Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Zoran Markovic
Bosnien-Herzegowina
Alter: 55 Jahre
Muttersprache: Bosnisch
Zoran fällt mir auf, als ich durch das bunte Zentrum von Sarajevo schlendere. Er verkauft am Strassenrand Blumen und betreibt gleichzeitig einen kleinen Stand, an dem er frisch gepressten Granatapfelsaft anbietet. Seine unruhig funkelnden Augen verraten mir, dass er viel zu sagen hat.
Zoran verkörpert eine Generation, der durch den Jugoslawien-Krieg von 1991 bis 1992 und den Bürgerkrieg in Bosnien von 1992 bis 1995 viel, sehr viel genommen wurde. Um ein Leben in Würde führen zu können, muss er sehr hart arbeiten.
In seiner spärlichen Freizeit ist es Zoran ein Anliegen, den Besuchern die jüngste Geschichte Sarajevos näherzubringen. Es ist wohl auch seine Art und Weise, all das zu verarbeiten, was er in den Kriegen erlebt hat.
Haben Sie Kinder?
Ich habe eine Tochter, sie heisst Jasmina. Wir haben eine gemischte Ehe, denn meine Frau ist Muslimin, ich bin Serbe. Daher haben wir einen internationalen Namen gewählt, einen Namen, den die Serben, die Kroaten und die Muslime benutzen. Das ist der eine Grund, warum sie Jasmina heisst. Und wie du an den Blumen siehst, die ich hier zu verkaufen versuche, bin ich Florist. Die Blume, die ich auf der ganzen Welt am liebsten mag, ist der Jasmin, denn Jasmin hat einen sehr angenehmen Duft. Das ist der andere Grund, warum sie Jasmina heisst.
Haben Sie Geschwister?
Ich habe zwei Brüder. Einer lebt in Rogatica. Er hat Schwierigkeiten, aber Angelina Jolie2 hat dort kleine Häuser bauen lassen für Leute wie ihn, vielleicht zehn oder 15 Sozialwohnungen.
Was arbeiten Sie?
Ich bin technischer Ingenieur, Ingenieur für Brandschutz, ich bin Florist und ich arbeite als Touristenführer in Sarajevo für einzelne Paare, die ich hier kennenlerne, oder auch für Freunde. Ich treffe sie hier auf diesem Platz, dann fahren wir mit dem Auto zum Tunnel. Denn der Tunnel war während des Bosnienkrieges für Sarajevo die Verbindung zur Aussenwelt. Sarajevo war umzingelt. Die Fremden wollen dann diesen Tunnel sehen, ich fahre sie dorthin und zur Bosnaquelle, einem sehr schönen Erholungsgebiet in der Nähe von Ilidza, und wir sprechen über alles Mögliche, über das Leben, über die Arbeit, über das Geschäft, über die Politik.
Womit haben Sie Ihr erstes Geld verdient?
Ich habe rund um ein Haus, das auf meine Tante und ihren Mann zurückgeht, Buschwerk ausgegraben. Er sagte zu mir: «Wenn du essen willst, musst du Geld verdienen.» Also habe ich gegraben. Ich war 14 Jahre alt. Es hatte zu viele wilde Büsche, die alles überwucherten. Und der Onkel sagte zu mir: «Zoran, am Abend will ich sehen, dass du fertig bist.» Und ich habe gegraben, gegraben und nochmals gegraben. Er hat mich bezahlt mit Eis, mit einem T-Shirt und ein paar Münzen.
Es war eine gute Zeit. Es war die Zeit Titos3. Alle guten Zeiten nenne ich Tito-Zeit. Jetzt ist es die Hölle, wirklich die Hölle. Wie du siehst, habe ich vier Tätigkeiten, und ich muss 20 Stunden pro Tag arbeiten, obwohl ich im Ruhestand wäre. Ich muss arbeiten, um zu überleben und um mein Kind grosszuziehen.
Waren Sie schon einmal im Ausland?
Nur ein Mal in Griechenland, auf Rhodos4.
In welcher dieser Landschaften würden Sie am liebsten leben?
Bild E, denn hier hat es ein Meer. Ich liebe das Meer. Wenn ich genug Geld dazu hatte, bin ich nach dem Krieg jedes Jahr an die kroatische Küste oder an unsere bosnische Küste gefahren, nach Neum. Ich hatte immer nur das Geld für einen kleinen Ausflug, nicht nach Griechenland oder Palma de Mallorca. Von der Copa Cabana, von Tahiti und so kann ich nur träumen. Die kroatische Küste ist wunderschön, aber wenn sie dort für die Luft Geld verlangen könnten, würden sie es tun, besonders, seit sie in der Europäischen Gemeinschaft sind. Aber sie waren schon immer so, es liegt nicht am EG-Beitritt.
Wo würden Sie am liebsten leben?
In einer grossen Stadt, so wie jetzt. Denn ich war schon immer ein Städter, ich wurde als Städter geboren. Ich sehe die Dörfer nur als Orte für Ferien, nicht als Orte zum Leben. Ich würde verrückt werden in einem Dorf, glaube mir.
Was macht Sie glücklich?
Wenn mein Kind glücklich ist, bin ich der glücklichste Mann auf der Welt. Wenn sie mich anlacht oder wenn sie ein «Ausgezeichnet» aus der Schule mitbringt. Meine Frau und ich haben sie sehr spät bekommen. Meine Frau war 40 und ich 41, als sie geboren wurde. Wir sind jetzt schon ziemlich alt, aber sie ist immer noch ein Kind. Wenn sie eine junge Frau wird, bin ich ein alter Mann, falls ich dann überhaupt noch lebe.
Du wunderst dich, warum ich so gut Englisch kann? Ich habe als Jugendlicher Langspielplatten gehört. Ich bin ein Fan von Deep Purple, Pink Floyd, Uriah Heep, Led Zeppelin, Amon Düül und so weiter, aber am meisten von den Rolling Stones. Ich habe mehr als 3000 LPs. Ich bin ein lebendes Musiklexikon. Ich weiss alles über die 60er bis zu den 90ern. Danach ist für mich die Musik gestorben. Vielleicht noch Guns'n'Roses und die Scorpions, wobei es die Scorpions schon zu meiner Zeit gab.
Ich empfehle dir, falls du die noch nie gehört hast, eine Band mit dem Namen City. Und dann googelst du Am Fenster. Nach 30 Jahren Musik hören ist das mein Lieblingssong, in meinen Ohren die Nummer Eins. Wenn du Am Fenster hörst, erinnere dich an mich, denn es ist sehr gut. Es ist nicht wie Purple oder Led Zep, es ist etwas komplett Anderes, denn City ist absolut einmalig. Ich höre die Crème de la Crème des Rock, sogar Slade, Sweet oder Styx aus den 80ern, aber so etwas habe ich sonst nie gehört. Golden Earring aus Holland mit Radar Love und Are you receiving me? gehört auch zu meinen Lieblingsbands. Und dann gab es mal noch Omega aus Ungarn, mit The girl with the pearl's hair.
Was macht Sie unglücklich?
Da gibt es Einiges.
Ich möchte an dieser Stelle über den Krieg sprechen, über den Krieg hier in Bosnien. Viele Leute glauben, dass es ein Bürgerkrieg war, aber das stimmt nicht. Es war das Ergebnis des Zerfalls von Jugoslawien. Kroatien hat sich abgespalten, Slowenien ebenso. Mazedonien ist ohne Krieg ausgetreten. Der Bruderkrieg hat hier stattgefunden. Denn hier in Bosnien lebten vor dem Krieg etwa 36 Prozent Serben, 38 Prozent Moslems, 20 Prozent Kroaten und andere Gruppen wie Juden und Zigeuner.
Als der Krieg begann, schlugen sich die meisten Serben auf die Seite der Tschetniks. Zuerst muss ich dir erklären, wer die Tschetniks sind. Der Begriff Tschetnik wurde früher für einen Kämpfer im Ersten Weltkrieg benutzt. Im Zweiten Weltkrieg gab es dann die Partisanen. Die Partisanen haben gegen die Tschetniks gekämpft. Eigentlich waren im Bosnien-Krieg die Partisanen und die Tschetniks fast das gleiche, mit ganz kleinen Unterschieden. Ich habe nie verstanden, wieso man aufeinander losging.
Viele Serben - wie auch ich einer bin - sind auf die Hügel gestiegen und haben auf die Leute und auf die eigene Stadt geschossen. Diese Stadt hat ihnen zuvor alles gegeben: Schulen, vielleicht eine Ehe, eine Arbeit, alles. Aber die Leute haben geglaubt, dass die Religion an erster Stelle kommt und alles andere zweitrangig ist. Nicht für mich, für mich zählt vor allem ein reines Herz. Ich weiss, wer ich bin. Ich bin Bosnier mit serbischem Glauben, ihr Fremden sagt dazu «orthodoxer Glauben». Ich habe immer in Sarajevo gelebt. In dieser Stadt wurde ich geboren, hier habe ich geheiratet, hier hatte ich meine Arbeit. Alles, was ich in meinem Leben gegeben habe, habe ich hier gegeben, in dieser Stadt.
Als dann der Krieg begann, überlegte ich: "Was soll ich machen? Ich bin Serbe, aber das ist auch meine Stadt, das sind meine Leute. Die Leute auf der anderen Seite waren für mich normale Leute, auch wenn sie nicht meine Religion hatten. Was ist mir näher? Was gilt mehr? Ich musste mich entscheiden, und das tat ich. Zuerst kam für mich mein Leben, mein Geschäft, meine Liebe. Verstehst du? Ich bin in der Stadt geblieben und habe mich bei der Armee gemeldet.
Ich kämpfte jetzt also gegen die Tschetniks, das heisst gegen meine eigenen Leute, die Serben. Das war für mich ein entsetzliches Dilemma, denn mein Bruder stand auf der anderen Seite. Bei einer Kampfhandlung gab es dann die Situation, dass ich wusste: Jetzt greifen wir den Stadtteil an, in dem sich mein Bruder aufhält. Vor der Kampfhandlung hat mich mein Sergeant gefragt: «Zoran, schiesst du auf deinen Bruder, wenn er die Waffe gegen deine Freunde, gegen unsere Soldaten richtet?» Das war die schwierigste Frage meines Lebens. Ich habe gesagt: «Ich schiesse auf seine Beine, aber ich kann ihn nicht töten. Ich schiesse ihm auf die Beine, um meine Freunde zu beschützen.» Und ich habe sie...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.