Schweitzer Fachinformationen
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WARUM MAN IM WESTEN NICHT VERSTEHT, WIE DER GLOBALE SÜDEN DIE WELT SIEHT Der Westen ist nicht mehr der Nabel der Welt. Stattdessen treten die Staaten des Globalen Südens mit neuem Selbstbewusstsein auf. Was sind ihre Interessen, Motive und Sichtweisen? Warum teilen sie die Sichtweise des Westens nicht, zum Beispiel gegenüber Russland? Dieses Buch zeigt die Unterschiede der Wahrnehmung internationaler Politik im Westen und im Globalen Süden auf. Ein besseres Verständnis dieser Unterschiede wird immer drängender, je mehr die USA und Europa an ihrer einstigen Dominanz verlieren. Das Buch diskutiert, warum die Staaten des Globalen Südens so handeln, wie sie es tun, warum deren Skepsis gegenüber dem Westen so tief sitzt – und warum in der neuen Vielfalt auch Chancen liegen. Keine der drängenden globalen Herausforderungen kann mehr durch den Westen allein gelöst werden. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat auch unseren Blick auf den Globalen Süden verändert. Es herrscht Verwunderung darüber, dass die westliche Positionierung gegen Russland in Staaten wie Indien oder Südafrika nicht geteilt wird. Dabei ist dem Globalen Süden längst eine neue strategische Bedeutung zugefallen.
Neue politische Allianzen mit den Staaten des Globalen Südens sind notwendig. Doch wer dort Unterstützung sucht, muss deren Motive und Interessen verstehen. Im Globalen Süden ist Multipolarität, also eine Ordnung, in der keineswegs nur die USA und Europa, sondern auch China, Indien, Südafrika oder Brasilien und mancherorts sogar Russland eine wichtige Rolle spielen, ein positives Zukunftsszenario. Weil sie vielen Ländern Autonomie verspricht, indem sie Entscheidungsspielräume eröffnet, wo vorher keine waren. Im Globalen Süden wird die internationale Politik daher ganz anders gesehen als im Westen, wo man den Abschied von der alten Machtordnung als «unübersichtlich» und damit potenziell bedrohlich wahrnimmt. Dabei eröffnen sich Chancen, dort wo viele bislang vor allem Risiken sehen. Denn die fundamentalen Interessen Europas in Wirtschaft, Politik und Ökologie überschneiden sich mit denen vieler Staaten des Globalen Südens.
Johannes Plagemann ist Politikwissenschaftler am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg. 2015 und 2016 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Auswärtigen Amt tätig. Er ist in den Medien häufig als Experte für den globalen Süden zu hören, zu sehen und zu lesen.
Henrik Maihack ist Politikwissenschaftler und leitet seit 2021 das Referat Afrika der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Berlin. Ab 2011 vertrat er die FES zehn Jahre lang im Globalen Süden, erst in Indien und danach als Leiter der FES-Büros in Bangladesch, im Südsudan, in Ruanda und in Kenia. In Gastbeiträgen und Interviews analysiert er regelmäßig die deutsche Afrikapolitik und politische Transformationsprozesse in Ländern des globalen Südens.
Mosambik am 25. Juni 2009: Es ist Feiertag in Beira, einer Hafenstadt im Zentrum des Landes. Familien mit kleinen Kindern strömen zu einem vor der Stadt gelegenen Platz, um den Tag der Unabhängigkeit von Portugal zu feiern. Einer der Autoren dieses Buches ist als Forschungspraktikant zum zweiten Mal für einige Monate in dem portugiesisch-sprachigen Land. Fahnen in den Nationalfarben grün, rot, schwarz und gelb sind von weitem zu erkennen. Frauenverbände, die ehemalige Befreiungsbewegung und heutige Regierungspartei FRELIMO und andere Gruppen haben bedruckte Banner aus Stoff aufgespannt. «Es leben die Helden des Befreiungskrieges» steht auf einem. Die Stimmung ist ruhiger als der Autor es von großen Menschenansammlungen in Mosambik gewohnt ist. Männer in grauen Anzügen halten Reden, die schwer verständlich sind. Wichtiger scheinen ohnehin die jungen Soldaten zu sein, die in olivgrünen Uniformen mit hochgekrempelten Ärmeln und roten Bändern an den Baretten paradieren.
Überhaupt erschien die Feierlichkeit merkwürdig gestrig zu sein, mit ihren anti-kolonialen Parolen und der sozialistischen Bildsprache aus Kalaschnikow und Hacke, wie sie sich auch auf der Flagge des Landes wiederfindet. Erinnerungen an die DDR und ihre politische Folklore, nicht demokratischer Aufbruch. Aber die Feierstunde war ernst gemeint. Die Menschen versammelten sich freiwillig hier. Weil es etwas zu sehen gab. Aber vor allem, weil die Unabhängigkeit wie kein zweites Ereignis in der Geschichte des Landes die Mosambikaner eint. Beira ist eigentlich die Hochburg der Opposition. Hier hatte die Rebellenbewegung RENAMO lange Zeit viele Unterstützer. 2009 regierte eine Splitterpartei der RENAMO unter dem mittlerweile verstorbenen Bürgermeister Daviz Simango. Sicher, wie im Rest des Landes versucht die Regierungspartei FRELIMO auch hier die Geschichte des von ihr angeführten Unabhängigkeitskampfes politisch zu vereinnahmen. Sie tut das, weil man um die Bedeutsamkeit des Endes der Fremdherrschaft im historischen Bewusstsein der Mosambikanerinnen und Mosambikaner weiß. Kein Wunder, schließlich währte der portugiesische Kolonialismus besonders lange. Erst 1974, nach zehn Jahren Guerrilla-Krieg und Terrorisierung der mosambikanischen Bevölkerung durch die portugiesische Armee und Geheimpolizei, gab sich das selbst politisch in Aufruhr befindliche Portugal geschlagen.
Am 25. Juni begehen die Menschen in Mosambik also den Tag der Unabhängigkeit, der in der Hauptstadt Maputo ungleich prächtiger zelebriert wird als im verschlafenen Beira. Auch gedenken die Mosambikanerinnen und Mosambikaner am «Tag der Helden» am 3. Februar den Kämpferinnen und Kämpfern, die im Krieg gegen die Kolonisatoren ihr Leben lassen mussten. Sie begehen den Frieden, die Streitkräfte und den Sieg über Portugal mit nationalen Feiertagen. Nicht aber die Einführung freier Wahlen 1994 oder die Abschaffung der sozialistischen Kommandowirtschaft. Vielleicht weil weder das eine noch das andere wirklich von Mosambikanerinnen und Mosambikanern selbst entschieden worden ist.
Natürlich hat jede Gesellschaft ihren eigenen Blick auf die Geschichte. In Frankreich spricht man bis heute vom Ersten Weltkrieg als la Grande Guerre, weil das Leid, die Zerstörung und auch der Triumph hier größer waren als im Zweiten Weltkrieg. Ganz anders in Russland, wo der opfer- und siegreiche Zweite Weltkrieg «großer vaterländischer Krieg» heißt und fester Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses ist. Und in Deutschland ist ohnehin klar, dass der Holocaust und die von Deutschen verübten Grauen des Zweiten Weltkriegs die zentralen historischen und außenpolitischen Bezugspunkte für die Bundesrepublik sind.
Auch die verschiedenen Gesellschaften des Globalen Südens haben ihren jeweils eigenen Blick auf die Geschichte. Eine Geschichte, die im Westen oftmals nicht bekannt ist oder deren Interpretationen immer noch von kolonialen Mustern durchdrungen sind. Bei genauerem Hinsehen offenbaren sich aber Bruchlinien im historischen Verständnis, die den Westen vom Globalen Süden trennen. Diese Bruchlinien sind bedeutsam für die jeweilige Wahrnehmung von internationaler Politik, von nationalen Interessen - und vom Gegenüber. Der Kern einer im Globalen Süden breit geteilten Wahrnehmung ist, dass der Ursprung der ökonomischen, politischen und ökologischen Großkrisen der Gegenwart im Westen liegt. Die Momente des größten Triumphes im kollektiven Gedächtnis des Westens im 20. Jahrhundert - 1945 und 1989 - sind im Globalen Süden vor allem Chiffren für eine Fortsetzung von Ausbeutung und gebrochene Versprechen. Sie stehen für den Triumph des Westens, nicht für den historischen Fortschritt an sich, den wir bei diesen Wegmarken oft habituell mitdenken. So erklärt sich die Skepsis im Großteil der Welt gegenüber wortmächtig vorgetragenen weltpolitischen Idealen und ihren Übersetzungen in konkrete Außenpolitik durch den Westen. Darum soll es in diesem Kapitel gehen. Eine solche Darstellung bleibt schematisch angesichts der Vielfalt historischer Erfahrungen und Debatten darüber im Globalen Süden. Sie liefert dennoch wichtige Anhaltspunkte dafür, auf welchem historischen Fundament in Ländern des Globalen Südens heute internationale Politik gestaltet wird.
Für uns im Westen beginnt die Moderne mit der europäischen Aufklärung im späten 17. und 18. Jahrhundert. An deutschen Schulen lernten wir, dass in dieser Zeit die (weißen, männlichen) Menschen Europas und Nordamerikas Unmündigkeit, Aberglaube und Mangel mithilfe von Rationalität, Wissenschaft und einem neuen Glauben an den gesellschaftlichen Fortschritt hinter sich ließen. Die Fortschrittserzählung der westlichen Moderne geht meist so: Die industrielle Revolution vereinfachte den internationalen Austausch mittels Dampfbooten, Telegrafen und Eisenbahn. Sie erlaubte einen nie dagewesenen Reichtum, zumindest in den Metropolen. Mit zunehmender landwirtschaftlicher Produktivität und neuen Erkenntnissen in Medizin und Naturwissenschaften stieg auch die Lebenserwartung. Fabriken in den Städten benötigten Arbeitskräfte. Bauern, die aufgrund von Landreformen ihre Felder verlassen mussten, suchten ein Auskommen in den rasant wachsenden Städten. Die ersten historischen Slums bildeten sich in der Folge in Europa. Darüber wuchs eine neue Oberschicht jenseits von Klerus und Feudalismus. Dieses vergleichsweise liberale Bürgertum, bestehend aus Handeltreibenden, Finanzwirtschaft sowie technik- und wissenschaftsaffinen Unternehmerinnen und Unternehmern und schließlich auch der Arbeiterbewegung, verlangte nach Mitbestimmung entsprechend ihrer stetig anwachsenden gesamtgesellschaftlichen Bedeutung. Allmählich schälte sich eine neue Schicht aus den alten feudalen Strukturen heraus. Auch die Bewegung zur Gleichstellung der Frauen nahm - wenngleich langsam - Fahrt auf. Bis heute zentrale Denker des politischen Liberalismus von Montesquieu und Immanuel Kant bis Jean-Jacques Rousseau und David Hume prägten diese Zeit des Aufbruchs und Aufbegehrens. Sie legten den ideellen Grundstein für immer lauter werdende Rufe nach politischer Teilhabe und unser Demokratieverständnis heute. Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika am 4. Juli 1776 und die Französische Revolution ein Jahrzehnt später symbolisieren die fortschrittlichen politischen und gesellschaftlichen Ideen des neuen Denkens in einer neuen Zeit. So die eine Wahrnehmung.
Eine ganz andere Wahrnehmung sieht zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert vor allem eine Zeit der Expansion des Imperialismus. Das aufzuzeigen hat sich die Literatur des Postkolonialismus zum Ziel gemacht. Denn, so schreiben der indische Historiker Dipesh Chakrabarty, der kamerunische Politikwissenschaftler Achille Mbembe und viele andere postkoloniale Autorinnen und Autoren, der Kolonialismus prägt die sozialen, politischen und kulturellen Realitäten der Welt bis heute - in den ehemaligen Metropolen ebenso wie den ehemaligen Kolonien. Der wirtschaftliche Aufstieg Europas wurde erst durch den Raubbau an Rohstoffen, Versklavung, Ausbeutung und Kolonialismus möglich. Aus dieser Perspektive erkennt man nicht nur die Expansion Europas, sondern auch das Verschwinden vormals mächtiger Reiche in Asien oder Afrika. An deren Stelle traten ...
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