Zwangspause
von Kate Dark
»Was meinen Sie damit, wir dürfen nicht auschecken?« Kristens Atmung beschleunigte sich. Ihr Herz raste. Das konnte doch wohl nur ein schlechter Scherz sein.
Carter, der Inhaber des kleinen Hotels in den schottischen Highlands, hob beschwichtigend die Hände. »Es tut mir leid. Das ist eine Anordnung. Ich darf die Gäste erst auschecken lassen, wenn klar ist, dass niemand mit dem Corona-Virus infiziert ist.«
Kristen rieb sich die Stirn. Das durfte nicht wahr sein. Ihr Job hing ohnehin schon am seidenen Faden, und jetzt das. Wie sollte sie das ihrem Chef erklären? Wer würde ihr den Ausfall bezahlen, und was war mit der Schule? Außerdem hatten sie nur Kleidung für ein Wochenende dabei. »Ich verrate es niemandem, wenn Sie es auch nicht tun.«
Carter lächelte entschuldigend. »Nein, das geht leider nicht.«
Sie hatte es sich gedacht, sich aber an einen letzten verzweifelten Versuch geklammert. Mit hängenden Schultern ging sie zurück in den halb gefüllten Speisesaal. Viele Gäste waren in den vergangenen beiden Tagen abgereist. Kristen war so dumm! Hätte sie doch bloß den Gerüchten und Medienberichten Glauben geschenkt und wäre ebenfalls aufgebrochen. Aber nein. Sie hatte unbedingt die Zeit hier voll auskosten wollen. Das hatte sie nun davon.
Connor, ihr fünfzehnjähriger Sohn, und Susan, ihre dreizehnjährige Tochter, saßen am Tisch, die Smartphones in den Händen.
»Das ist nicht wahr, oder?«, fragte Connor auch sofort, noch bevor Kristen sich überhaupt setzen konnte, und fuchtelte wild mit dem Telefon herum.
»Nun .«
»Das hier ist wie die Hölle«, ergänzte Susan und begann an den Fingern aufzuzählen. »Kein Netflix, kein vernünftiger Empfang, kein WLAN. Kein Fernseher im Zimmer. Kein Einzelzimmer.«
»Du kannst uns nicht zwingen, noch länger hier zu bleiben.«
»Ich nicht, die Regierung schon«, sagte Kristen und senkte die Stimme in der Hoffnung, ihre Kinder würden das Gleiche tun. Sie hatten bereits die gesamte Aufmerksamkeit der anderen Gäste. Wie so oft in den letzten Tagen. Ihre Sprösslinge fanden alles schrecklich: die langweilige Einsamkeit, die knarrenden Betten, das eintönige Essen, die kratzenden Laken. Die anderen Gäste - zugegeben, die fand Kristen auch nicht unbedingt nett, was daran lag, dass sie weit über sechzig waren und für die Jugend kein Verständnis aufbringen konnten.
»Mom!«, krächzte Connor, der sich aktuell im Stimmbruch befand.
»Genug jetzt.« Kristen hielt dem Blick ihres Sohnes stand und kniff die Augen leicht zusammen. »Es sind nur ein paar Tage mehr, die wir hier verbringen. Genießt das Wetter, die Aussicht und die zusätzliche Freizeit.«
»Du hast keine Ahnung, wie wir uns fühlen, weil du nur an dich denkst und nicht an uns. Susan und ich haben ein Leben, Freunde, und zu denen wollen wir zurück! Du hast niemanden, der Zeit mit dir verbringen will und dafür lässt du uns jetzt büßen.«
Ihre Hand mit der Kaffeetasse zitterte. Vorsichtig stellte sie diese auf den Tisch und stand auf. Flüsternd, weil sie ihrer Stimme nicht traute, meinte sie: »Wir werden das zusammen aussitzen. Keine Widerworte!«
Auf dem Weg nach draußen wischte Kristen sich die Tränen von den Wangen. War es nicht schlimm genug, dass dieses unbekannte Virus die Welt in Atem hielt? Was hatte sie nur verbrochen, dass ihre Kinder zu diesen undankbaren Wesen herangewachsen waren?
Sie setzte sich auf die Bank, die sie in den letzten beiden Tagen öfter aufgesucht hatte, wenn Connor und Susan mal wieder gestritten oder sich in Smartphone-Zombies verwandelt hatten. War es so schwer zu verstehen, dass sie einfach nur ein paar schöne Tage mit ihren Kindern verbringen wollte? Fernab von ihrem Alltag und den Sorgen?
»Kristen.«
Sie drehte leicht den Kopf und nahm die Jacke entgegen, die Carter ihr hinhielt. »Danke.«
»Darf ich?«
Sie rutschte ein Stück zur Seite und er setzte sich neben sie. Kristen genoss die Aussicht auf die Highlands und den Loch Lomond. Es war wie Nachhausekommen. Das hatte sie in Edinburgh nicht.
»Kinder können solche Nervensägen sein.«
Halb schniefend, halb lachend stimmte sie zu. »Ich weiß echt nicht, was in sie gefahren ist.«
»Die Pubertät.« Carter legte den rechten Knöchel auf dem linken Knie ab. »Meine Tochter ist vierzehn und lebt bei ihrer Mutter. Oder vielmehr der Nanny. Ich wollte, dass sie bei mir lebt, aber aufgrund des schlechten Empfangs fiel die Entscheidung für ihre Mutter. Ich sehe sie alle zwei Wochen und höre nur Genörgel darüber, wie die Zeit an diesem Ort stehengeblieben ist. Lilly will Influencerin werden.«
Kristen schüttelte den Kopf. »Ich habe mit achtzehn geheiratet, mit neunzehn Connor auf die Welt gebracht und mit dreißig meinen Mann beerdigt.« Ihr Blick fokussierte einen kleinen Punkt in der Ferne. »Es war nicht leicht, zwei Kinder und den Job unter einen Hut zu bekommen. Genauer gesagt, werde ich vermutlich bald arbeitslos sein, und statt, dass meine Kinder den letzten Urlaub für eine sehr lange Zeit genießen, benehmen sie sich wie kleine Ärsche und geben für alles, was bei ihnen nicht funktioniert, mir die Schuld.«
Carter schwenkte auf das vertrauliche Du um. »Gib ihnen etwas Raum, um die Information zu verdauen. In der aktuellen Situation fällt es niemandem leicht. Alles ist ungewiss und fernab von normal.«
Sie wusste, dass er recht hatte. Und trotzdem nagte ein kleiner Zweifel an ihr: War es ihre Schuld, dass die Kinder so geworden waren? Hätte sie härter durchgreifen müssen?
»Wir sollten zurück.« Carter deutete auf den Himmel, der sich düster und dunkelgrau zusammenzog. »Ein Sturm zieht auf und das kann in den Bergen sehr ungemütlich werden.«
Carter hatte nicht untertrieben. Der Regen peitschte gegen die Fenster. Der Sturm ließ die Türen erzittern und die Bäume draußen tanzen. Der Wind pfiff heulend durch alle Ritzen.
Kristen beobachtete Connor dabei, wie er versuchte, eine Telefonverbindung zu seiner neuen Freundin herzustellen - vergeblich. Auch ohne das Unwetter war der Empfang mäßig bis schlecht. Er eilte von einem Fenster zum anderen, murmelte Flüche und beschwerte sich über das lahme, hinterwäldlerische Hotel.
»Mom?« Kristen sah zu ihrer Tochter, die in eine Decke eingekuschelt, auf dem Bett saß. Sie wirkte plötzlich gar nicht mehr so erwachsen. »Was bedeutet Quarantäne? Wie lange dauert das alles und was passiert mit uns? Sind wir krank und wenn ja, wie schlimm ist es? Werden wir sterben?«
»Aber nein, Liebling, wir werden nicht sterben.« Kristen versuchte all ihre Überzeugungskraft in die Worte zu legen. »Es bedeutet nur, dass wir ein paar Tage länger hierbleiben und Urlaub machen dürfen.«
»In den Nachrichten steht, dass Menschen daran gestorben sind.« Connor setzte sich in einigem Abstand zu ihnen auf das Bett.
Kristen strich sich eine blonde Locke hinter das Ohr. »Menschen sterben immer an Krankheiten. So traurig das auch ist, aber es trifft oftmals die älteren und vorbelasteten zuerst.«
»Was ist mit uns? Was, wenn jemand hier infiziert ist und uns ansteckt? Gibt es hier Ärzte?«
»Was willst du mit Ärzten, wenn keiner weiß, wie es behandelt werden kann?« Connor tippte auf seinem Telefon herum.
Kristen verdrehte die Augen. »Mach deiner Schwester nicht noch mehr Angst.« An ihre Tochter gewandt sagte sie: »Natürlich gibt es hier Ärzte. Ich denke allerdings nicht, dass wir welche benötigen.«
»Und falls doch?« Susan war mittlerweile die Panik in der Stimme anzuhören. »Hier gibt es nicht mal vernünftigen Empfang. Wie sollen wir jemanden erreichen, wenn wir Hilfe brauchen?«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Carter ein Festnetztelefon hat. Sollten wir einen Arzt benötigen, werden wir dieses benutzen.«
»Oh mein Gott!« Susan sprang plötzlich von dem Bett auf und hielt sich das Smartphone vor die aufgerissenen Augen.
»Ist alles in Ordnung?«
»Willows Mutter wurde positiv auf Corona getestet. Sie müssen jetzt alle Zuhause bleiben und abwarten, ob irgendwelche Symptome auftreten.« Zitternd ließ sich Susan auf der Bettkante nieder. Ihre Finger, die noch immer das Smartphone umklammerten, zitterten. »Das ist so furchtbar. Was, wenn sie sich alle anstecken und dann sterben?«
»Komm mal wieder runter, Sis. Grant und Billy sind auch in Quarantäne und warten noch auf die Ergebnisse. Grant sagt, ihm geht es bestens.«
»Aber Grant und Billy sind jung. Willows Mutter ist alt und damit gefährdet.«
Kristen verdrehte die Augen. »Mit alt sind nicht Mütter gemeint, sondern Menschen ab sechzig.«
»So wie Mrs Worthingten, meine Mathelehrerin«, bestätigte Connor. »Ich gönne ja niemandem was Schlechtes, aber die könnte ruhig für länger ausfallen.«
»Connor!«, ermahnte sie ihren Sohn.
Er hob die Schultern. »Ist doch so. Die alte Hexe.«
Das Licht flackerte kurz.
»Das ist ein Zeichen, Connor.« Susan lachte und schrie im nächsten Moment auf, als das Licht gänzlich ausging und sie im Dunklen saßen.
»Bestimmt nur eine Sicherung, die raus ist. Ich gehe zu Carter und frag mal nach«, versuchte Kristen ihre Kinder nicht unnötig zu ängstigen.
»Ich komme mit«, sagte Susan sofort und schaltete die Taschenlampe in ihrem Telefon ein.
»Und ich bleib hier nicht alleine.«
»Angst?«
»Einer muss euch doch beschützen. Ich bin schließlich der Mann im Haus.«
Kristen drückte die Hand ihres Sohnes. Das berührte sie sehr.
Der Strom war im ganzen Hotel ausgefallen. Die anderen Gäste waren aus den Zimmern gekommen und belagerten Carter, der mit einer Taschenlampe hinter dem kleinen Empfangstresen stand....