Hölle, Hölle, Hölle
Von Susanne Mischke
»Frau Millerrr, wie gäht es uns denn haite?«
Martha schlug die Augen auf. An der linken Wand, die in einem schläfrigen Grün getüncht war, hing ein schlichtes Messingkreuz, rechts von ihr stand ein leeres Krankenhausbett und vor dem Fenster nahm sie den vagen Umriss eines Menschen wahr, eines Mannes, der Gestalt nach, der aber seltsam transparent war.
»Wo bin ich?«
Eine dralle Mittvierzigerin mit einem breiten Gesicht und Bäckchen so rot wie ein Nikolausapfel schob sich in Marthas Blickfeld.
»Frau Millerrr, Sie nix mehrrr auf Intensiv, hat man Sie auf Station verlägt. Ich bin Schwäster Bogdana.«
Marthas Oberarm wurde in die Manschette eines Blutdruckmessgeräts gequetscht, die Schwester Bogdana aufpumpte. »Ist sich Bluttdrruck wie Eidechse in Wintärrrschlaff«, konstatierte sie fröhlich. »Was mit Stuhlgang?«
Martha zog es vor, diese Frage zu ignorieren. Sie tastete nach ihrer Brust, während die Schwester den Beutel am Infusionsständer austauschte und dabei erklärte, dass Martha die Zufuhr des Schmerzmittels mit »kleine Rrrad« am unteren Ende des Schlauchs selbst regeln könne.
»Welchen Tag haben wir heute?«
»Ist sich heite Doonnerrrstag.«
Am Dienstagmorgen war ihr ein Bypass gelegt worden. Routine, heutzutage. Für die Ärzte, nicht für Martha.
»Also nix Stuhlgang?«, insistierte Schwester Bogdana, schon im Gehen begriffen.
»Nein. Aber, Schwester .«
»Ja?«
»Wer ist der Mann, der da am Fenster steht?«
»Welches Maann? Da nix Maann. Mechten noch Tää?«
Martha nickte. Die Unterhaltung hatte sie angestrengt, sie schloss die Augen und überlegte im Wegdämmern, dass es vermutlich das Schmerzmittel war, das Halluzinationen hervorrief. Ähnliches hatte sie erlebt, als sie in ihren wilden Jahren ein bisschen mit LSD und Pilzen herumexperimentiert hatte. Ich muss aufpassen, dachte sie, dass ich nicht als Morphiumsüchtige hier herauskomme.
»Na, Frau Müller, wie fühlen Sie sich?«
Die Patientin blickte ihn stumm an. Milchiggraue Augen in einem Kranz von Falten.
Martha Müller, geb. 28.2.1943, stand auf dem Krankenblatt, das Professor Dr. Andreas Frowein auf seinem Klemmbrett bei sich trug.
»Frau Müller? Geht es Ihnen gut?«
Die alte Dame nickte geistesabwesend, dann aber kam plötzlich Leben in ihr blasses Gesicht. »Ich habe eine Frage.«
»Nur zu, dazu bin ich ja da.«
»Ist bei der Operation alles gut gegangen?«
»Sicher doch, alles bestens.«
»Gab es irgendwelche Komplikationen?«
»Aber nein, es ist alles glatt verlaufen«, log der Professor und lächelte dabei sein vertrauenerweckendstes Chefarztlächeln. Wozu um alles in der Welt sollte die Patientin erfahren, dass sie während der Operation einen Herzstillstand von fast einer Minute erlitten hatte und um ein Haar ex gegangen wäre? Nein, derlei Vorkommnisse hielt man besser unter dem Deckel. Die Patienten neigten dazu, ein Riesenbohei um solche Lappalien zu machen, und hinterher zogen sie einen für jedes Wehwehchen und für jede winzige Kalamität während der Genesungsphase zur Verantwortung.
»Wissen Sie, Herr Professor, ich hatte da nämlich so ein seltsames Erlebnis .«
Oje, dachte Frowein und schielte auf die Uhr. Um zwei Uhr war Abschlag, das konnte knapp werden.
Schon ging es los, die übliche Geschichte: der lange Tunnel mit dem gleißenden Licht am Ende, dann der Eintritt in diesen wunderbaren Feng-Shui-Garten, in dem es blühte und plätscherte und zwitscherte und wo einen die verstorbenen Lieben mit offenen Armen erwarteten.
Ich möchte einmal einen erleben, der in der Hölle landet, dachte Frowein.
». und dann, plötzlich, verschwamm der Garten wieder vor meinen Augen, und ich fühlte, wie ich wieder zurückkehrte .«
»Wissen Sie, Frau Müller, solche Erfahrungen sind während einer Anästhesie nicht selten«, unterbrach der Professor den Sermon.
»Ja, aber da ist noch etwas, Herr Professor.«
»Frau Müller, ich darf Ihnen versichern, dass das kein Grund ist, sich zu beunruhigen. Ihre OP verlief reibungslos, Sie werden wieder vollkommen gesund. Es tut mir leid, ich muss jetzt weiter, es warten noch eine Menge Patienten auf mich. Wir sehen uns morgen früh bei der Visite, einverstanden?«
»Frau Millerrr, aufwachen, haben Sie Besuch von Schwäster!«
Schwester Bogdana stopfte die gelben Chrysanthemen in eine Vase und knallte sie auf Marthas Nachttisch. Auf dem Stuhl neben Marthas Bett saß Gertrud im schwarzen Kostüm für den Ernstfall, das Kreuz durchgedrückt, die altbackene Handtasche auf ihren Knien balancierend. Nun reckte sie ihren Schildkrötenhals über die Bettkante.
»Martha, wie geht es dir?«
»Gut«, versicherte Martha und schielte nach dem Fenster. Keine Spur von der Lichtgestalt.
»Wann darfst du nach Hause?«
»Sicher bald. Schließlich befinden wir uns im Zeitalter der Fallpauschalen.« Nach Hause, dachte Martha. Hätte Gertrud doch bloß nicht davon angefangen. Martha lebte in Linden, dem Multikulti-Viertel Hannovers, in dem die Gentrifizierung in letzter Zeit immer rascher voranschritt. Der leicht heruntergekommene Altbau, in dem sie als übrig Gebliebene einer großen WG seit vierzig Jahren wohnte, wurde gerade luxussaniert. Martha war der festen Überzeugung, dass ihre plötzliche Herzschwäche nach zweiundsiebzig Jahren robuster Gesundheit mit ihrer misslichen Wohnsituation zu tun hatte.
Sie wechselte das Thema. »Gertrud, ich habe etwas ganz Seltsames erlebt, als ich in Narkose war .« Als Martha an der Stelle angekommen war, an dem sich der Paradiesgarten mit all den Vögeln, den Schmetterlingen, den verstorbenen Haustieren und den herumhuschenden Engeln quasi vor ihren Augen wieder aufgelöst hatte, unterbrach sie Gertrud: »Das war eine Nahtoderfahrung. So nennt man das, das habe ich neulich im Fernsehen gesehen.« Die goldenen Ohrgehänge an ihren lang gezogenen Ohrläppchen zitterten erregt.
»Das war aber noch nicht alles«, sagte Martha. »Als es durch den hellen Tunnel wieder rückwärtsgegangen ist . also, wie soll ich sagen . ich glaube, es ist jemand mitgekommen.«
»Mitgekommen?« Gertrud vergaß, ihren Mund zu schließen.
»Ja, von. da drüben.«
»Doch nicht etwa Großtante Hedwig!«
»Nein. Die ist bestimmt in der Hölle. Ich weiß nicht, wer es ist. Aber er steht seitdem hier im Zimmer herum, am Fenster.«
Erschrocken fuhr Gertrud herum.
»Er ist nicht immer da«, sagte Martha.
»Er?«
»Ja. Er ist weiß gekleidet und irgendwie durchsichtig und er strahlt ganz hell. Ich glaube, er ist ein Engel.«
Gertrud, die Hände um ihre Handtasche gekrallt, starrte sie entsetzt an. Martha konnte es ihr nicht verübeln, vermutlich hätte sie an Gertruds Stelle dasselbe getan. Beide waren seit Jahr und Tag weder besonders religiös noch dem Esoterischen zugeneigt. Damit hörten die Gemeinsamkeiten aber auch schon auf.
»Ich bin nicht verrückt«, sagte Martha.
»Ja, ja, gewiss«, sagte Gertrud.
Eine Pause entstand.
»Du solltest mit jemandem darüber reden.«
»Mit wem denn? Mit einem Priester?«
»Mit einem Arzt.«
»Hab ich schon versucht, aber der Professor hier .«
»Nein, nein, mit einem Arzt, der von so etwas Ahnung hat«, sagte Gertrud.
»Von Engeln?«
»Nein, von solchen. psychischen Sachen.«
»Du meinst einen Psychiater.«
»Ja, so etwas in der Art«, nickte Gertrud.
»Ich bin nicht verrückt«, wiederholte Martha.
Gertrud verabschiedete sich. Martha sank zurück in die Kissen. Die helle Gestalt stand jetzt wieder vor dem Fenster, von einem amethystblauen Licht umgeben. Jetzt war Martha, als würde sie etwas flüstern, aber die Worte waren nicht zu verstehen.
Adventszeit. Seit einer Woche war Martha wieder zu Hause. Das Treppenhaus war verstellt mit Säcken voller Putz und Zement, dazwischen lagen Eimer, Holzlatten, Leitern, Pakete mit Badezimmerfliesen, Bierflaschen, Pizzakartons und Handwerkszeug. Bis in den dritten Stock hinauf war es der reinste Hindernislauf. Das ging schon seit dem Sommer so. Neu war das Gerüst auf der Vorderseite des Hauses. Immer wieder erschrak Martha, wenn Handwerker vor den beiden Fenstern ihres Wohnzimmers vorbeigingen und zu ihr hineingafften. Zudem hatten die Arbeiter das Gerüst mit Planen verhängt, und da es nun ohnehin schon dunkel im Zimmer war, schloss Martha auch tagsüber die Vorhänge, um sich vor den Blicken der Arbeiter zu schützen. Sie hätte sich in die Küche setzen können, denn zum Hof hin stand kein Gerüst, aber dort war es kalt. Immer wieder fielen Strom und Gas aus oder sie stellten ihr das Wasser ab. Martha hatte sich einen Campingkocher besorgt, sie achtete darauf, immer einen ausreichenden Vorrat an Kerzen im Haus zu haben und ein paar volle Wassereimer. Die Zentralheizung funktionierte schon seit Monaten nicht mehr, doch zum Glück gab es im Wohnzimmer den großen Kachelofen. Das Hinaufschleppen der Kohlen vom Keller in den dritten Stock war zwar mühsam, zumal in ihrem Zustand, aber wenn dann der Ofen schön warm strahlte, dann dachte Martha jedes Mal trotzig: Prigge, du kannst mich mal! Du kriegst mich nicht klein.
Der Engel saß nun meistens in dem Rattansessel, in dem früher immer ihr Kater Leo geschlafen hatte. Manchmal schwebte er auch als heller Lichtfleck über der Biedermeieranrichte oder im Schlafzimmer zwischen dem Art-déco-Vertiko aus Nussbaumholz und dem Empirebett. Auch wenn Martha ausging, zum Arzt oder zum Einkaufen, hatte sie stets das Gefühl, dass der Engel bei ihr war, obwohl sie ihn draußen noch nie gesehen hatte. Sie erahnte seine Anwesenheit jedoch...