Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Der 22. Dezember 1976 war ein hübscher Wintertag in Moskau. Ein bisschen Schneefall, kein Wind, etwas Sonne, leichter Frost. Schöne Aussichten für Weihnachten! Ich war Korrespondent in der Sowjetunion. In dem atheistischen Staat waren natürliche Weihnachtsbäume nicht zu erwerben. Die Jolka, der Tannenbaum, wurde nur in Plastik verkauft. Nichts für meine Familie! Die schwedische Botschaft bot Hilfe an. Sie importierte jede Menge Christbäume für Diplomaten und westliche Korrespondenten. Auch ich durfte mich bedienen. Meine Frau war mit dem Ergebnis zufrieden.
In meinem Büro klingelte der Nachrichtenticker. Eilmeldung. "ARD-Korrespondent Lothar Loewe von DDR ausgewiesen." "Idioten!", dachte ich und ahnte nicht, dass die Folgen der Loewe-Ausweisung mein Leben drastisch verändern würden. Es klingelte wieder. Der Text, den Loewe am Vorabend in der Tagesschau gesprochen und der zu seiner Ausweisung geführt hatte, wurde nachgeliefert:
"Die Menschen in der DDR verspüren die politische Kursverschärfung ganz deutlich. Die Zahl der Verhaftungen aus politischen Gründen nimmt im ganzen Land zu. Ausreiseanfragen werden immer häufiger in drohendem Ton abgelehnt. Hier in der DDR weiß jedes Kind, dass die Grenztruppen den strikten Befehl haben, auf Menschen wie auf Hasen zu schießen."
Wahrheitswidrig waren die Sätze nicht, der Korrespondent konnte nur nicht die juristischen Nachweise liefern. Wahrheitswidrig war hingegen die Begründung des Regimes, Loewe sei die Akkreditierung wegen gröbster Diffamierung des Volkes der DDR entzogen worden. Die ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger haben die Worte des westdeutschen Fernsehkorrespondenten sicher für zutreffend gehalten.
Ich versuchte, meinen geschassten Kollegen in Berlin zu erreichen. Vergeblich. Am ersten Weihnachtstag hatte ich schließlich Erfolg. Er hatte seinen Platz in Ost-Berlin bereits geräumt. Nachdem wir uns über die Engstirnigkeit von Autokraten hinreichend ausgetauscht hatten, machte ich Lothar Loewe einen Vorschlag. In wenigen Monaten stand der Besuch des westdeutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher in Moskau an. Ich lud Loewe ein, die Berichterstattung über das sowjetisch-deutsche Treffen zu übernehmen. Er nahm das Angebot gerne an.
Loewe hatte als Mitglied der Pressebegleitung unseres Außenministers keine Probleme, in die Sowjetunion zu gelangen und anschließend über Genschers Gespräche mit dem russischen Außenminister Andrei Gromyko in der Tagesschau zu berichten. Ost-Berlin hatte ihn ausgewiesen, aber aus Moskau durfte er senden. In Ostdeutschland verstanden die Menschen die unausgesprochene Botschaft des Berichts: Die Macht ihrer mediokren Autokraten reichte für die DDR, aber nicht für den "großen Bruder" Sowjetunion. Das war unser kleiner Triumph. Aber an der Sache änderte sich nichts. Das Regime in Ost-Berlin nahm die wütenden Proteste von Politik und Medien aus dem Westen dickfellig hin, bis sich die Empörung legte, was schnell der Fall war. Wie üblich!
Seit Dezember 1970 lebte ich mit meiner Familie als Fernsehkorrespondent in der Sowjetunion. Die ersten fünf Jahre waren fürchterlich. Viel zustande bringen konnte ich nicht. Ich hatte keinen eigenen Kameramann, damit stand ich quasi unter Zensur. Da in der Sowjetunion alles staatlich war, brauchte ich nahezu für jeden Beitrag eine Genehmigung des sowjetischen Außenministeriums. Dann kam 1975 die Europäische Sicherheitskonferenz (KSZE) in Helsinki, sie brachte menschliche Erleichterungen (Korb 3 des Abkommens) in den Beziehungen zwischen Ost und West. Auch wir Auslandskorrespondenten profitierten davon. Die Presseabteilung des sowjetischen Außenministeriums (MID) bestellte mich ein, um mir offiziell mitzuteilen: ich könne die Akkreditierung eines Kameramanns meines Senders beantragen. Der WDR schickte mir Jürgen Bever. Als Kameramann erhielt er in Moskau den historischen Presseausweis "Kino-Operator 001". Wir nannten ihn den "Geist von Helsinki". Gemeinsam konnten wir endlich eine unabhängige Berichterstattung aufbauen.
Abb.: Erstes Überfallinterview mit Sowjetführer Breschnew vor dessen Treffen mit Frankreichs Staatspräsident Georges Pompidou in Saslavl (Weißrussland im Januar 1973)
Was vorher nicht möglich war, holten wir nach. Endlich konnten wir die Bürgerinnen und Bürger ohne staatliche Genehmigungen auf der Straße befragen. Nun brauchten wir weniger das sowjetische Außenministerium als gute Kontakte zu interessanten Menschen. Wir fanden sie vor allem in der Kunst- und Kulturszene, der Germanist Lew Kopelew, ein enger Freund von Heinrich Böll und Andrej Sacharow, half uns bei der Vermittlung. So stellten wir unserem Publikum in Deutschland die Schriftsteller Juri Trifonow und Valentin Rasputin, die Dichter Andrej Wosnessenskij und Bella Achmadulina, die Dichter und Sänger Wladimir Wyssotzkij und Bulat Okudschawa, die Maler Boris Birger und Oskar Rabin, Ilya Kabakov und Wladimir Nemuchin mit ihren nonkonformistischen Freunden vor, und aus der Wissenschaft die Regimegegner Andrej Sacharow und Juri Orlow.
Wir Korrespondenten erlebten seinerzeit im damaligen Ostblock zwei gegenläufige Entwicklungen: Während sich unsere Arbeitsbedingungen in der Sowjetunion deutlich verbesserten, wurden sie in der DDR im gleichen Maße schlechter.
Was Anfang 1977 hinter dem Eisernen Vorhang im Osten geschah, interessierte im Westen wenig. Unsere Politik richtete den Blick über den Atlantik hinweg auf Amerika, wo mit Jimmy Carter ein neuer Präsident ins Weiße Haus gewählt worden war. Er war ein frommer Mann. Würde er die Realpolitik seiner Vorgänger Nixon und Ford fortsetzen? Würde er auf Verständigung mit den Gottlosen im Kreml setzen? Das waren die Fragen, die uns im Verhältnis zum kommunistischen Osten interessierten. Die DDR war da nur eine kleine Nummer. Im Übrigen hatten wir heftige Probleme im eigenen Staat, der von Terroranschlä-gen der Roten Armee Fraktion (RAF) heimgesucht wurde.
Dennoch verloren die Verantwortlichen der ARD die Frage nicht aus den Augen, wer auf Loewe folgen sollte; insbesondere der damalige WDR-Intendant Friedrich-Wilhelm von Sell klemmte sich dahinter. Aus gutem Grund! Der Westdeutsche Rundfunk war zusammen mit dem Norddeutschen Rundfunk und dem Sender Freies Berlin (SFB) für die Besetzung und den Betrieb des ARD-Studios in der DDR zuständig. Die drei Intendanten ließen das DDR-Außenministerium nicht vom Haken. Obwohl sich die deutsch-deutschen Beziehungen längst beruhigt hatten, verlangten sie für die Loewe-Ausweisung nun die Akkreditierung von zwei Fernsehkorrespondenten, gewissermaßen als Schmerzensgeld.
Die DDR-Führung gab tatsächlich nach. Der erste Kandidat war mit Lutz Lehmann schnell gefunden. Genau die richtige Wahl! Lehmann, Redakteur des angesehenen Politmagazins Panorama, hatte sich große Meriten als investigativer Journalist erworben. Er war nicht nur ein penibler Rechercheur, sondern auch ein versierter Filmemacher mit exzellentem Sprachgefühl. Überdies hatte er bei Recherchen zur deutschen Zeitgeschichte viel Erfahrung mit DDR-Behörden erworben.
WDR-Intendant von Sell war mit der Wahl von Lutz Lehmann zufrieden, aber noch nicht am Ende seiner Überlegungen. Gebraucht wurden zwei Korrespondenten, die zueinander passten. Nach seiner Meinung sollte ein Journalist mit Moskauerfahrung die Studioleitung übernehmen, da sich die DDR im völligen Abhängigkeitsverhältnis zur Sowjetunion befand. So kam ich ins Spiel. Von Sell machte sich bei den anderen ARD-Intendanten für seine Idee stark und traf auf keinen Widerstand. Ein Korrespondent, dem in Moskau mehrere Überfall-Interviews mit dem allmächtigen Parteichef Breschnew gelungen waren und der gleichzeitig gute Kontakte zu Andersdenkenden unterhielt, müsste sich auch in einem kleineren Willkürstaat gut behaupten können, so das Kalkül der ARD-Oberen. Von all dem wusste ich nichts, als ich im April 1977 zum Gespräch mit der WDR-Führung nach Köln gerufen wurde.
Unser Intendant kam ohne Umschweife zur Sache. Er wisse, dass ich in der Sowjetunion für die ARD nach fünf Jahren unter miesesten Arbeitsbedingungen eine akzeptable Fernsehkorrespondenz aufgebaut hätte. Er verstünde, dass ich nun die Früchte meiner Bemühungen ernten wolle. Aber ewig könne ich nicht in Moskau bleiben. An der Kremlmauer wolle ich wohl nicht begraben werden. Von Sell sparte weder mit Sarkasmus noch mit Lob. Das Studio Moskau habe gegenüber den etablierten Plätzen im Westen stark aufgeholt. Ich sei nun reif für eine andere anspruchsvolle Aufgabe. Nach von Sells taktischer Einleitung war ich auf das Schlimmste gefasst. Und so kam es auch.
Abb.: Pleitgen im Gespräch mit Sowjetführer Leonid Breschnew und US-Präsident Richard Nixon (Juli 1973 in San Clemente, Kalifornien)
Die Leitung des ARD-Studios in der DDR sei eine der wichtigsten Aufgaben, die der WDR zu vergeben habe, erfuhr ich von unserem Intendanten. "Und eine höchst unsympathische", ergänzte ich. "Wieso?", fragte von Sell zurück. Ich erzählte ihm von einem Berlinbesuch im Herbst 1956 samt einem Abstecher auf eine...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.