Schweitzer Fachinformationen
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Ohne die Hand vom linken Griff des Motorradlenkers zu nehmen, kann ich auf meiner Uhr sehen, daß es halb neun ist. Der Fahrtwind ist sogar bei sechzig Meilen pro Stunde warm und feucht. Ich frage mich, wie es erst am Nachmittag werden soll, wenn es schon um halb neun so schwül ist.
In den Wind mischen sich stechende Gerüche von den Sümpfen an der Straße. Wir sind in einem Teil der Central Plains, in dem dicht beieinander Tausende von Ententümpeln liegen, und fahren nordwestwärts, von Minneapolis nach den Dakotas. Auf der alten zweispurigen Betonstraße ist nicht mehr viel Verkehr, seit vor einigen Jahren parallel dazu eine vierspurige gebaut wurde. Wenn wir durch sumpfiges Gelände fahren, kühlt sich die Luft spürbar ab. Kaum liegt es hinter uns, erwärmt sie sich wieder.
Ich bin glücklich, wieder in dieses Land zu kommen. Es ist eine Art Nirgendwo, eine Gegend, die für nichts berühmt und gerade deshalb irgendwie anziehend ist. Spannungen lösen sich, wenn man auf so einer alten Straße fährt. Wir holpern über den ramponierten Beton, rechts und links ziehen Rohrkolben vorbei, ab und zu ein Stück Wiese, dann wieder Rohrkolben, Spartgras. Hier und da blinkt offenes Wasser, und wenn man genau hinschaut, kann man Wildenten am Rande der Rohrkolben sehen. Und Schildkröten . Da, ein Sumpfhordenvogel.
Ich klatsche Chris aufs Knie und zeige in die Richtung.
»Was?« schreit er.
»Sumpfhordenvogel!«
Er sagt etwas, aber ich kann ihn nicht verstehen. »Was?« schreie ich zurück.
Er hält sich hinten an meinem Helm fest und schreit zu mir herauf: »Hab' ich schon massenweise gesehen, Dad!«
»Ach so«, schreie ich zurück. Dann nicke ich. Mit elf Jahren ist man von Sumpfhordenvögeln nicht sonderlich beeindruckt.
Dazu muß man erst älter werden. Für mich sind da überall Erinnerungen, die er nicht hat. Kalte Morgen, vor langer Zeit, das Spartgras hatte sich braun gefärbt, und die Rohrkolben schwankten im Nordwestwind. Der stechende Geruch kam damals von dem Schlamm, den wir mit unseren hüfthohen Wasserstiefeln aufwühlten, wenn wir vor Sonnenaufgang auf den Anstand gingen, um die Entenjagd zu eröffnen. Oder die Winter, wenn die Tümpel zugefroren und tot waren und ich über Eis und Schnee durch die abgestorbenen Rohrkolben wandern konnte und nichts sah als grauen Himmel und Totes und Kälte. Dann waren die Sumpfhordenvögel fort. Aber jetzt im Juli sind sie wieder da, alles ist quicklebendig, und jeder Fußbreit dieser Sümpfe zirpt und summt und schnarrt und zwitschert, eine Gemeinschaft von Millionen lebender Wesen, deren Dasein sich in einem friedvollen Kontinuum erfüllt.
Wenn man mit dem Motorrad Ferien macht, sieht man die Welt mit anderen Augen an. Im Auto sitzt man ja immer in einem Abteil, und weil man so daran gewöhnt ist, merkt man nicht, daß alles, was man durchs Autofenster sieht, auch wieder bloß Fernsehen ist. Man ist passiver Zuschauer, und alles zieht gleichförmig eingerahmt vorüber.
Auf dem Motorrad ist der Rahmen weg. Man ist mit allem ganz in Fühlung. Man ist mitten drin in der Szene, anstatt sie nur zu betrachten, und das Gefühl der Gegenwärtigkeit ist überwältigend. Der Beton, der da fünf Zoll unter den Füßen durchwischt, ist echt, derselbe Stoff, auf dem man geht, er ist wirklich da, so unscharf zwar, daß er sich nicht fixieren läßt, aber man kann jederzeit den Fuß darauf stellen und ihn berühren; man erlebt alles direkt, nichts ist auch nur einen Augenblick dem unmittelbaren Bewußtsein entzogen.
Chris und ich fahren mit Freunden, die ein Stück vor uns sind, nach Montana und vielleicht noch weiter. Wir haben bewußt keine festen Pläne gemacht, weil Fahren uns wichtiger ist als Ankommen. Wir machen einfach Ferien. Landstraßen zweiter Ordnung ziehen wir vor. Asphaltierte Bezirksstraßen stehen ganz oben, dann kommen Staatsstraßen, Autobahnen meiden wir, wo es geht. Wir wollen gut vorankommen, aber die Betonung liegt für uns mehr auf dem »gut« als auf dem »vorankommen«, und mit dieser Akzentverschiebung stellt sich ein ganz anderes Verhältnis zur Zeit ein. Gewundene Bergstraßen sind lang, wenn man nach Sekunden rechnet, aber sie machen viel mehr Spaß, wenn man sich mit dem Motorrad in die Kurve legt, statt daß es einen in irgendeinem Abteil von einer Seite auf die andere zieht. Straßen mit wenig Verkehr sind erfreulicher und außerdem sicherer, Straßen ohne Drive-in-Restaurants und Reklametafeln, Straßen, bei denen Wäldchen und Wiesen und Obstgärten und Rasenflächen fast bis an die Bankette heranreichen, wo einem im Vorüberfahren Kinder zuwinken, wo die Leute von der Veranda aufschauen, um zu sehen, wer da kommt, wo die Antworten, wenn man anhält, um nach dem Weg zu fragen oder andere Auskunft zu erbitten, meist länger ausfallen als erwartet, wo die Leute wissen wollen, woher man kommt und wie lange man schon unterwegs ist.
Es ist jetzt ein paar Jahre her, daß meine Frau und ich und unsere Freunde zum erstenmal auf den Gedanken kamen, diese Landstraßen zu benutzen. Wir nahmen sie ab und zu, um mal was Neues auszuprobieren oder als Abkürzung zu einer anderen Fernverkehrsstraße, und jedesmal war die Landschaft großartig und wir waren hinterher froh und entspannt. Das wiederholte sich viele Male, bevor uns endlich aufging, was wir eigentlich von Anfang an hätten merken müssen: Diese Landstraßen sind mit den großen Fernstraßen überhaupt nicht zu vergleichen. Der Lebensrhythmus der Leute, die an diesen Straßen wohnen, ist anders, ihre ganze Art ist anders. Sie sind nicht ständig irgendwohin unterwegs. Sie sind nicht zu beschäftigt, um höflich zu sein. Sie kennen sich aus im Hier und Jetzt der Dinge. Nur die anderen, die vor Jahren in die Städte gezogen sind, und ihre verlorenen Nachkommen, die haben es fast völlig vergessen. Für uns war es eine richtige Entdeckung.
Ich habe mich oft gefragt, warum wir erst so spät darauf kamen. Wir sahen es und sahen es doch nicht. Oder besser gesagt, wir waren darauf abgerichtet, es nicht zu sehen. Vielleicht weil man uns eingeredet hatte, das wirkliche Leben spiele sich in den Großstädten ab, und das da sei nichts weiter als langweilige Provinz. Es ist wirklich eigenartig. Da klopft die Wahrheit an die Tür, und man sagt ihr: »Geh, ich warte auf die Wahrheit«, und dann geht sie eben. Eigenartig.
Aber als wir es endlich wußten, konnte uns natürlich nichts mehr von diesen Straßen abbringen, an Wochenenden, an Feierabenden, in den Ferien. Wir sind richtige Landstraßen-Fans geworden mit unseren Motorrädern und haben dabei mit der Zeit manches gelernt.
Zum Beispiel haben wir gelernt, schon auf der Karte die richtigen Straßen ausfindig zu machen. Wenn die Linie sich schlängelt, ist das ein gutes Zeichen. Denn das bedeutet Berge. Wenn es sich aber um die mutmaßliche Hauptverbindung zwischen einer kleineren und einer großen Stadt handelt, dann ist das ein schlechtes Zeichen. Die besten Straßen sind immer diejenigen, die einen abgelegenen Flecken mit einem anderen verbinden und zu denen es eine Parallelstraße gibt, auf der man schneller ans Ziel kommt. Fährt man von einer größeren Stadt aus nach Nordosten, dann geht es nie lange geradeaus. Kaum ist man auf dem flachen Land, schwenkt die Route nach Norden, dann nach Osten, dann wieder nach Norden, und schon bald ist man auf einer kleinen Landstraße, die nur von den Einheimischen benutzt wird.
Vor allem aber muß man lernen, sich nicht zu verfahren. Da die Straßen nur von den Einheimischen benutzt werden, die sich sowieso auskennen, beschwert sich niemand, wenn die Kreuzungen nicht beschildert sind. Oft genug sind sie es nicht. Und wenn, dann höchstens mit einem kleinen Wegweiser, der unaufdringlich im hohen Gras am Straßenrand steht. Übersieht einer diesen Wegweiser im Gras, dann ist das sein Problem, nicht das der Einheimischen. Obendrein stellt man fest, daß die Autokarten es mit den kleinen Landstraßen oft nicht so genau nehmen. Und immer wieder mal passiert es einem, daß aus einer »Bezirksstraße« ein Fahrweg wird, dann ein schmaler Feldweg, der auf eine Weide führt und einfach aufhört; oder man landet auf dem Hinterhof einer Farm.
So orientieren wir uns hauptsächlich an der Himmelsrichtung und der zurückgelegten Strecke und versuchen im übrigen, jeden Hinweis zu deuten, der sich uns bietet. Ich habe in einer Tasche einen Kompaß für bedeckte Tage, an denen man sich nicht nach der Sonne richten kann, und die Karte habe ich in einer Spezialtasche auf dem Benzintank befestigt, so daß ich die seit der letzten Kreuzung zurückgelegte Strecke verfolgen kann und immer weiß, worauf ich achten muß. Mit diesen Hilfsmitteln und ohne den Zwang, zu bestimmter Zeit irgendwo »anzukommen«, geht es wunderbar, und wir haben Amerika beinahe ganz für uns allein.
An verlängerten Wochenenden fahren wir auf diesen Straßen oft meilenweit, ohne einem anderen Fahrzeug zu begegnen, und dann kreuzen wir eine Fernverkehrsstraße und betrachten uns die Autokolonnen, Stoßstange an Stoßstange bis zum Horizont. Drinnen mißmutige Gesichter. Auf dem Rücksitz schreiende Kinder. Dann wünsche ich mir immer, daß es eine Möglichkeit gäbe, ihnen etwas zu sagen, aber sie sind so mißmutig und haben es offenbar so furchtbar eilig, und außerdem .
Ich habe diese Sümpfe schon tausendmal gesehen, aber sie sind jedesmal wieder neu. Es ist falsch, sie friedvoll zu nennen. Man könnte sie genausogut als grausam und sinnlos bezeichnen, denn das sind sie auch, aber ihre Realität läßt Halbheiten nicht zu. Da! Ein riesiger Schwarm Sumpfhordenvögel fliegt aus seiner Nistkolonie in den Rohrkolben auf, durch unser Geräusch...
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