Schweitzer Fachinformationen
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Eiskalt schwappte die erste Welle in seinen Stiefelschaft. Sofort drang sie bis hinunter zu seinem Fuß. Immerhin war die Ostsee nicht mehr gefroren. Mit jedem Schritt über die glitschigen Steine kam ein neuer Schwall. Johann Fagus Rittberger verlor mehr und mehr das Gefühl in seinen Zehen. Neben ihm teilten zwei Fischer in hohen Watstiefeln das Wasser. Das Grau der Morgendämmerung wollte an diesem Vormittag des Jahres 1824 nicht weichen. Erfolglos hatte Johann probiert, eine trennende Linie zwischen Ostsee und Himmel auszumachen. Vor ihm schwamm eines jener typischen schwarz geteerten Fischerboote mit Rudern und Segelmast. Einer der beiden Männer packte das Seil am Bug.
»Einen Anker hätte sie ja mal setzen können«, rief er.
»Wozu denn? Seit Josefstag weht kein Lüftchen mehr. Nicht mal angelandet ist das olle Boot«, erwiderte der andere.
Große Steine ragten im Küstenbereich aus dem Wasser. Möglich, dass es sich zwischen denen verkantet hatte. Woher es nur gekommen war?
Die Fischer hatten das herrenlose Boot früh morgens entdeckt. Hier gab es niemanden, der ihnen offiziell genug vorgekommen wäre, damit sie ihm einen solchen Fund meldeten: kein Polizeihaus, keinen Bürgermeister - nur eine Handvoll in die Schlucht gedrückter Reethäuser mit Ställen und Dunghaufen daneben. Deshalb hatten sie den >hohen Herrn< aus dem Hotel Bellevue geholt. In einiger Entfernung am Strand warteten jetzt ihre Frauen und Kinder, um einen Blick auf die >dode fiene Fru ut'm Water< zu werfen.
»Schau nach, was mit dieser Frau los ist, Johann«, hatte Offizier von Wrangel seinen Burschen angewiesen, kaum dass sie am Strand angelangt waren.
Zwar lag das Boot nicht weit vom Ufer, aber dennoch hatte sich der Bursche über die schnelle Auffassungsgabe seines Herrn gewundert. Denn außer einem Streifen blassgrünen Organza-Stoff gab es keinen Hinweis darauf, dass sich überhaupt jemand im Boot befand. Wie konnte er da so schnell begreifen, dass es sich bei dem Bündel unter der Ruderbank um einen Menschen handelte - noch dazu um einen weiblichen?
Offenbar hatte sein Herr die besseren Augen. Oder sein höherer Wuchs verschaffte ihm diesen Vorteil. Oder, überlegte Johann, während er sich durch das eiskalte Wasser schob, die schwache Vorstellungskraft seines Herrn ließ einfach keine andere Möglichkeit zu.
Von der Frau auf dem Bootsboden sah er jetzt die gelöste Hochfrisur, das Kleid verrutscht, ihre wächsernen Beine angewinkelt. Sie war tot. Eine Spitze des zart gewebten Tuchs hing über die Reling. Im Einklang mit dem kleinen Wippen des Bootes schwang es wie zum Abschiedsgruß. Die beiden Fischer hielten inne, bekreuzigten sich und blickten einen Moment hinab.
Dann packten sie wortlos das Seil und schleppten das Boot hinter sich her. Neben dem Heck tauchte ein Gegenstand aus dem Wasser auf. Johann glaubte, eine leere Flasche zu erkennen. Er bewegte sich darauf zu, als sich das Boot an einem der Steine verkeilte.
»He, die Schaluppe klemmt!« Die beiden Männer hatten sich umgedreht und sahen ihn erwartungsvoll an.
Also ging er achtern und lavierte das Boot zwischen den Steinen hindurch. Als er sich umsah, konnte er auf der Oberfläche keinen Gegenstand mehr ausmachen. Wo genau war der aufgetaucht? Und was hatte Johann gesehen - wirklich eine Flasche? Bestimmt gaukelte ihm seine Vorstellungskraft etwas vor. Eine Flaschenpost - die kam in Piratenromanen vor, die er im Bücherregal seines Herrn fand.
Am Strand halfen Männer, das Boot auf die schwarz-weißen Feuersteine zu ziehen. Johann leerte seine Stiefel aus. Seine Zehen waren vom gleichen Wachsgelb wie die Haut der Toten.
Tassilo von Wrangel gab sich bei so viel Publikum allen Anschein der Seriosität. Er nahm Haltung an und befahl in zackigem Ton, die Tote herauszuheben. Unter einigem Gestöhne hievten sie drei Männer hoch. Johann nahm sie, zusammen mit einem weiteren Fischer, auf der Landseite in Empfang. Unter dem enganliegenden Kleid lagen ihre Schultern weich wie Pudding in seinen Händen. Er schauderte. Den einen oder anderen Toten hatte er schon verräumt, aber eine Frau - das war etwas anderes.
Der Offizier beugte sich über sie.
»Eine Dame in den besten Jahren, Gott habe sie selig«, nuschelte er, zu niemand Bestimmtem. Sein Blick tastete die Spitze des Kleides, die dazu passenden Handschuhe, die Strümpfe ab.
»Erlesen und entschieden edel«, wisperte er anerkennend, »sie scheint direkt von einem gesellschaftlichen Ereignis in diese Lage geraten zu sein.«
Mit einem ungelenken Ruck zog ein Fischer das Kleid über ihre Beine. Johann nahm das Tuch vom Bootsrand und bedeckte ihren Körper damit.
Einer der Fischer fragte vage in von Wrangels Richtung: »Was sollen wir jetzt damit machen?«
Der schaute ihn ausdruckslos an, als habe er nicht gehört, dass etwas gesagt worden war.
Mit seinem Zeigefinger tippte der Fischer bekräftigend auf das teergetränkte Holz.
»Was sollen wir jetzt damit machen?«, wiederholte er lauter.
Für ein Boot solcher Größe brauchte es bestimmt drei, vier oder fünf Sassnitzer, um hinauszurudern, die Segel zu setzten und den Fang einzuholen.
Von Wrangel wandte sich an seinen Burschen: »Weißt du, was er meint?«
Statt seinem Herrn zu antworten, fragte Johann den Fischer direkt: »Gehört das Boot denn nicht euch?«
»Nein, nein, unsers ist das nicht«, sagte der eine.
»Haben wir noch nie hier gesehen«, ein anderer.
Diese Bekräftigung ließ den Offiziersburschen aufhorchen. Seit wann verloren diese Männer im Beisein von Fremden auch nur ein unnützes Wort? Etwas stimmte nicht, Johann hatte das Gefühl, als verheimlichten sie ihm was. Doch sie ließen die Pause, die entstand, verstreichen und schwiegen.
»Dann sichern wir es gegen Sturm und warten ab. Wenn sich die Besitzer melden, gebt uns Bescheid.«
Von Wrangel stand am obersten Rand des Strandes und beobachtete stumm, wie die Männer das Boot hinaufzogen und es kielaufwärts legten. Dann kamen zwei Sassnitzer mit einem Türblatt zwischen sich den Pfad hinuntergelaufen.
»Warum, um Gottes willen, schleppen diese Männer ihre Eingangstür an den Strand?«, verständnislos sah von Wrangel Johann an.
Der stellte sich neben seinen Offizier, reckte sich und sagte leise: »Für die Aufbahrung.«
»Sehr gut, ich verstehe«, von Wrangel räusperte sich und sagte laut, »transportiere mit den Männern zusammen die Leiche ins Hotel, ich veranlasse alles Weitere. Und: Verliere sie nicht aus den Augen, verstanden?«
Er drehte sich um und entfernte sich über die metallisch klingenden Feuersteine.
Wie um Himmels willen sollte Johann die Tote aus den Augen lassen, wo sie kaum eine Elle vor ihm lag? Drei Fischer und er packten je eine Ecke des Türblattes und hoben es einigermaßen gleichzeitig an. Dann setzten sie vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Hinter ihnen bildete sich ein kleiner >Leichenzug<, bestehend aus einigen Männern und den Frauen und Kindern, die am Strand zugesehen hatten.
In den besten Jahren, dachte Johann, als er die eigenwillige Bahre an der rechten Schulter der Toten anhob, das konnte auch nur von Wrangel einfallen.
Die Ruhe und Andacht, die normalerweise in einer Trauergemeinde vorherrscht, ging der kleinen Gesellschaft ab. Kaum war der Hochwohlgeborene außer Hörweite, fingen sie an, Johann aufzuziehen.
»Ist dein Offizier in ein Heringsfass gefallen?«, fragte der vom linken Fuß der Toten. Der Angesprochene wusste nicht, was er meinte und antwortete vorsichtshalber nicht.
»Wie meinst du das, Fiete?«, fragte statt ihm der Fischer, der die Ecke an der linken Schulter hielt.
»Also entweder«, Fiete drehte seinen Kopf mit dem kupferfarbenen Haar in Richtung der Leute, »dieser feine Pinkel ist durch eine Salzlake gut konserviert - aber das kann ich mir nicht vorstellen - oder er hat einen vermaledeit alten Burschen.«
Einige im Trauerzug kicherten.
»>Bursche<, nennst du den? Dem Offizier sein Greis, wär' wohl richtig«, ergänzte der vom rechten Fuß in unsauberem Deutsch. Er erntete einige Lacher.
Wahrlich zählte Johann nicht zu den Privilegierten, was sein Äußeres betraf. Klein und schmächtig, wenngleich Brust, Arme und Beine auf kindliche Art einen drahtigen Eindruck machten. Doch das Unvorteilhafteste an ihm war sein Gesicht: Es stieß geradezu ab. Sogar im Sommer blieb es ungesund weiß, und die klitzekleinen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Dass die Menschen zuweilen über sein Aussehen offen lachten, das passierte ihm nicht zum ersten Mal.
Zusätzlich hatte sich die Bestimmung in der letzten Zeit einen weiteren Spaß erlaubt: Um seinen Mund und auf der Stirn bildeten sich lange, immer tiefer werdende Falten. Dadurch erschien er älter als er Lenze zählte. Dennoch: Mit dreißig Jahren war er auf jeden Fall zu alt für einen Burschen. Das hatten die Fischer klar erkannt.
In Berlin ließ es ihn kalt, was fremde Leute von ihm dachten. Doch hier in...
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