Sound of Summer
von Marie Enters
2020
Seit Tagen dauert das herrliche Sommerwetter an. Es kommt mir so unpassend vor, der blanke Hohn. Vielleicht lacht die Sonne uns wegen des törichten Streits aus, bei dem ein böses Wort das andere ergab, bis alles eskalierte. Anstatt uns wie sonst nach Reibereien bald wieder zu vertragen, stellen Tom und ich schon über drei Monate das gemeinsame Leben auf den Prüfstand. Inzwischen ist Juli, nächste Woche beginnt unser Urlaub und übernächste Woche werde ich fünfzig. Anfang März hatten wir überlegt, nicht groß zu feiern, sondern meinen Geburtstag ganz idyllisch am Meer in Südfrankreich zu verbringen. Aber dann kam der April und mit ihm unsere Sinnkrise, weswegen wir immer noch keine Ferienwohnung gebucht haben. Doch unabhängig davon würde die Reise ohnehin nicht stattfinden. Denn heute hat Tom von Trennung gesprochen. »Auf Zeit, Sunny«, hat er mit einer rauen Stimme gesagt, die fremd klang. »Abstand gewinnen. Es kann so nicht weitergehen mit uns.« Ich habe mich reflexhaft abgewandt, wortlos, bis ins Mark getroffen, mich ins Schlafzimmer zurückgezogen und die Tür abgeschlossen. Dort sitze ich nun auf der Bettkante. Ich glaube, was am meisten wehtut, ist die Erkenntnis, dass er recht hat. So kann es wirklich nicht weitergehen. Dabei war es für uns beide doch die große Liebe. Seit 1988 sind wir zusammen. Haben wir wirklich nach so vielen glücklichen Jahren aufgehört, uns zu lieben?
***
1988
Der erste Sommer mit Tom. Ich erinnere mich klar und deutlich. In dem Moment, als ich ihn in der Scheune zusammen mit drei anderen Typen am Tresen stehen sah, lief Big Love von Fleetwood Mac. Es war eine warme Nacht Ende Juni, in der ich um kurz vor eins und damit eine Stunde später als versprochen nach Hause kam. Den Sound des Abends im Ohr und hellwach schrieb ich in eine rote Kladde: Heute bin ich meiner großen Liebe begegnet. In Klammern fügte ich hinzu: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Seinen Namen wusste ich noch nicht, doch eine Woche später notierte ich: Der süße Blonde heißt Tom. Nach diesen ersten Sätzen, die ich mit Füller in Schönschrift verfasste, führte ich den ganzen Sommer Tagebuch. Leider ist es verschollen, ich weiß nicht, wo, wann und wie.
Ich war fast achtzehn und hatte mich gerade erst von der Enttäuschung mit Jo erholt, einem hageren, dunkelgelockten Architekturstudenten, den ich im Frühjahr jeden Freitag in der Lounge des Beat Clubs traf. Meine beste Freundin Anne kapierte nicht, was ich an ihm fand und hielt ihn für total überheblich, aber ich himmelte ihn an. Wir unterhielten uns stundenlang über Gott und die Welt, wenn wir zusammensaßen. Aus Reden ergab sich Flirten, aus Flirten Händchenhalten, schließlich küssten wir uns. Und dabei blieb es, denn als ich begann, mir sehr viel mehr zu erhoffen, rückte Jo damit heraus, er habe sich in eine andere verliebt. Wochenlang gab ich mich nach diesem Ende ohne Anfang meinem bittersüßen, weltumfassenden Kummer hin. Ich grub das Album The Queen Is Dead von The Smiths wieder aus und tat damit alles, um den Schmerz zu konservieren. Erst kurz vor Beginn der Sommerferien war ich The Smiths und der Schwermut überdrüssig. Nur zu gern ließ ich mich von Anne motivieren, zur Premiere der Scheunenpartys im Nachbardorf zu fahren. An jenem Abend sah ich Tom in der zur Partylocation umgebauten Scheune zum ersten Mal und war im selben Moment endgültig über Jo hinweg. Just lookin' out for love, big big love, uuh ahh sang Lindsay Buckingham von Fleetwood Mac, und mir schoss ein Kribbeln durch Kopf und Körper. Wow, ein toller Typ! Er haute mich total um. Unauffällig beobachtete ich ihn. Oder vielmehr bildete ich mir ein, es unauffällig zu tun, aber als ich einmal ganz »unauffällig« an ihm vorbeischlenderte, um etwas zu trinken zu holen, lächelte er mich an und zwinkerte mir zu. Ich wollte auf der Stelle vor Scham im Boden versinken, denn ich interpretierte sein Anlächeln eher als Auslachen. Bestimmt war mein Interesse an ihm doch zu offensichtlich gewesen.
Kurz darauf verließ ich die Party. Seither hab ich mich oft gefragt, wie ich darauf kam, nach dieser allerersten flüchtigen Begegnung schon von großer Liebe zu schreiben. Es war vielleicht eine Mischung aus Wunschdenken und Intuition. Am folgenden Wochenende zog es mich jedenfalls wieder zur Scheune und er war wie sehnlichst erhofft auch da. Ich trug meine engsten Jeans, ein luftiges weißes Top und hohe Stiefeletten. Diesmal war ich diejenige, die sich beobachtet fühlte. Immer wieder schaute er demonstrativ in meine Richtung, über eine Stunde lang. Ich war nervös, erwartete, dass er mich ansprechen würde und bezweifelte es gleichzeitig. Dann hockte er sich unvermittelt neben mich auf einen Strohballen und begann wie selbstverständlich, sich mit mir zu unterhalten.
»Na, auch wieder da?«, fragte er. Nach ein bisschen Small Talk stellte er sich als Tom vor und wollte wissen, wie ich heiße. »In meinem Ausweis steht Sandra, aber nenn mich Sunny.« Er wiederholte meinen Namen. »Sunny. Gefällt mir, das passt zu dir.« Ich erfuhr, dass er zwanzig war, als Zivi im Krankenhaus jobbte und danach Garten- und Landschaftsbau studieren wollte. Seinen Eltern gehörte ein ehemaliges Rittergut. Die Burg war um das Jahr 1700 zerstört worden, nur die Nebengebäude standen noch. Eines davon bewohnte Tom mit seinen Freunden Ferdi, Martin und Chris. Als Gegenleistung halfen er und seine WG-Genossen sporadisch bei den Arbeiten auf dem Areal, das Toms Vater zu einem kleinen Freizeitpark mit Abenteuerspielplatz ausbauen wollte. Ich konnte mein Glück kaum fassen, dass dieser Wahnsinnstyp mich angesprochen hatte. Heute weiß ich, dass Tom damals ein bisschen so aussah, wie Brad Pitt Jahre später als Tristan im Film »Legenden der Leidenschaft« aussehen würde. Aber damals kannte kaum jemand Brad Pitt. Tom hatte auffallend blaue Augen und eine helle, schulterlange Mähne. Er band sich die Haare entweder locker mit einem Gummi zusammen oder klemmte sie sich hinter die Ohren. Immer lösten sich einzelne sonnenblonde Strähnen, die ihm dann dekorativ ins Gesicht fielen. Doch wegen seiner Größe und der athletischen Figur wirkte er trotz der langen Haare alles andere als mädchenhaft. Er fuhr einen alten Renault, trug Wrangler und karierte Flanellhemden, kiffte und spielte Keyboard in einer Band. Später am Abend erzählte er, sein WG- und Band-Kumpan Chris hätte am Donnerstag Geburtstag und wolle es so richtig krachen lassen. »Ich warne dich, Sunny, das wird ein ziemliches Gelage. Hast du trotzdem Lust zu kommen?« Welch eine Frage! Ich sagte sofort zu. Allerdings musste ich mir etwas einfallen lassen, um meine Teilnahme an dem »Gelage« zu Hause zu verheimlichen. Doch das gestaltete sich einfach, denn vor der Digitalisierung der Welt, ohne Internet, ohne Smartphone, ohne Facebook und ohne WhatsApp-Gruppen, war die elterliche Kontrolle im Vergleich zu heute recht lückenhaft. Ich erzählte zu Hause einfach, ich würde bei Anne übernachten, und weihte Anne in den Plan ein, die Nacht bei Tom durchzufeiern.
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2020
Ein leises Klopfen, auf das ich nicht reagiere, weil ich es kaum wahrnehme. Ich sitze nach wie vor auf der Bettkante, aber geistig befinde ich mich Jahrzehnte entfernt von der frustrierenden Realität. Tom sagt durch die geschlossene Tür: »Sunny, lass uns bitte wie zwei vernünftige Menschen miteinander reden. Ich wünsche mir doch auch, dass es anders wäre.« Von mir kommt keine Antwort. Er drückt die Klinke herunter, dann bleibt er stehen und wartet. Eine Weile später höre ich seine Schritte auf dem Flur und kurz darauf Musik aus dem Wohnzimmer. Noch bevor ich das Stück erkennen kann, ist es wieder still, er hat von den Lautsprechern auf Kopfhörer gewechselt. Sein neues Soundsystem war der Auslöser unseres Streits. Ich fand es erstens zu teuer und zweitens völlig überdimensioniert für unser Wohnzimmer. »Man könnte einen Festsaal damit beschallen. Und die Musik, die du hörst, wird lauter auch nicht besser«, so mein spontaner Kommentar. Er explodierte: »Spießig bist du geworden, an allem musst du mir die Freude verderben!« Ich keifte zurück: »Du bist hier doch wohl der Spießer, der bei den Hits der 80er-Jahre stehen geblieben ist, ich habe mich weiterentwickelt! Nicht nur musikalisch.« Kurz darauf hat er sich High-End-Kopfhörer zugelegt. »Jetzt bist du hoffentlich zufrieden«, sagte er, verschanzte sich von nun an hinter seinen für mich ausgeblendeten Klängen und war kaum mehr ansprechbar. Ich lenkte nicht ein, weil auch ich mich gekränkt fühlte. Wir stritten nicht mehr, aber sprachen auch nur das Nötigste miteinander. Allmählich beginnt mir bewusst zu werden, dass es im Grunde nie um teure Boxen und laute oder falsche Musik ging. Es steckte etwas anderes dahinter. Vielleicht sind wir so dünnhäutig, weil uns der Auszug unserer Tochter bewusst gemacht hat, dass wir in die Jahre gekommen sind. Es scheinen nicht die besten zu werden. Traurig lasse ich mich zurücksinken, strecke mich lang auf der Bettdecke aus, schließe die Augen und bin schnell wieder dort, wo ich war, bevor er angeklopft hat.
***
1988
Wie sehr ich auf den Donnerstag hinfieberte! Am frühen Abend sah ich zum ersten Mal das ritterliche Anwesen. Es glich bei näherer Betrachtung eher einem Bauernhof. Das fand ich etwas enttäuschend, aber dann nahm ich ohnehin nichts anderes mehr wahr als Tom - und das nach einem Joint und reichlich Asbach, den mir irgendjemand in die Cola kippte, sehr verschwommen. Es dauerte kaum zwei Stunden, bis ich mich ins Bad schleppte, mehrmals übergab und danach sterbenselend in die leere Badewanne sank, um meinen Rausch auszuschlafen. Dort fand Tom mich, hob...