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Das geschmierte Brot blieb dem Vater an den Lippen hängen. Jeder erstarrte vor seinem dampfenden Kaffee. Ein Frauenschrei von der Straße her. Weinen, Gekreische, das Wiehern eines Pferdes. Der Vater öffnete das Fenster. Schlagartig wurde es eiskalt in der kleinen Küche. Er rief einen Mann draußen. Ein paar Worte wurden gewechselt, übertönt vom Stimmengewirr der Straße. Die Mutter, Marcel und Henri, die beiden Söhne, sahen Renée schweigend an. Doch Renée biss schnell noch zweimal in ihr Butterbrot, sie hatte schließlich Hunger. Der Vater machte das Fenster wieder zu. Er schien um zwei Jahre gealtert zu sein.
»Sie kommen zurück«, sagte er mit dumpfer Stimme.
Die Mutter bekreuzigte sich.
»Wir müssen etwas tun für Renée«, setzte der Vater erneut an.
»Nein!«, entfuhr es der Mutter mit einem Schluchzen.
Sie wagte das Kind nicht mehr anzusehen. Auch Henri hatte sich abgewandt. Marcel dagegen ließ Renée nicht aus den Augen. Der Vater stand wie angewurzelt da, vollkommen verkrampft, die Gesichtszüge entstellt vor Angst. Er starrte seine Frau an.
»Weißt du, warum sie Baptiste erschossen haben? Weil er Fahnen von den Inglischmen im Keller hatte. Da ist es für eine Jüdin .«
Die Mutter bedeutete ihm, still zu sein. Eine Jüdin. Sagte man dieses Wort? Die Mutter hatte nie richtig verstanden, worin das bestehen sollte, Jude sein. Es war gefährlich, Punkt. Bald waren fünf Monate vergangen, seit Renée bei ihnen angekommen war. Ein Kind von sechs oder sieben Jahren, man wusste es nicht so genau. Etwas wild und stolz mit ihren schwarzen Augen, wie man sie nur bei Zigeunern sah. Augen, die einen auf Schritt und Tritt verfolgten, die einen verschlangen, intelligente Augen, das ja, mit Sicherheit. Gierig, immer wachsam, an allem interessiert, und die alles zu verstehen schienen . Renée machte ihnen ein bisschen Angst. Außer Marcel, der sich ganze Tage lang draußen mit ihr herumtrieb. Im September hatte man die Befreiung gefeiert, niemand war gekommen, um sie abzuholen. Und jetzt ging der Albtraum wieder los. Um Himmels willen . Mitten im Winter, auch das noch. Der Vater hatte begonnen, von einem Fuß auf den anderen zu treten.
»In weniger als einer halben Stunde sind sie hier, die Boches. Und die Piersons wissen Bescheid. Die werden sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, zu quatschen.«
Die Mutter wusste, dass er recht hatte. Catherine Piersons hasserfüllte Blicke während der Messe sprachen Bände.
»Na los . Komm, Renée«, flüsterte der Vater.
Die Kleine stand auf, stellte sich brav neben ihn. Die Mutter spürte ihr Herz bis zum Halse schlagen. Warum wühlte es sie plötzlich derart auf, sich von Renée trennen zu müssen? Sie hatte nie das Gefühl gehabt, dieses Kind wirklich zu lieben. Sie beobachtete, wie die Kleine in den Mantel schlüpfte, mit ihren Patschhändchen an den Knöpfen fummelte. Der Vater zog ihr ruppig eine Pudelmütze über. Das Kind war ruhig, so ruhig, und doch gespannt wie ein Flitzebogen, bereit zu handeln, zu reagieren, genau das zu tun, was sein musste, wie immer. Diese Art, das war etwas, womit es die Mutter zur Weißglut bringen konnte . aber nicht heute. Abrupt stand sie auf und verschwand im Flur. Man hörte sie schniefend die Treppe hinaufsteigen, vier Stufen auf einmal.
»Kommt schon, ihr zwei, umarmt die Kleine«, sagte der Vater.
Die Jungen erhoben sich vom Tisch und kamen näher. Henri, der Ältere, berührte kaum ihre Wange. Marcel, der auf die elf zuging, hielt sie lange an sich gepresst. Schließlich stieß Renée ihn sanft zurück. Er weinte. Sie sah ihm tief in die Augen, küsste ihn auf die Wange, dann drehte sie sich um und schob ihre Hand in die des Vaters. Die Mutter kehrte in die Küche zurück, einen kleinen Koffer in der einen Hand und in der anderen ein ziemlich zerlumptes Stoffmännchen, das sie Renée reichte. Sie küsste das Kind auf die Stirn. Der Vater ergriff den Koffer, öffnete die Tür und führte Renée in die Kälte, die Schreie, die Panik, die Gefahr. Die Tür schloss sich mit einem trockenen Knall. Die Mutter verharrte lange mit verlorenem Blick, die Hände leicht erhoben und geöffnet, in einer innegehaltenen Geste, wie man sie von Bettlern kennt. Murmelnd wandte sie sich ihren Söhnen zu:
»Sie hat ihre Handschuhe nicht an.«
Der Vater rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her. Renée flog geradezu an seiner Seite, ihre Hand zerquetscht von dem eisernen Griff, die Wangen gepeitscht vom eisigen Wind aus dem Norden. Ringsum, im Schnee, herrschte Chaos. Die Augen der Kleinen verfingen sich kurz in denen einer Greisin, die klagend auf einem Karren saß, zwischen Matratzen und Blechschüsseln, ein wimmerndes Baby in den Armen. Etwas weiter zerrten ein Mann und eine Frau, jeder an einer Seite, unter lauten Beschimpfungen an einer Steppdecke. Eine Mutter rief weinend einen Vornamen, während sie in alle Richtungen panische Blicke warf; der Rest der Familie wartete auf einem Fuhrwerk, um das Dorf zu verlassen. Renée war verblüfft über die traurig im Leeren schaukelnden Beine, immer paarweise und seltsam ruhig inmitten dieser ganzen Aufregung. Die meisten machten sich zu Fuß auf den Weg, mit Sack und Pack, Kindern oder Alten auf dem Rücken oder in Kinderwagen.
Der Vater und Renée erreichten den Platz. Sie stürzten die Treppe zum Pfarrhaus hinauf. Der Vater betätigte die Glocke. Sekunden später öffnete sich die Tür und die hohe Gestalt des Pfarrers erschien. Er bat sie in sein Wohnzimmer. Im Kamin brannte ein großes Feuer, das unstete Schatten auf die Holztäfelungen warf, mit denen die Wände vollständig bedeckt waren. Es roch gut nach Wachs. Der Vater trug sein Anliegen vor.
»Hier ist sie auch nicht besser in Sicherheit«, sagte der Pfarrer.
»Aber sicher doch«, brummte der Vater.
Wo auch immer in diesem Moment, besser als bei ihm zu Hause. Als er Renée vor fünf Monaten bei sich aufgenommen hatte, wusste der Vater, welches Risiko er einging, für sich und für seine Familie. Aber damals glaubte man, der Krieg sei zu Ende; seit Monaten hatte man keine Deutschen mehr in der Gegend gesehen. Und heute standen diese Dreckskerle von Fritz fast vor ihrer Tür. Wer weiß, was sie im Sinn hatten? Wer weiß, ob sie nicht noch brutaler, noch grausamer sein würden als zuvor, endgültig verrückt geworden durch das Gefühl, an der Niederlage vorbeigeschrammt zu sein? Auch noch zahlreicher vielleicht, Horden von Feldgrauen, aus ihrer Asche auferstanden wie von der Hölle ausgespuckte Wiedergänger. Er hatte Visionen, sah seine beiden blutbefleckten Jungen, ihre Körper von Kugeln durchsiebt wie der des Apothekersohns, den man hinter dem Gemeindesaal gefunden hatte. Das gequälte Gesicht des Vaters wand sich in Grimassen. Er hatte wieder begonnen, von einem Fuß auf den anderen zu treten, Renée noch immer an seiner Hand.
»Schon gut, Jacques«, sagte der Pfarrer.
Der Vater wäre ihm fast zu Füßen gefallen. Stattdessen rang er sich ein blödes Lächeln ab. Er tat dem Pfarrer wirklich leid, dieser herzensgute Mann, plötzlich in einen Feigling verwandelt. Näher tretend, legte er seine breite Hand auf die Schulter des Vaters. Dieser schenkte ihm ein raues »Danke«, ehe er den Koffer und Renées Hand losließ. Dann beugte er sich hinab, fasste die Kleine bei den Schultern. Er sah sie an und fühlte sich elend. Das Kind drückte nichts aus, was er verstehen konnte; keinen Vorwurf, keine Wut, keine Traurigkeit, auch keine Angst oder Resignation, sondern etwas Stärkeres, ohne jedes klar erkennbare Gefühl. Erschüttert, am Boden zerstört vor Scham und gleichzeitig berührt von dieser Art Anmut, die es ausstrahlte, küsste der Vater es auf die Stirn und entfloh wie ein Dieb.
»Magst du Arme Ritter?«, fragte der Pfarrer.
»Oh, und wie, riesig«, antwortete Renée.
Sie hatte es »riezig« ausgesprochen. Der Pfarrer beobachtete sie. Momentan strahlte die Kleine vor Vorfreude auf den Genuss, das köstliche, in eine Mischung aus Milch, Zucker und Eiern getunkte, goldgelb geröstete Brot zu essen. Er nahm sie mit in die Küche, um die Armen Ritter zuzubereiten. Renée durfte die Eier aufschlagen. Das Kind zeigte sich ruhig, aufmerksam, als wäre es an einem schönen Friedenstag zu Besuch gekommen. Der Pfarrer machte sich daran, die Mischung zu verquirlen, unterbrach aber jäh, um zu lauschen. Ein Motorgeräusch. Er ließ den Rührbesen fallen und ging zum Wohnzimmerfenster. Auf dem Platz kam ein Kübelwagen angebraust. Nach allen Seiten schwärmten Soldaten aus, die Waffe in der Hand. Ein Offizier stieg aus dem Jeep. Der Pfarrer konnte soeben noch den goldenen Doppelblitz auf der Schirmmütze erkennen. Das verfluchte Zeichen. Die Soldaten ließen die Bewohner eines Hauses vor die Tür treten, reihten sie an der Wand auf, die Hände über dem Kopf. Der SS-Mann schritt langsam die Reihe der verschreckten Zivilisten ab. Der Pfarrer wandte sich um; Renée stand hinter ihm. Ihr war nichts von der Szene entgangen. Er packte den mitten im Wohnzimmer stehen gebliebenen Koffer. Renée spürte den Griff einer neuen Männerhand, die sich um ihre schloss. Sie verließen das Haus durch die Küchentür. Pech für die Armen Ritter.
Das klobige Schuhwerk des Pfarrers hinterließ tiefe und breite Spuren auf dem schneebedeckten Weg des Gemüsegartens. Sie gelangten vom Garten ins Freie. Der Pfarrer lief so schnell er konnte. Renée schaffte es kaum mitzuhalten, ihre kurzen Beine sanken zu tief ein. Sie fiel hin. Der Pfarrer half ihr auf, und sie liefen weiter. Man konnte nicht zwischen der Straße und den Feldern der Umgebung unterscheiden. Alles war weiß. Der ganz mit Schnee erfüllte Himmel, seit Tagen...
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