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Genua, Oktober 1298
Als Rustichello da Pisa im Herbst des Jahres 1298 einen neuen Zellennachbarn bekam, hatte er die Hoffnung, in seinem Leben noch etwas anderes als das Gefängnis zu sehen, längst aufgegeben. Gewiss, der Palazzo del Capitano del Popolo war ein anständiges Gefängnis. Vielen tausend seiner Gefährten, die man nach der Schlacht von Meloria gefangen genommen hatte, war es schlechter ergangen. Dennoch ertappte er sich immer öfter bei dem Wunsch, den Palazzo lieber heute als morgen zu verlassen, und wenn schon nicht lebend, so doch wenigstens als toter Mann.
Beide Wünsche würden ihm verwehrt bleiben. Die Zukunft, die Rustichello da Pisa beschieden war, sollte eine seltsame und wunderbare sein.
Der Mann, der ihm die fast vergessene Welt jenseits der Mauern des Palazzos wieder vor Augen rief, in Farben leuchtender noch als die Träume, die in den grauen Wänden zu ihm kamen, wurde eines Montagmorgens in die Zelle neben seiner geworfen. Rustichello wusste, welcher Tag es war, weil das Essen montags immer spät kam und aus den aufgewärmten Resten vom Sonntag bestand. Das Jahr kannte er, weil man es ihm gesagt hatte, als sein letzter Zellennachbar gestorben war. Nur mit dem Monat war er sich nicht sicher - er hatte lange aufgehört, einen Kalender zu führen, denn die vielen in das Mauerwerk geritzten Striche hatten ihn an die Kratzspuren einer eingesperrten Bestie erinnert. Er musste aber bei gesundem Verstand bleiben. Das sagte er sich immer wieder, obwohl er kaum noch den Grund dafür wusste.
Die Palastdiener schleppten den Gefangenen in Ketten durch den Gang vor Rustichellos Zelle, schlossen die Tür zu seiner Linken auf, die seit dem Frühling nicht mehr geöffnet worden war, und warfen den Fremden unter zahlreichen Flüchen hinein. Dann schlugen sie die Tür wieder zu und schlurften missmutig davon. Die Palastdiener mochten den Keller nicht, weil es hier stank. Das wiederum wusste Rustichello noch aus eigener Erfahrung. Als er damals verlegt worden war, hatte sich ihm der Magen umgedreht von dem Geruch nach Unrat und Verzweiflung. Die Erinnerung daran war geblieben, auch wenn seine Sinne den Gestank nicht mehr wahrnahmen.
Früher, in den ersten Jahren, hatte er eine kleine Zelle im Erdgeschoss gehabt und man hatte ihm gelegentlich sogar Bücher zum Abschreiben gebracht. In dieser Zeit hatte er auch den spöttischen Namen aufgeschnappt, den die anderen Gefangenen den Wachen gaben: Palastdiener. Der Palazzo hatte einst dem für seine Volksnähe bekannten Guglielmo Boccanegra gehört. Doch nur zwei Jahre nach der Fertigstellung seines geschmackvollen Domizils hatte der tüchtige Capitano del Popolo sein Heil in der Flucht suchen müssen. Seither hatte man begonnen, den Palazzo als Gefängnis zu nutzen. Ein paar der Bediensteten waren noch dieselben wie zuvor, nur dass die Ansprüche an ihre Arbeit gesunken waren - und die Gefangenen sich einen Spaß daraus machten, sie als ihre Diener zu bezeichnen.
Rustichello liebte solche Anekdoten. Sie waren alles, was er noch besaß, und kostbarer denn je, seit er seine alte Zelle verloren und seine Reise abwärts in den hintersten Winkel des Kellers angetreten hatte, wo er von den anderen Häftlingen kaum noch etwas mitbekam. Er war ein Sammler des seltensten Guts, das den heutigen Bewohnern dieser Residenz geblieben war: Geschichten.
Einst, daran erinnerte er sich noch, hatten die Leute Gold und Silber dafür gezahlt, seine Geschichten zu hören. Und er hatte sie alle erzählt: Meliadus, Tristan, Palamedes. Heute war er mittellos, ein Trödler ohne Stand, der dankbar sein musste, dass man ihm noch das Gnadenbrot gab. Manchmal fragte er sich, was geschehen würde, wenn man ihn hier unten einfach vergaß.
Der Gefangene in der Zelle nebenan rasselte mit seinen Ketten.
»Messere?«, fragte Rustichello an die Wand zu seiner Linken gerichtet, in der sich auf Bodenhöhe ein kleines, verwinkeltes Loch befand. Das Mauerwerk des Kellers war weich und mit den Jahren löchrig geworden. Leider war es dennoch dick genug, dass die versteckten Verbindungen den Ratten des Palasts als ihre höchsteigenen Flure durch die Gemächer dienten. »Könnt Ihr mich hören?«
Ein undeutliches Stöhnen war die Antwort.
»Messere?«
»Wo . bin ich?« Der Mann hatte eine ruhige und angenehme Stimme, auch wenn ihm fast die Kraft zum Reden fehlte.
»Im Palazzo del Capitano del Popolo.«
Wieder das Stöhnen. »Dann habe ich den tiefsten Höllengrund erreicht.«
»Glaubt Ihr?«, fragte Rustichello interessiert. Er hatte den Palazzo in Gedanken von vielen Seiten betrachtet, doch die Idee, dass sein Gefängnis in Wahrheit die Hölle sein könnte, war ihm all die Jahre noch nicht gekommen.
»Heißt es nicht, die Gefangenen würden hier bei lebendigem Leibe verhungern? Ich hörte, man stecke sie in ein Loch und werfe den Schlüssel weg. Gute christliche Tradition.«
»Messere, noch seid Ihr nicht tot, und Ihr solltet nicht lästern«, tadelte Rustichello. »Wahrscheinlich seid Ihr Venezianer, nicht wahr?«
»Wie kommt Ihr darauf?« Die Stimme nebenan klang nun wacher.
»Weil niemand sonst solche Probleme hat, Leben und Tod voneinander zu unterscheiden. Und auch am rechten Glauben mangelt es Euch häufig, wie man sagt.«
Ein undeutliches Grunzen war die Antwort.
»Habe ich recht?«, fragte Rustichello erfreut. »Ihr kommt aus Venedig?«
»Wie steht es mit Euch?«
»Ich bin Pisaner«, stellte er sich vor. »Rustichello, zu Euren Diensten.«
»Dann scheint es, wir haben einander im Herzen unseres gemeinsamen Feindes gefunden, Rustichello da Pisa.« Er glaubte eine gewisse Befriedigung in der Stimme seines Nachbarn zu hören.
»Nun, Ihr gewiss .« Rustichello räusperte sich. Es schickte sich nicht, dass sein Nachbar sich noch nicht vorgestellt hatte, aber von einem Venezianer war unter diesen Umständen wohl nicht mehr zu erwarten. »Wahrscheinlich werdet Ihr bei Eurer Ankunft die Löwen bemerkt haben, die die Außenmauer des Palazzos zieren. Diese Löwen stammen von der venezianischen Botschaft in Konstantinopel . Ich wünsche Euch, dass das Wahrzeichen Eurer Heimat Euch einen kurzen Aufenthalt im Palazzo beschert.«
»Das ist sehr freundlich«, murmelte der Venezianer. »Insbesondere, da Euch dieses Glück anscheinend verwehrt blieb - so wie vielen Eurer Landsleute. Wahrscheinlich wisst Ihr, was man sich dort draußen lange Zeit über Pisaner erzählte?«
»Aber sicher doch.« Rustichello seufzte. »Dass sie keinen geraden Glockenturm bauen können, nehme ich an.«
»Das auch«, gab die Stimme zu. »Ich meinte aber etwas anderes.«
»Was?«, fragte Rustichello. »Was erzählte man sich über Pisaner?«
»Dass man schon nach Genua gehen müsse, um welche zu treffen.«
Rustichello schnaubte. »Es ist nicht sehr freundlich, Scherze mit einem Verdurstenden zu treiben.«
»Einem Verdurstenden?«
»Aber ja.« Er fühlte sich auf einmal sehr müde, trotz der unverhofften Gesellschaft. Vielleicht ängstigte ihn, was dieser Venezianer ihm noch alles erzählen könnte. Lange Jahre war die Zeit an ihm vorbeigeeilt. Sein Leben zerrann ihm unter den Fingern, als versuchte er, mit bloßen Händen den feinen Sand aus einem Stundenglas zu schöpfen. Manchmal wusste Rustichello nicht mehr, wie alt er eigentlich war. Dieser Fremde mochte es ihm in Erinnerung rufen.
»Ihr könnt es Euch vielleicht nicht vorstellen, denn Ihr seid erst seit kurzem hier. Doch mit der Zeit werdet Ihr erkennen, dass Euer ärgster Feind an diesem Ort Ihr selbst seid. Ihr seid alles, was Euch bleibt. Und Ihr werdet Euch zur Last fallen. Ihr werdet Euch danach verzehren, etwas anderes kennenzulernen als Euch selbst. Vielleicht wird Euch das Angst machen, und vielleicht werdet Ihr Euch selbst darüber verlieren, so dass Ihr irgendwann gar nichts mehr habt. Alles, was bleibt, ist diese Wüste aus Stein, in der man eines Tages Eure Gebeine finden wird. Das meinte ich, als ich von einem Verdurstenden sprach.«
Er hatte sich währenddessen auf den Rücken gedreht, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, unter ihm das schmutzige Stroh, über ihm die Decke mit ihren Landschaften aus Schatten und Schimmel.
»Wisst Ihr, wovon ich rede?«
Doch sein Mitgefangener gab keine Antwort mehr, und bald darauf war Rustichello eingenickt.
»Ich weiß sehr gut, wovon Ihr sprecht«, sagte der Venezianer, als Rustichello erwachte. Graues Licht fiel durch das schmale, vergitterte Fenster auf Kopfhöhe, das ihm zwar eine Ahnung des Wechsels von Tag und Nacht bescherte, aber lediglich den Blick auf ein paar Pflastersteine im Hof zuließ. Wie viel hätte er an manchen Tagen dafür gegeben, auch nur zwei Fingerbreit blauen Himmel zu sehen! Doch solange die Glocke der Kathedrale San Lorenzo nicht schlug, hatte er keinen Anhaltspunkt, wie viel Zeit er verschlafen hatte. Das passierte ihm immer öfter: Er döste ein und dämmerte wie unter einem Zauberbann dahin, bis er nicht mehr wusste, was Traum und was Wirklichkeit war.
Rustichello rieb sich die Augen und schaute sich um. Es hatte kein neues Essen gegeben, also konnte es noch nicht Dienstag sein. Das Dienstagsessen war einen Hauch frischer und weniger furchtbar als das vom Montag, doch auch das half nicht, die Erinnerung an richtige Mahlzeiten wach zu halten. Früher einmal hatte er den Geschmack von Honig oder Feigen gekannt. Vor ein paar Jahren noch hätte er in dunklen Stunden sein Seelenheil dafür verpfändet, diese Genüsse noch einmal zu kosten. Heute, da er vergessen hatte, was ihm einst so besonders daran erschienen war, kam ihm das alles sehr kindisch vor.
»Wovon haben wir...
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