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Alles fing damit an, dass Henriette ihn im Wohnzimmer beim Onanieren erwischte.
Sie stieß ein entsetztes »Du meine Güte, was ist denn hier los?!« aus, woraufhin Konrad sich reflexartig zusammenrollte und versuchte, Beweisstück A in der Hose verschwinden zu lassen. Das war angesichts des erigierten Zustandes von Beweisstück A gar nicht so einfach. Im Fernsehen lief gerade SpongeBob, was bei Henriette noch zusätzliche Fragen aufwarf. Als sich Konrad nach einigen äußerst unwürdigen Sekunden endlich neu arrangiert hatte, brachte er nur ein »Tja!« hervor, doch das reichte Henriette als Erklärung offenbar nicht. Bei Dr. Sommer hieß es immer, dass Selbstbefriedigung ein natürlicher Teil der Sexualität sei. Das Problem war nur, dass Konrad nicht mit Dr. Sommer zusammen war, sondern mit Henriette. Erschwerend kam hinzu, dass er am Abend zuvor ihre Annäherungsversuche mit der lapidaren Begründung abgewehrt hatte, er habe keine Lust.
Im Nachhinein konnte Konrad sich nicht erklären, warum er so leichtsinnig gewesen war. Er nahm an, Henriette telefoniere in der Küche mit einer Freundin, was normalerweise lange genug dauerte, um in dieser Zeit eine Plastikpuppe aufzublasen, nach allen Regeln der Kunst zu verwöhnen, hinterher penibel zu reinigen und sorgfältig wieder zusammenzurollen. Aber darauf war selbstverständlich kein Verlass, das hätte er wissen müssen. Ein Psychologe würde vermutlich sagen, dass Konrad erwischt werden wollte, dass seine Wichserei eine Art Hilferuf darstelle, mit dem er Henriette signalisieren wolle, dass er mit der Beziehung in ihrem jetzigen Zustand unzufrieden war. Allerdings stuften Psychologen grundsätzlich alles als Hilferuf ein. Nur wenn sie Zeuge eines Überfalls würden und das Opfer »Hilfe, Hilfe!« rief, stünden sie vermutlich achselzuckend daneben und meinten: »Keine Ahnung, was das bedeuten soll.«
In der Tat war Konrad in den letzten Monaten unzufriedener geworden. Er war schon über vier Jahre mit Henriette zusammen, aber wenn er ihr gegenüber gelegentlich beteuerte, dass seine Liebe zu ihr von Tag zu Tag größer werde, war das schlicht gelogen. Jeder wusste, dass Liebe nicht ewig hielt und ähnlich wie Zahnbürsten und Gurkenraspeln Abnutzungserscheinungen aufwies. Auch Henriette konnte das nicht entgangen sein - oder doch?
»Klar, bei rund sechs Milliarden Menschen auf der Welt ist das so, aber wie es der Zufall will - ich kann es mir auch nicht erklären -, führe ich mit Konrad die erste Beziehung seit Bestehen der Spezies Mensch, in der die Liebe einfach nicht nachlässt. Ach, was sage ich? Sie wächst sogar noch täglich!«
Konrad hatte sich zuletzt öfter in sein Arbeitszimmer zurückgezogen - mit der Begründung, er schreibe an einem Buch und wolle nicht gestört werden. Tatsächlich hatte er bisher nicht einen einzigen Buchstaben zustande gebracht. Er dachte zwar öfter darüber nach, einen Roman zu verfassen, schon allein, um Henriette eines Tages etwas vorweisen zu können. Aber wenn er vor seinem Computer saß, fiel ihm nichts ein, worüber er schreiben konnte.
Bald gab er es auf und verbrachte die Zeit stattdessen damit, am Fenster zu stehen und die Leute im gegenüberliegenden Haus zu beobachten. Spektakuläres bekam er nie zu sehen. Das junge Pärchen im dritten Stock verbrachte die meisten Abende vor dem Fernseher. Vermutlich sahen die beiden Filme an, über die sie noch vor zwei Jahren gesagt hatten: »Wir warten, bis der im Fernsehen kommt.« Und bestimmt nahmen sie die Filme auch auf, »einfach, um sie zu haben«.
Die ältere Dame im zweiten Stock hielt sich ab und zu barbusig in ihrer Küche auf, das heißt, er konnte den Ansatz der Brüste sehen, aber wo sie endeten, war durch das Fenster nicht auszumachen. Ihr Toaster stand direkt vor dem Fenster, offenbar war er defekt, denn immer wieder stocherte sie mit einer Gabel darin herum und versuchte, Toastbrotscheiben herauszuholen. Im ersten Stock wohnte ein dicklicher Student, der gelegentlich an seinem Computer saß und onanierte, unterbrochen durch hektische Griffe zur Maus und beendet durch einen noch viel hektischeren Griff zur bereitgestellten Küchenrolle. Bisher hatte Konrad sich über diesen Anblick amüsiert, doch mit dieser Unbeschwertheit war es ein für alle Mal vorbei.
Natürlich verbrachte Konrad nicht jeden Abend am Fenster. Oft saß er einfach teilnahmslos in seinem zur Wand gerichteten Sessel und dachte nach. Manchmal über Alltägliches, zum Beispiel darüber, warum Menschen vor nicht funktionierenden Rolltreppen zurückschreckten, als stünden sie vor einem zehn Meter tiefen Abgrund, oder darüber, was passieren würde, wenn man einen eingeschalteten Föhn ins Meer warf.
Meistens grübelte er aber über sich und Henriette. Wollte er wirklich mit ihr den Rest seines Lebens verbringen? Wäre es nicht besser, sich weiter umzuschauen oder für immer allein zu bleiben? Er verglich sich mit anderen in seinem Alter. Die Leute, mit denen er früher viel und inzwischen immer weniger zu tun hatte, hatten mittlerweile bestimmte Wege eingeschlagen, während er noch auf einer Bank kurz vor der Gabelung saß. Sebastian war frisch verheiratet - dass seine Frau hässlich war, tröstete Konrad nur wenig -, und Alex ging in seinem Job auf. Beide sah er nur noch selten. Auch zu Bernd hatte er seit Monaten keinen Kontakt mehr, er war nach Berlin gegangen. Nach Berlin ging man, genau wie man nach Amerika ging. Das klang besser, nach Goldrausch und einer neuen Welt. Doch nie würde jemand sagen, er sei nach Frankfurt, Jena oder Braunschweig gegangen. In solche Städte ging man nicht, dorthin zog man nur. Bloß Jakob und sein früherer Zivi-Kollege Michael blieben übrig, mit ihnen traf sich Konrad gelegentlich, bis auch die beiden heirateten, Karriere machten, nach Berlin gingen oder bei einem Stromschlag im Meer ums Leben kamen.
Was das Zusammenbleiben mit Henriette betraf, erübrigten sich diese Grübeleien infolge des Vorfalls im Wohnzimmer. Nach einer energisch vorgetragenen Rede, in der Konrad nicht gut wegkam, erklärte Henriette die Beziehung für beendet und packte sofort ihre Sachen. Zum Teil waren es auch seine Sachen, aber das merkte Konrad erst, als Henriette weg war und er aus seinem Arbeitszimmer kam. Er hatte schon schlimmere Trennungen erlebt, das redete er sich jedenfalls ein.
Sandra zum Beispiel, seine Freundin vor Henriette, hatte ihn damals nach anderthalb Jahren mit der dämlichen Begründung verlassen, er habe eine bessere Freundin verdient. Leider war sie nicht so freundlich, ihm konkrete Personalvorschläge zu unterbreiten. Sie selbst wolle »ihre Freiheit genießen« und »einfach alles auf sich zukommen lassen«. Das Einzige, was sie nicht mehr auf sich zukommen lassen wollte, war Konrad. Daran knabberte er wochenlang. Er verließ seine Wohnung so gut wie nie und wurde sich immer sicherer, dass sie mit »Freiheit genießen« nur hemmungslosen Sex gemeint haben konnte. Konrad hatte Sandra seitdem nur ein Mal gesehen, zufällig beim Einkaufen. Sie trug ein enges pinkfarbenes Oberteil mit der Aufschrift »Sex Bomb«, wobei sich »Sex« über die von ihm aus gesehen linke Brust wölbte, »Bomb« über die rechte. Um ihre Beine schlackerte eine werkseitig mit Bleichungen, Fransen und Kaffee-Flecken versehene Jeans. Konrad fragte sich damals, ob für gesundheitsbewusste Menschen wohl eigens Hosen mit Flecken aus koffeinfreiem Kaffee hergestellt wurden. Versunken in diesen Gedanken verpasste er die Gelegenheit, Sandra anzusprechen. Dabei hätte er ihr so viel zu sagen gehabt, nämlich dass sie für ihn nur zweite Wahl gewesen war und er es eigentlich auf ihre beste Freundin Anja abgesehen hatte. Dass ihr geliebter Möhren-Mandel-Salat einen widerlich bitteren Nachgeschmack hatte. Und dass ihr Lächeln noch hässlicher war als ihre Ohren - die waren Sandras wunder Punkt. Das hätte ihr zumindest den Tag versaut, auch wenn es natürlich gelogen war. Bis auf die Sache mit dem Salat.
Kurz darauf lernte er Henriette bei einer Party im »Studi-Club« kennen - so nannte man die Räume im Keller der Mensa, die Studenten in eigener Regie vergammeln lassen durften. Sie war damals sehr betrunken. So etwas durfte man nicht ausnutzen, aber Konrad machte es trotzdem. Nicht, dass er sie ins Bett bugsierte - sie knutschten nicht mal. Aber er hatte keine Scheu, sie anzusprechen, weil sie nicht mehr in der Lage war, ihn abblitzen zu lassen. Zweieinhalb Stunden wich er nicht von ihrer Seite und sprach über alles Mögliche. Hin und wieder steuerte sie ein »Meine Fresse, bin ich besoffen!« zum Gespräch bei und hielt ihn fest umschlungen. Allerdings nur, weil sie sich aus eigener Kraft nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Strenggenommen war der Abend eine Katastrophe, aber trotzdem konnte Konrad am nächsten Tag daran anknüpfen. In mühevoller, mehrere Wochen dauernder Überzeugungsarbeit gewann er auch die nüchterne Henriette für sich.
Anfangs war alles sehr schön.
Sie gingen miteinander ins Theater, miteinander essen und miteinander ins Bett. Konrad ließ sogar ein paar Abende über sich ergehen, an denen Studienkollegen von Henriette zu Besuch kamen und man sich bei Rotwein allen Ernstes gegenseitig Texte von Sartre vorlas. Zwar konnte er der anschließenden Diskussion nicht folgen, aber er versuchte, den ein oder anderen erhellenden Satz beizusteuern: »Das kann man so und so sehen.« - »Das ist auf jeden Fall eine Überlegung wert.« - »Möchte noch jemand Wein? Dann gehe ich schnell zum Kiosk nebenan.«
Nach etwas mehr als einem Jahr, die Theaterbesuche und der Sex waren schon deutlich seltener, zogen Konrad und Henriette zusammen in eine Drei-Zimmer-Wohnung. Der kleinste Raum stand zunächst voller Gerümpel -...