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Die Verpflegung an der Schule war ohnehin ein heikles Thema, ich musste aufgrund der Berufstätigkeit der Großmutter mit den Internatsschülerinnen im Speisesaal zu Mittag essen und war täglich aufs Neue unangenehm berührt von der lebensgroßen Jesusfigur, die statisch bedenklich weit nach vorne gekippt am fast wandfüllenden Holzkreuz hing, offenbar eine Nachbildung der letzten Minuten des Heilands, in denen er schon keine Kraft mehr aufbringen konnte für die in dieser Situation optimale Gewichtsverteilung.
Die detailliert ausgearbeiteten Stichwunden kamen daher unappetitlich nahe an die Gemeinschaftsplatte mit dem rosaroten Selchfleisch, von der wir uns selbst bedienen durften, jede eine Scheibe Schwein, jede einen Knödel. Ich gewöhnte mich nie daran, neben einem sterbenden Märtyrer zu tafeln, und weil es den meisten ebenso erging, fragte ich mich, ob er eventuell ganz bewusst als kostenminimierende Appetitzügelungsmaßnahme in dieser selbst für enthusiastische Katholiken unüblichen Größe und Präsenz konzipiert worden war.
Trotz der täglich vielen gemeinsam verbrachten Stunden stellte es sich als schwierig heraus, Anschluss zu finden, wenngleich viele es spürbar aufregend fanden, einen echten Sozialfall in der Klasse zu haben. Anfangs spendierte ich regelmäßig ein paar Züge meiner Zigaretten an experimentierfreudige Kolleginnen, um ihre Erwartungen zu erfüllen, aber die begleitenden Gespräche gestalteten sich eintönig, und ich kam schnell zu dem Befund, dass mir das Außenseiterinnendasein nicht gerecht wurde. Also suchte ich nach Gemeinsamkeiten, Verbindendem statt Trennendem, konnte aber weder mit einer Reitbeteiligung noch mit Reisen nach New York zu Ostern aufwarten. Auch meine Garderobe ließ zu wünschen übrig, das bemerkte ich von selbst, ohne darauf hingewiesen zu werden, meine Versuche, das modische Defizit durch extravagante Frisurenvariationen auszugleichen, blieben leider allesamt erfolglos.
Obendrein verweigerte die Großmutter den Kontakt zu meinem Lehrpersonal, ob geistlich oder weltlich, rigoros, was an diesem streng hierarchisch geführten Institut eine mittlere Katastrophe bedeutete, da meine Professoren sehr verwöhnt von Aufmerksamkeiten aller Art waren und ihre Zuwendung im Unterricht nicht unerheblich an den Wert des untertänigst überreichten Weihnachtsgeschenkes koppelten. Ich probierte durch Leistung zu glänzen, gab aber bald auf, da es weitaus klügere Mädchen in der Klasse gab und mich diese Tatsache dauerhaft entmutigte, lange bevor meine Rechenschwäche noch zusätzlich den Schulerfolg minderte.
Mit meinen Klassenkolleginnen konnte ich demzufolge nicht ohne Weiteres freundschaftliche Bande knüpfen, im Gegenteil, ich schuf mir schnell ein paar einflussreiche Feindinnen, weil ich trotz allem nicht gewillt war, dem örtlichen Geldadel ergeben zu sein. Man vermisse eine Bescheidenheit an mir, wurde mir durch die Blume mitgeteilt, aber damit wusste ich nur wenig anzufangen, sah ich den Begriff der Bescheidenheit hier doch eindeutig missbraucht als Euphemismus für grundlose Unterwürfigkeit, die ich absolut nicht gewillt war abzuleisten.
Als meine Leihgeige von einer auffallend garstigen Mitschülerin als solche verspottet wurde, schrie ich »Vendetta«, ignorierte das allgemeine Augenrollen und dichtete zuhause ein vierstrophiges Meisterwerk über die Spötterin, fokussierend auf ihre Körperfülle und unglückseligen Liebesavancen den Lateinprofessor betreffend. Das Gedicht trug ich laut in meiner Klasse vor und ließ mich vom eisigen Schweigen, auch bei exakt gesetzten Pointen wie beispielsweise der besten metaphorischen Verwendung eines Käseleberkäses aller Zeiten, nicht verunsichern. Gute Lyrik arbeitet nach, sie ist ein kunstvoll gesetzter Schwelbrand, das war mir bewusst. Diese Mädchen sollten wissen, mit wem sie es zu tun hatten, und die Reime verfehlten ihre Wirkung nicht, nie wieder wurde ich aufgrund meiner Herkunft gehänselt, wenn man von dem Tag absieht, an dem ich in der Schulgarderobe mit einer Jugo verwechselt wurde.
Ich brauchte etwas Hintergrundrecherche, um herauszufinden, dass das wohlklingende Wort Jugo keinesfalls positiv oder auch nur neutral interessiert gemeint sein konnte, nicht in Anbetracht der damaligen politischen Lage. Diesmal reichte es, dem betreffenden Mädchen einen von der im Sonnenlicht deutlich sichtbaren Oberlippenbehaarung inspirierten Spitznamen zu verpassen, den sie zu meiner Freude auch noch über die Studienzeit hinweg nicht loswurde. Aber richtig Anschluss fand ich an der katholischen Mädchenschule trotzdem nie.
Oft wurde ich des andauernden Fremdkörpergefühls überdrüssig und die mich stets in schwankender Intensität begleitende Sehnsucht nach Gesellschaft trieb mich auf den Friedhof, der direkt zwischen den Parkanlagen der Schule und meiner Busstation lag und dessen Verlockungen ich an gut besuchten Tagen nicht zu widerstehen vermochte, wofür ich auch riskierte, erst mit dem späteren Bus nachhause zu fahren und mich dort dem Unmut der Großmutter auszusetzen, die in dem seltenen Fall, dass sie mein Fehlen überhaupt bemerkte, sehr streng sein konnte.
Der Friedhof bestach durch eine stille Schönheit, einladend stand sein gusseisernes Tor offen, überschaubar und familiär war die gesamte Anlage, mit Blick auf den See und kleinen Mausoleen an den besten Plätzen direkt angrenzend an die Friedhofsmauern. Die interessantesten Personen allerdings fand ich dort nie, sondern ausschließlich in den Reihen der Durchschnittsgräber, um die sich die Hinterbliebenen, meist alt und weiblich, höchstpersönlich kümmerten.
Ich schlenderte an ihnen vorbei, respektvoll langsam, damit der Kies nicht laut knirschte oder gar in alle Richtungen davonsprang, mit gezügelter Mimik, studierte die Grabinschriften, ließ es mir auf keinen Fall anmerken, wenn mich ein Name besonders belustigte, und sprach bei sich bietender Gelegenheit mit den anwesenden alten Frauen, erzählte jeder von ihnen ungefragt eine andere Lebensgeschichte, da die meisten ohnehin schon sehr vergesslich waren. Ich machte mich nie bekannt mit ihnen, grüßte sie einfach, als wären wir alte Bekannte, und erfreute mich an der Verwirrung, die zuverlässig einsetzte. Alte Frauen trauten ihrem eigenen Gedächtnis weniger als einer redseligen kleinen Schülerin, darauf war Verlass. Ich nutzte ihre Zuhörerschaft und erprobte verschiedene Schocker, ein Dasein als wohlhabendes Waisenkind zum Beispiel (kein großer Erfolg, da das »wohlhabend« immer auch signifikant das Mitleid verringerte) oder eine Wachstumsverzögerung nach einem schweren Autounfall, bei dem mein Vater alkoholisiert meine Mutter überfahren hatte, tatsächlich eine ausgeschmückte Varianz der örtlichen Gerüchteküche (und von emotional beeindruckender Durchschlagskraft bei allen Zuhörerinnen, denn in Liebstatt herrschte zwar einerseits breites Verständnis für verkehrstechnische Selbstüberschätzung nach exzessivem Alkoholkonsum, aber andererseits eine tote Mutter, das war Trumpf).
Die Damen flossen im Optimalfall über vor Anteilnahme und steckten mir seltsame Süßigkeiten zu, die seit Jahren in ihren Handtaschen vor sich hin trockneten. Ich lutschte einigermaßen glücklich und endlich um etwas Dramatik erleichtert steinharte Schaumbären vor den Gräbern der Ehemänner und hörte mir im Gegenzug auch deren Lebensgeschichten an. Quid pro quo. Die meisten von ihnen sprachen über den toten Gatten wie über ein Haustier, diese Illusionslosigkeit gefiel mir außerordentlich gut:
Er war ein ganz Braver, immer sauber. Ein ganz Sauberer. Nicht wie die anderen, der hat das Geld auch heimgebracht.
Nach dem Schlagerl war er nie wieder der Alte. Richtig umgänglich ist er geworden, ganz bescheiden, immer zufrieden. So a Freud, wenn ich mit ihm rausgegangen bin an die frische Luft!
Die alten Frauen prägten ohne Absicht meinen eigenen Zugang zu Liebe und Ehe, ihr demonstrativ zur Schau gestellter Pragmatismus beruhigte mich und stellte vor allem eine willkommene Abwechslung zum ewigen zwischenmenschlichen Spießrutenlauf mit den Nonnen dar. Sie standen Unkraut rupfend vor den immer gleichen Sprüchen auf den Grabsteinen ihrer Ehemänner, man ist ja wirklich nur Gast auf Erden und der Gast ist König.
Nie würde ich Gefahr laufen, mich über Gebühr zu investieren, das stand fest. Nicht beim Schwimmtraining, nicht bei Schularbeiten und schon gar nicht in der sogenannten romantischen Liebe.
Ich befand mich generell ausgesprochen gern in Gesellschaft älterer Frauen, nicht nur auf dem Friedhof. Auch die regelmäßig stattfindenden Nachmittage mit der Großmutter und Frau Rosi inspirierten mich, vor allem, wenn die beiden alle unbefriedigenden Enden der Geschichten aus ihrer Vergangenheit mit einem »Jaja, so war das halt damals« egalisierten.
Das gefiel mir, was hätte man auch schon groß unternehmen sollen gegen die Zwänge der Zeit, ich fand viele Frauen in dieser letzten Lebensphase...
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