Russell Brice im Gespräch mit Ed Douglas
Schlägerei am Everest: Die Geschichte aus der Sicht der Sherpas
Während der Everest wieder für ein Jahr aus den Schlagzeilen verschwindet, ziehen Expeditionsveranstalter nach der Auseinandersetzung zwischen westlichen Bergsteigern und Sherpas im Lager II Bilanz. Der Zwischenfall hat ein großes Medienecho ausgelöst. Der erfahrene Expeditionsausrüster Russell Brice berichtet Ed Douglas im folgenden Exklusivinterview, welche Wirkung dieser Vorfall auf die Sherpa-Community hatte und weshalb sie sich ungerecht behandelt fühlen.
Ueli Stecks Warnung war deutlich.
Nachdem er im Lager II einer Horde aufgebrachter Sherpas entkommen und dann vom Berg geflüchtet war, zeigte er sich entschlossen, der ganzen Welt zu erzählen, was ihm am Everest passiert war: »Das war kein einmaliger Vorfall. Für kommerzielle Expeditionen wird es in Zukunft ein großes Problem darstellen, und vielleicht wird nächstes Mal jemand getötet werden. Die Anspannung ist deutlich zu spüren. Everest-Besteigungen sind inzwischen ein so großes Geschäft, es geht dabei um sehr viel Geld, und die Sherpas sind nicht dumm. Sie erkennen das und wollen das Management am Berg übernehmen und die Westler rausschmeißen.«
Steck wird vielleicht nie mehr an den Everest zurückkehren, Russell Brice sehr wahrscheinlich schon. Sein Unternehmen »Himalayan Experience« hat gerade die achtzehnte kommerzielle Everest-Expedition durchgeführt; dreizehn über die Nordseite und, nach der Schließung der Grenze nach Tibet im Olympiajahr 2008, fünf von der Südseite aus.
Das erste Mal reiste Brice 1974 in die Khumbu-Region, um für Sir Ed Hillarys »Himalayan Trust« zu arbeiten. 1981, im Alter von 29 Jahren, unternahm er in einem Zweierteam mit Paddy Freaney seinen ersten Besteigungsversuch, über den Westgrat des Everest, über den er fast den Gipfel erreichte. Freaneys Asche wurde dieses Frühjahr von dessen Ehefrau Rochelle Rafferty auf dem Gipfel verstreut.
Brice spricht liebevoll von den beiden Sherpas, die sie bei ihrem Gipfelversuch begleiteten: Ang Rita, den er immer noch regelmäßig sieht, und Ang Phu, der inzwischen verstorben ist. Brices Zusammenarbeit mit den Sherpas ist selbst für einen westlichen Bergsteiger, der regelmäßig im Himalaja Führungen organisiert, ungewöhnlich eng. Letztes Jahr ließ er seine Kunden wieder vom Berg absteigen, nachdem seine Sherpas und Bergführer Befürchtungen geäußert hatten, die Verhältnisse am Berg seien zu gefährlich.
»Als kommerzieller Veranstalter ist es eines meiner Hauptanliegen, Kunden zu finden, um den Lebensunterhalt der dreißig Sherpas zu sichern, die bei mir beschäftigt sind«, sagt er zu mir. »Ich trage Verantwortung für sie - und muss dafür sorgen, dass sie Arbeit bekommen.«
Brice ist gerade in London, um nach dem Abschluss der Expedition dieses Frühjahrs noch ein paar Dinge zu erledigen. Er versucht immer noch, den Mediensturm zu ergründen, der dieses Jahr am Everest gewütet hat. Zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung war er selbst im Basislager, aber zwei Sherpas von »Himalayan Experience« führten an dem Tag Fixierarbeiten durch. »Sie kamen herunter und gingen in ihr Zelt. Sie waren überhaupt nicht wütend. Am nächsten Tag nahmen sie sich frei, und danach machten sie sich wieder an die Arbeit.«
»Die reißerischen Schlagzeilen infolge der Berichterstattung über die Schlägerei verzerren in der Öffentlichkeit das Bild über die Sherpa-Community und darüber, wie sich die kommerziellen Aspekte des Everest auf sie auswirken«, sagt er.
Er stimmt zu, dass es ein schwerer Zwischenfall war, spricht sich aber dafür aus, den Sherpas Raum zuzugestehen, über das Geschehene zu reden und in Zukunft selbst für Veränderungen zu sorgen.
»Phurba Tashi ist mein leitender Sherpa. Er hat den Everest 21-mal bestiegen. Er ist intelligent und ein exzellenter Bergführer. Er sagt mir, wie meine Expeditionen ablaufen sollen. Er ist 38 Jahre alt und hat in der Sherpa-Community bereits großen Einfluss. Aber er schweigt sich aus. Wenn wir also über die gegenwärtige Lage reden, lautet seine Antwort, er habe dazu nichts zu sagen. Ich versichere Ihnen jedoch, dass er innerhalb seiner Community eine Menge zu sagen hat.«
Brice war an dem Abkommen beteiligt, das nach der Eskalation im Lager II zwischen den Sherpas und den westlichen Bergsteigern ausgehandelt wurde. Es sei eine aufschlussreiche Erfahrung gewesen. »Wenn ältere Chef-Sherpas zu dir kommen, um sich für etwas zu entschuldigen, was jüngere Burschen getan haben, und dabei Tränen in den Augen haben, finde ich das wirklich bemerkenswert. Ich sehe Sherpas sonst nie weinen, nicht einmal auf Beerdigungen. Wenn sich ein Sherpa auf diese Weise entschuldigt, kommt es aus tiefstem Herzen.«
»Was die Sherpas beunruhigt«, sagt er, »ist der Entschluss der drei westlichen Bergsteiger, sich an die Medien zu wenden. Paragraf 4 dieses Abkommens lautete, dass über die Schlägerei nicht geredet werde. Die Sherpas am Berg haben keinen Zugang zu Twitter und Facebook und so weiter. Sie wollen einfach nur ihre Arbeit fortsetzen. Diese Jungs haben im Basislager ein Abkommen per Handschlag besiegelt.«
»Ich mag Ueli sehr«, sagt Brice. »Er ist ein prima Kerl, genauso wie Simone. Aber die beiden haben auch einen großen Fehler gemacht, zuerst mit Simones Bemerkung (Moros eigenen Angaben zufolge hat er Mingmar Tenzing Sherpa auf Nepalesisch einen >Motherfucker< genannt) und dann, weil sie sich nicht an diesen Teil der Abmachung hielten.«
In der Welt der Blogger habe es auch Leute gegeben, die für die Sherpas Partei ergriffen haben, werfe ich ein, vor allem die amerikanischen Bergführer Mike Hamill von »International Mountain Guides (IMG)« und Garrett Madison von »Alpine Ascents International (AAI)«. Madison habe Moro vorgeworfen, über eine öffentliche Funkfrequenz Drohungen ausgestoßen zu haben. Moro habe dies vehement bestritten, und andere Personen am Berg hätten seine Darstellung bestätigt.
»Es war interessant, wie gesprächig Mike Hamill im Netz war, obwohl er im Basislager kaum zu sehen war. Da sitzen all diese Leute in ihren Zelten und bloggen, wissen aber nicht unbedingt, was im Basislager vor sich geht. Die Medien nutzen diese Blogs, ohne sie auf Richtigkeit zu prüfen.«
Brice bestätigt, dass Steck gegen seine Angreifer Anklage erheben wollte. »Das ist verständlich«, sagt er. »Das Problem ist nur, dass wir nicht in der Schweiz waren. Ich sagte zu Ueli, wir können Polizei aus Lukla oder Kathmandu holen, aber dann würde am Berg alles eingestellt werden, was das Problem nur verschärfen und für alle von Nachteil sein würde.«
Mingmar Tenzing Sherpa, der sich zu Steck abseilte und ihn beschimpfte, was in der Folge zu dem Vorfall im Lager II führte, wird von seiner Community zur Rede gestellt werden, prophezeit Brice. »Er ist der jüngere Bruder eines der Chef-Sherpas, der mit seiner Familie, seinem Dorf und seiner Bergführerfirma verhandeln muss. Ich kann Ihnen garantieren, dass dieser jüngere Bruder nächstes Jahr keine verantwortungsvolle Position besetzen wird.«
Brice lacht bitter auf, als ich erwähne, dass die Sherpas Medienberichten zufolge ausgebeutet werden.
Phurba Tashi verdiene genauso viel wie ein westlicher Bergführer, sagt er. »Das steht ihm auch zu.« Seine anderen Sherpas am Berg erhalten eine Kombination aus Gehalt, Bonus und Ausrüstungszulage - zusätzlich zu der Ausrüstung, die ihnen zur Verfügung gestellt wird - und bekommen pro Saison um die 6000 Dollar, was in Nepal sehr viel Geld ist. Viele der Sherpas, die für Brice arbeiten, haben darüber hinaus in Trekking Lodges und Betriebe investiert, die von ihren Frauen geführt werden, womit sich ihre Einnahmen noch erhöhen. Solche Verdienstmöglichkeiten stehen in krassem Gegensatz zu denen jener Sherpas, die für die billigsten nepalesischen Expeditionsveranstalter arbeiten, speziell für die beliebten »Seven Summit Treks«. Diese Firma, die von drei Sherpa-Brüdern aus der Makalu-Region geleitet wird, unter anderem von Mingma Sherpa, dem ersten Sherpa, der sämtliche Achttausender bestiegen hat, bietet den Everest für 18 500 Dollar an - inklusive der Gipfelgebühren in Höhe von 10 000 Dollar - und hat dieses Jahr 98 Kunden zum Everest gebracht. Ihre Sherpas, von denen viele jung und unerfahren sind, verdienen nur einen Bruchteil dessen, was ihre Kollegen in der Khumbu-Region bei teureren Expeditionen verdienen - laut Brice gerade einmal 800 Dollar.
Dieses Lohngefälle erhöht die Spannungen am Berg. Maoistische Kader hatten während des Bürgerkriegs, der 2006 endete, in der Makalu-Region einen weit größeren Einfluss als in der Khumbu-Region. »Die Maoisten brachten den Kindern bei, dass sie durch Steinewerfen oder Gewaltandrohung bekommen konnten, was sie wollten.« Die Sherpas in der Makalu-Region haben auch nicht wie ihre Kollegen im Khumbu von den Verbesserungen im Bildungssektor profitiert.
Brice findet nicht, dass die Sherpas aus der Khumbu-Region den Zustrom aus anderen Regionen in irgendeiner Weise missbilligen. »Ich glaube nicht, dass die Jungs aus dem Khumbu das als ihren Besitz betrachten. Sie wissen, dass wir für die Arbeit am Berg noch mehr Leute brauchen. Was wir jedoch nicht tun können, ist, Leute aus verschiedenen Regionen in dasselbe Team zu stecken. Wir als Veranstalter wissen das. Und die Sherpas aus dem Khumbu wissen, dass sie gut sind, unter anderem weil sie die meiste Erfahrung...