Schweitzer Fachinformationen
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Der Junge ist da, zwei Monate zu früh, und ich trinke Milch und Wodka aus Graces Bauchnabel. Irgendwann ist die Milch leer, und Lua wacht auf. Nochmal von vorne, entscheide ich und mache wieder eine Tür von außen zu und lasse jemanden dahinter zurück, aber Grace und den Windhund aus Porzellan kümmert das nicht, denn wenn jemand zum Abschied fuck you, weirdo flüstert, you and your dog, sich umdreht und weiterschläft, ist das Vergessen nicht weit. Heute ist Sonntag oder Montag, ich spaziere durch das West Village, die Houston Street entlang, durch Soho. Ich sollte nachdenken und zur Ruhe kommen, ich sollte mich besinnen. Lua und ich spazieren zwischen Hunden mit Sonnenbrillen und Herrchen mit Sonnenbrillen, es ist Herbst in New York, die Blätter sind gelb, die Blätter sind rot, die Flaggen wehen, und an den Ecken geigen Männer America the Beautiful. Die Touristen zeigen sich spendabel, ihre Münzen klimpern in den Mützen der Geiger, in meiner Hosentasche habe ich meine Kreditkarte. Ich kaufe einen Anzug und ein Hemd, ich kaufe mir weiße Turnschuhe, ich kaufe Aspirin und Lysol, ich kaufe eine Hunderterpackung Vitamin C, ich kaufe eine Zahnbürste, ich kaufe Champagner für siebenundvierzig Dollar neunundneunzig. Lua kaufe ich zwei Cheeseburger, Lua liebt Cheeseburger, ich kaufe ihm eine Leine aus grünem Leder, ganz wie die des Chihuahuas vor der West-Village-Bäckerei. Am Broadway steigen wir in ein Taxi, am Times Square steigen wir wieder aus, und ich weiß nicht, warum ich hier bin und wohin ich gehen soll, aber die Sonne scheint, und die Reklamen leuchten. Ich kaufe Hühnersuppe, ich kaufe Schokolade, und im Bryant Park hinter der Public Library sitzen Frauen mit Sonnenhüten auf den Stufen, zwischen Einkaufstüten, Muffins und Kaffeebechern. Hinter einem Pavillon binde ich Lua an und gebe ihm den zweiten Cheeseburger. Ich bin gleich wieder da, erkläre ich, ich muss zur Ruhe kommen. Ich lehne mich an einen steinernen Löwen auf seinem Sockel vor der Public Library und tauche die Schokolade in die Hühnersuppe. Eine Bibliothek ist ein guter Ort, um den Dingen auf den Grund zu gehen und einen Anfang zu finden. Der Sicherheitsmitarbeiter am Eingang durchsucht meine Plastiktüten nach Waffen, Hi, how are you today?, fragt er, und ich sage, so mittel.
Auf der Toilette ziehe ich mich um. Ich will mein blutiges T-Shirt im Klo hinunterspülen, aber das Klo verstopft und läuft über. Die Hose werde ich deshalb in den Fluss werfen müssen, vielleicht in den Atlantik, mein Telefon und die Anrufe und das Auflegen gleich hinterher, das Warten auf Tuuli und Felix und einen Jungen, dessen Namen ich nicht kenne, weil ich heute Morgen zu schnell aufgelegt habe. Auf dem Klo der New York Public Library hebe ich den Champagner für siebenundvierzig Dollar neunundneunzig in Richtung des Jungen, in Richtung Brooklyn, in Richtung Handtuchspender. Keine Getränke im Lesesaal, also trinke ich den Champagner hier zur Hälfte aus. Der Anzug sitzt gut, ich nehme eine Überdosis Vitamin C. Zu viel Vitamin C wird ohne Konsequenzen wieder ausgeschieden, anders als zu viel Liebe. Zu viel Liebe schlägt auf den Magen und die Leber, sie geht an die Nieren. Ich putze meine Zähne, ich sprühe Lysol in das Loch in meiner Hand, gegen Wundstarrkrampf, ich sprühe Lysol auf meinen Schwanz, gegen Aids und gegen Hepatitis und gegen Tripper, es brennt in meinen Augen, es wäre sowieso zu spät und die falsche Methode, es brennt und brennt und brennt, und ich taste mich zum Spülstein und halte das Gesicht unter das kalte Wasser, in die Augen spüle ich es, in den Nacken. This is not a public washroom, Sir, sagt ein Wachmann und hält mir meine Plastiktüten hin, I must ask you to leave.
Im Lesesaal hole ich das Buch der Frau mit der Kamera aus der Hosentasche und lege es auf einen Tisch, »646-299-1036 Kiki Kaufman!« Lesende spricht das Wachpersonal nicht an, also finde ich das Buch gut. Sister Carrie von Theodore Dreiser. Ich blättere es durch, als der Champagner in meinem Kopf ankommt, ich finde, dass Champagner genau das Richtige für einen Nachmittag ist. Ich überfliege die rot und grün markierten Sätze, manche sind wahr, manchmal sind die Dinge eben einfach und richtig und gut, manchmal ist die Welt in Schwarz und Weiß besser zu verstehen, manchmal braucht man rote und grüne Markierungen. Das Buch geht in etwa so: die nicht schöne, aber ungewöhnliche Carrie kommt vom Land nach Chicago und findet keine Arbeit, dann verliebt sie sich in den Vertreter Drouet, schließlich in den Barmanager Hurstwood. Carrie verlässt Drouet und geht mit Hurstwood nach New York. Ja, da bin ich auch gerade, denke ich und schlafe auf Seite sechsundsiebzig ein, New York, New York. Als die Bibliothek schließt und mich der Wachmann an der Schulter rüttelt, wache ich auf Seite siebenundsiebzig auf. Hurstwood kredenzt gerade eine Flasche Sekt. Alkohol ist eine gute Idee, sage ich zum Wachmann und klappe das Buch zu. Ich stecke es in die Tüte, der Wachmann fragt, you actually alright, sir?, und ich sage, so mittel. Kennen Sie das Hotel mit dem besten Whisky Soda der Stadt?
Das Soho Grand liegt am West Broadway, Ecke Canal Street, und wenn es hier jemals gestaubt hat, dann wurde Staub gewischt, denn ich kann Lua und mich in den Fensterscheiben aus einem Taxi steigen sehen. Mit Anzug und Kreditkarte und Lederleine fallen wir hier nicht auf. Ich nehme das Buch aus der Plastiktüte und gebe die Tüte an der Garderobe ab. Ich bestelle einen Whisky in die Sessel am Fenster. Es dämmert, Lua bekommt Wasser und schläft ein, ich rufe »646-299-1036 Kiki Kaufman!« an, ob sie mich wiedersehen wolle. Klar komme sie vorbei, sagt sie, sie sei in der Gegend. Unten auf der Straße schiebt ein Verkäufer seinen Hot-Dog-Stand nach Hause, er sieht aus wie der Wachmann aus der Bibliothek. Ich lege meine neuen weißen Turnschuhe auf den Sessel gegenüber und schlage Seite zweihundertsieben auf. Die nicht schöne, aber ungewöhnliche Carrie wird Schauspielerin am Broadway, und Hurstwood schenkt schon wieder Getränke ein. Also lasse auch ich mir nachschenken, die Taxis und die Rikschas fahren draußen vorbei. Carrie sieht sicher aus wie Tuuli, nicht schön im eigentlichen Sinn, aber trotzdem die Schönste. Hurstwood sitzt in einem Theater und sieht ihr zu. Ich liege im Sessel am Fenster und lese, ich beobachte Carrie und höre dabei Tuuli singen. In meinem Kopf sitzt Tuuli auf meinem Dach in Brooklyn und singt, Felix und ich hören ihr zu, wir können uns nicht rühren vor Rührung und nicht sprechen vor Liebe, wir schweigen und trinken, wir legen die Köpfe an den Schornstein und hören einander atmen. Nicht denken und nicht sprechen und nicht einmal in Ruhe lesen kann ich, alle Geschichten sind gerade Tuulis und Felix' und meine. Natürlich müssen diese Geschichten erzählt werden, denke ich, aber wer darin wann und was singen darf, wer wie schön aussehen darf, wer auf wessen Bühne steht und singt und rührt, wer wann spricht und was gesagt werden darf, würde ich gerne selbst bestimmen, denke ich, und ich klappe das Buch zu und warte auf Kiki Kaufman, die Frau mit der Kamera.
Als ich dann den Wein akzeptiere, setzt sich Kiki Kaufman in den Sessel neben mir und schlägt die Beine übereinander. Wieder trägt sie ein nüchtern schwarzes Kleid, eine schwarze Tasche, schwarze Schuhe, ein leeres Glas hält sie in der Hand und stellt es auf dem Buch ab. Ob sie einen Schluck von meinem Wein?, fragt sie und trinkt. Sie macht ein Foto über die Schulter, ohne hinzusehen, und stellt ihre Kamera auf den Tisch. Natürlich, sage ich, und Kiki Kaufman hält den Wein ins Licht. Du siehst müde aus, Svensson, sagt sie, ist es nicht so, fragt sie, bist du nicht müde? Ich weiß, sage ich. Von einer langen Zeit, sagt sie, erinnert man sich am besten an den ersten Tag. Sie schenkt meinen Rotwein in ihr Weißweinglas. Wer bist du eigentlich?, fragt sie, und ich sage, ich bin mir nicht sicher, aber ich erinnere mich,
wie Lua zuerst durch den Türspalt kam, am Eingang den schweren Kopf schief legte und auf das Sofa kletterte wie ein alter Mann; ich erinnere mich, wie sich die Tür ganz öffnete und Felix sagte, verdammte Scheiße, Svensson! Ich erinnere mich, wie Felix zwei Flaschen Rolling Rock aus der Tüte holte und den Rest in den Kühlschrank stellte. Beer makes you schmart, sagte er, in der Ecke der Wohnung lief der Fernseher, immer wieder oh my God, oh my God, dann wackelte die Kamera, und das Bild verwischte, immer wieder, wie ein Mantra. Felix setzte sich neben mich und sah zu, Lua legte sich vor den Kühlschrank und bettelte. Felix gab mir das Bier, das Anstoßen ließen wir sein,
aber Kiki hebt an dieser Stelle ihr Glas und unterbricht mich. Diese Geschichte also, sagt sie, seit Wochen mache sie Bilder dieser Stadt, Bilder von dieser Tragödie in vielen Kapiteln. Meine 9/11-Geschichte handelt nicht von dieser Stadt, sage ich, nicht von diesem Tag und nicht von Terrorismus und Kolonialismus und Symbolen und Konsequenzen. Meine Geschichte, sage ich zu Kiki Kaufman, handelt von Tuuli und Felix und mir:
Tuuli und Felix schliefen in einem Hotel neben dem World Trade Center, sie waren für ein paar Wochen zu Besuch in New York und wollten Mitte September zurück nach Deutschland. Felix' Vater bezahlte, Tuuli war im siebten Monat schwanger. Wir waren nicht allein, wir waren zu dritt, aber ausgerechnet am zehnten September hatten Felix und ich die Nacht in einer Bar in Brooklyn zerredet, erst voller Panik und später voller Stolz. Felix hatte auf meinem Sofa geschlafen,...
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