Spekulationsblasen oder die Zahlungsschwierigkeiten von Staaten, die zweifellos Krisenerscheinungen darstellen, werden in dieser Sicht vor allem wegen ihrer gesamtwirtschaftlichen Bedeutung zum Thema und lassen sich genauer zuordnen, als es bei einer bloßen Aufzählung von Krisenphänomen der Fall wäre.
Alte Krisen - neue Krisen Betrachtet man den wirtschaftlichen Strukturwandel unter der Perspektive gesamtwirtschaftlicher Störungen, so lässt sich das Krisengeschehen historisch grob ordnen. Die Krisen der vormodernen Welt, also der Zeit vor der Durchsetzung des modernen Kapitalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts, waren vor allem Agrar- und Ernährungskrisen. Zwar gab es zahlreiche Staatsbankrotte und auch das Auftreten und Platzen von Spekulationsblasen war nicht selten. Aber deren gesamtwirtschaftliche Folgen waren in einer Welt, die wirtschaftlich von der Landwirtschaft und den Bemühungen um die Sicherstellung der Ernährung bestimmt war, begrenzt. Die entscheidenden Faktoren im Krisengeschehen waren Klima und Wetter. Günstige klimatische Bedingungen ermöglichten gute Ernten, niedrige Lebensmittelpreise sowie wachsende Bevölkerungszahlen und in der Folge sinkende Löhne und einen Anstieg auch der gewerblichen Produktion, die angesichts niedriger Lebensmittelpreise auf günstige Nachfragebedingungen traf. Schlechte Ernten konnten hingegen rasch verheerende Folgen haben: Beschäftigungslosigkeit, Hunger und Elend, Bettelei und Tod waren dann häufige Gäste, gerade in den Häusern der armen Bevölkerung. Erst die großen Fortschritte der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert beendeten diese stete Bedrohung.
Die Krisen der vormodernen Welt folgten also keinem festgelegten Rhythmus, sondern wurden in hohem Maße durch jedenfalls seinerzeit unvorhersehbare Klimaschwankungen verursacht. Das änderte sich mit der modernen Wirtschaft. Zwar verloren die Wirtschaftskrisen nach und nach ihre apokalyptischen Dimensionen. Stattdessen wurden sie zum wiederkehrenden, geradezu rhythmischen Muster, das nicht mehr äußeren Irritationen, sondern offensichtlich einer Art innerer Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Entwicklung folgte. Karl Marx (1818-1883) sah die rhythmischen Schwankungen der Wirtschaft bereits für die 1820er Jahre als gegeben an. Spätestens seit den 1860er Jahren und den Beobachtungen des französischen Arztes Clement Juglar (1819-1905) war offensichtlich, dass der wirtschaftliche Strukturwandel Zyklen durchlief. Zyklen von Aufschwung, Boom, Rezession und Depression, die sich - so Juglars empirisch durchaus stimmige Annahme - zudem in einem relativ festen zeitlichen Rahmen von sechs bis zehn Jahren abspielten. Die neuere Konjunkturgeschichtsschreibung hat diese zeitlichen Rhythmen zwar im Einzelnen nicht schematisch festschreiben wollen, sondern verschiedene Amplitudenlängen nachgewiesen, doch haben sich die Juglar-Zyklen als empirische Beobachtung seither im Grunde bestätigt.
Die moderne Wirtschaft weist mithin im Gegensatz zur vormodernen Welt Zyklen auf, die aber als geradezu notwendige Erscheinungsweise einer tendenziell wachsenden Wirtschaft und eines intensiven ökonomischen Strukturwandels begriffen werden müssen. Die Umschwünge vom Boom zur Rezession wurden und werden daher auch nicht unbedingt stets als krisenhaft erfahren, sondern können, wie etwa in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Wachstumszyklen wahrgenommen werden. Andererseits waren die Krisen der Jahre vor 1848 oder der Zwischenkriegszeit im 20. Jahrhundert mit großem sozialen Elend verbunden, das zu Krisen des politischen Systems beitrug. Offensichtlich gibt es Phasen, in denen Krisen eher hingenommen werden, und Phasen, in denen die Bedeutung von Krisen dramatisch zunimmt und sie das gesamte Gesellschaftssystem in Mitleidenschaft ziehen können. Dies mag mit den später noch genauer zu behandelnden langen Wellen der Konjunktur zu tun haben. Knut Borchardt hat jedenfalls für den modernen Kapitalismus in Anlehnung an eine Formulierung von Karl Marx die überaus hilfreiche Unterscheidung zwischen «Krisen an sich» und «Krisen für sich» getroffen. «An sich» lassen sich alle Umschwünge vom Boom zum Abschwung als «Krise» begreifen; aber ob sie in einem manifesten Sinne auch zu «Krisen...
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