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Mit einer gewissen Portion Wehmut blickte David Bronstein auf das vor ihm befindliche Kalenderblatt. Theoretisch verblieben noch genau 25 Arbeitstage bis zu seiner Pensionierung. Doch da man ihm geraten hatte, den offenen Resturlaub nicht zu konsumieren, würde der 5. November, ein Freitag, wie ihm der Kalender verriet, sein allerletzter Arbeitstag sein. Dann kamen 41 Jahre und drei Monate Dienst in der Wiener Polizei zu einem wahrlich banalen Ende.
Er hatte, wie es so schön hieß, durchaus in interessanten Zeiten gelebt, und manch einer seiner Fälle durfte mit einiger Berechtigung spektakulär genannt werden. Doch die lagen samt und sonders weit zurück, und seit Innenminister Helmer vor einem guten Jahr Bronsteins Chef Dürmayer abmontiert und aus dem Polizeidienst gedrängt hatte, war es um Bronstein recht einsam geworden. Anfang des Jahres fand er sich, ebenfalls aus der Staatspolizei abberufen, in der Gruppe IV des Kommissariats Leopoldstadt wieder, die er zwar als Oberst formell leiten durfte, deren Mitarbeiter aber herzlich wenig auf seine Anweisungen gaben. Und er selbst war viel zu müde, um mit 64 Lenzen noch einen solchen Konflikt zu führen. Ein eigenbrötlerischer Sonderling, der seine Tage auf der Wachstube zubrachte und es mit Matthäus 5,37 hielt. Erstattete ihm nämlich doch einmal einer der Inspektoren Bericht, dann antwortete er "Ja, ja" oder "nein, nein", denn eigentlich war alles von Übel, nicht nur, was über diese Worte hinausging. Jeden Abend nach getaner Arbeit schlich er müde in seine Wohnung in der Walfischgasse, wo er sich eine kraftlose Suppe einverleibte, ehe er in einen unruhigen Schlaf flüchtete. Und so sehr er unter der unverhohlenen Verachtung litt, die ihm die Kollegen entgegenbrachten, noch mehr fürchtete er die ultimative Einsamkeit, wenn er nicht einmal mehr seinen Schreibtisch in der Leopoldstadt ansteuern konnte. Alle Bücher waren gelesen, alle Verfügungen erlassen, auf die Akte seines Lebens hatte man längst den Deckel draufgetan. Und in neun Tagen würde er nicht einmal mehr feindselige Gesichter um sich haben, nur noch alte Tapeten, auf denen ein paar vergilbte Bilder hingen. Wenn er sich zu einer letzten Aktivität würde aufraffen können und die Fenster- und Türstöcke neu strich, dann würde er im Anschluss wenigstens der Farbe beim Trocknen zusehen können.
Nicht, dass er im Büro sonderlich mehr zu tun gehabt hätte. In den zehn Monaten, die er in der Leopoldstadt nun Dienst tat, hatte es dort kein einziges Gewaltverbrechen gegeben. Kein einziges. Einmal war seine Gruppe zu einem Raufhandel hinzugezogen worden, ein anderes Mal hatte man um ihre Assistenz beim Hochnehmen eines Schwarzhändlerrings am Karmelitermarkt ersucht, doch in beiden Fällen war es Bronstein nicht einmal vergönnt gewesen, wenigstens den Bericht dazu zu verfassen. Er brachte seine Tage damit zu, die Artikel im "Neuen Österreich" auswendig zu lernen und sich an Zeiten zu erinnern, die, je länger sie zurücklagen, immer mehr an Glanz zu gewinnen schienen.
An diesem Dienstag, so gestand er sich ein, würde das kaum anders sein. Nowotny, einer der jüngeren Kollegen, die ihm nicht ganz so verachtungsvoll gegenüberstanden, ließ sein Gesicht in der Türfüllung blicken. "Herr Oberst", begann er, "wir haben hier einen alten Herrn, der behauptet, er sei Augenzeuge einer Entführung gewesen. Er schließt ein Gewaltverbrechen nicht aus. Sollen wir das zu Protokoll nehmen, oder wollen Sie mit ihm sprechen? Immerhin dürfte er ihrer Generation angehören."
Bronstein griff den Gedanken Nowotnys gerne auf. Ein wenig Abwechslung, so befand er, mochte wahrlich nicht schaden. Für ihn genauso wenig wie für den anderen Alten. Zwei Greise, die nicht mehr viel hatten von ihrer Existenz und denen ein Gespräch daher schon ein einsamer Höhepunkt in einer See voll Plagen sein mochte. "Nur herein mit ihm", sagte Bronstein daher jovial.
Wenig später saß ihm ein kleines Männlein gegenüber, das sich als Richard Meister vorstellte. Er wohne auf Untermiete in der Praterstraße, weil seine ursprüngliche Wohnung in der Rotensterngasse nach wie vor nicht benützbar sei. Und weil die Verhältnisse in seiner derzeitigen Bleibe insgesamt eher beengt seien, verbringe er trotz der nun schon eher kühlen Jahreszeit viel Zeit am offenen Fenster. "So auch gestern am Abend, Herr Inspektor", leitete Meister zum Grund seines Hierseins über. "Wissen Sie, ich bin ja eigentlich schon lange in Pension, und da hat man nicht mehr viel vom Leben. Also lehne ich auf meiner Fensterbank und schau, was sich draußen so tut." Bronstein nickte verständnisvoll. Er hatte eine sehr konkrete Vorstellung von dem, was Meister ihm eben geschildert hatte.
"Na, und auf einmal sehe ich da diesen Mann, der gehetzt in Richtung Donaukanal läuft. Hinter ihm vier Männer, die rasch aufholen." Meister räusperte sich. "Ich denke mir noch, das schaut aber gar nicht gut aus, als der Mann sich plötzlich umdreht." Der Alte machte eine dramatische Pause. "Gleich danach haben sie ihn bewusstlos geschlagen und in ein Auto verfrachtet, das genau in diesem Augenblick um die Ecke kam."
Unwillkürlich musste Bronstein an die Berichte denken, die es immer wieder in Sachen Menschenraub in Wien gab. Zumeist wurden solche Aktivitäten der Sowjetunion zugerechnet, die Personen auf diese Art in ihr Staatsgebiet verschleppte, wo sie dann meist für immer verschwanden. Und die Leopoldstadt, sie war sowjetisches Territorium. Gut möglich also, dass der KGB einen Spion oder auch nur jemanden, der zur falschen Zeit den falschen Satz gesagt hatte, auf diese Weise aus dem Verkehr gezogen hatte. Nur wenn es so war, dann war nicht nur ihm, sondern dann waren der gesamten Wiener Polizei die Hände gebunden. Gegen die Alliierten durfte nicht ermittelt werden. Außerdem schien es mehr als fraglich, die Identität des Betroffenen eruieren zu können. Solange also niemand bei ihnen am Kommissariat antanzte, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben, solange würde niemand wissen, wen sich die Sowjets da geschnappt hatten.
"Ich weiß schon, was Sie sich jetzt denken, Herr Inspektor", fuhr Meister zwischenzeitlich fort, "aber glauben Sie mir, wie Russen haben die nicht ausgeschaut."
"So? Wie schauen Russen denn aus?" Meister zuckte mit den Achseln. "Na ja, militärischer. So vierschrötig, verstehen Sie? Mit Ledermänteln und Stiefeln. Und die fahren auch keinen schäbigen Kübelwagen, die haben einen ZIS oder wenigstens einen Moskwitsch. Die Männer, die ich gesehen habe, die trugen abgewetzte Militärmäntel der Wehrmacht, und sie wirkten auch weit eher wie abgehalfterte Landser als wie Rotarmisten."
"Herr Meister, Ihre Beobachtungsgabe ist bemerkenswert", entfuhr es Bronstein. "Aber leider nützt uns das so lange nichts, solange wir nicht wissen, um wen es sich bei dem Opfer handelt."
"Damit haben Sie natürlich recht, Herr Inspektor. Aber irgendwas sagt mir, dass der Herr ein Ausländer war."
Bronstein zog die Augenbrauen hoch. "Ein Ausländer? Wie kommen Sie jetzt da drauf?"
"Der war nämlich viel zu gut gekleidet für einen Wiener, wissen Sie. Er trug einen langen, schwarzen Mantel. Sehr, sehr gute Qualität. Ich konnte das auf die Entfernung natürlich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber es würde mich nicht wundern, wenn es sich dabei um Kaschmir gehandelt hätte. Oben am Kragen", Meister deutete mit dem Finger bei sich auf die entsprechende Stelle, "wies das Kleidungsstück einen Pelzbesatz auf. Und er trug einen breitkrempigen Hut", ergänzte der Mann.
"Ein langer schwarzer Mantel und ein breitkrempiger Hut. Sind Sie sicher", Bronstein verhehlte seine Skepsis nicht, "dass Sie an einen Ausländer denken? Was Sie mir da beschreiben, das klingt weitaus eher nach einem ."
"Ich weiß schon, was Sie sagen wollen, Herr Inspektor. Dass ich einen Juden gesehen habe. Genau deswegen glaube ich ja, dass es sich bei dem Herrn um einen Ausländer handelte. Denn unsere Juden, die sind ja alle weg, nicht wahr. Die wurden ja ."
Meister brauchte den Satz nicht zu vollenden, Bronstein wusste auch so, was der Mann meinte. "Vielleicht handelte es sich aber um einen Emigranten, der nach Hause zurückgekehrt ist", gab er zu bedenken, und stieß damit bei Meister auf Unverständnis. "Aber Herr Inspektor! Wer damals noch rechtzeitig flüchten konnte, der hat es sich doch in der Zwischenzeit ganz sicher verbessert. Ob der jetzt in Amerika, in England oder vielleicht sogar schon in Palästina lebt, er hat sich dort mittlerweile eingelebt. Warum sollte der in dieses Wien zurückkehren, wo nichts als Not und Elend ist?"
"Ich war auch in der Emigration", statuierte Bronstein, "und bin zurückgekehrt." Meister sah Bronstein erstaunt an. "Was Sie nicht sagen, Herr Inspektor. Das hätte ich mir jetzt nicht gedacht. So schauen Sie nämlich gar nicht aus."
Bronstein spürte, wie aus seinem Inneren allmählich wachsender Unmut aufstieg. "So? Wie meinen Sie das genau, dass ich nämlich gar nicht so ausschau?"
"Na ja, Sie wissen schon." Meister suchte verzweifelt nach einer politisch unverfänglichen Erklärung. "Sie tragen keine Kopfbedeckung", platzte es endlich aus ihm heraus. "Nicht alle, die damals fliehen mussten, waren Juden", gab Bronstein zu bedenken. "Ja, ja", Meister wähnte sich wieder auf sicherem Grund, "ich weiß schon, es gab auch Politische. Sozis zum Beispiel, und sogar der Otto, der Sohn von Karl dem Letzten, ist nach Amerika palisiert. Aber seien wir ehrlich, das war doch eine verschwindende Minderheit. Ein paar...
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