Schweitzer Fachinformationen
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Sommer 2011
Valerie fühlte sich leicht, als sie mit ihrem kleinen Handgepäckkoffer über eine der vielen Brücken von Amsterdam rollte. Der Junihimmel war grau, aber das schien die Möwen nicht zu stören, die in einem ganzen Schwarm über dem Wasser kreisten. Amsterdam war sogar bei diesem trüben Wetter wunderschön. Vorfreude stieg in Valerie auf wie kleine Blasen, die ihr im Magen und unter der Kopfhaut kribbelten. Sie freute sich auf das Wochenende mit ihrer Schwester, das so viel mehr war als nur ein Städtetrip. Für Valerie sollte es als Zäsur dienen zwischen ihrem alten Leben mit Björn und dem neuen Leben ohne ihn.
Es war sicher keine Meisterleistung, mit dreißig schon eine gescheiterte Ehe hinter sich zu haben. Sie hatte oft das Gefühl, anders zu sein als andere, die ihr Leben in einer »richtigen« Reihenfolge lebten. Abitur, Studium, Beruf, heiraten und Kinder bekommen. Manchmal kam es ihr vor, als würde das Leben ihrer damaligen Schulkameraden wie auf Schienen verlaufen, während sie selbst mehr als einmal entgleiste und schließlich den holprigen Weg durch den Wald nahm, weit entfernt von Bahnhöfen, die man angeblich dringend erreichen musste.
Sie schaute auf das Straßenschild an der Ecke, Bloemgracht, hier musste es sein. Sie blickte auf eine Reihe entzückender schmaler Häuser, eins schöner als das andere. Suchend lief sie die Straße entlang, bis sie ihr Hotel fand.
Eine knallgelbe Bank stand vor dem Haus, und im bodentiefen Fenster hing ein Fahrrad. Mit einem Lächeln trat sie ein. Ein langer, schmaler Raum tat sich vor ihr auf. Die Beleuchtung kam spärlich von ein paar kleinen Lampen an der Wand, dafür standen auf dem großen Tresen viele bunte Kerzenlichter.
Valerie machte im Kopf ein Foto und beschloss, in ihre kleine Kaffeeecke im Waschsalon auch Kerzen zu stellen. Ob sich das mit dem übrigen Ambiente vertrug, musste man sehen. Von den Holländern konnte man auf alle Fälle eine Menge lernen in Sachen Einrichtung und Gemütlichkeit, das wurde ihr auf dem Weg zum Tresen, der gleichzeitig als Rezeption fungierte, klar.
»Wie kann ich dir helfen?«, wurde sie sofort auf Englisch von einem gut aussehenden Kerl gefragt. Seine Locken trug er in einer eindrucksvollen Tolle auf dem Kopf.
Valerie nannte ihren Namen und wurde von ihm durch ein Labyrinth von Treppen in ihr kleines, aber immerhin zweietagiges Zimmer geführt.
Außer Atem, schloss sie die Tür hinter sich und musste dann direkt noch eine Treppe hochsteigen, die so steil war, dass man gut ein Seil und eine Spitzhacke hätte brauchen können, um sich nach oben zu hangeln. Valerie stellte den Koffer ab und warf sich rückwärts auf das gemütliche Bett, über dem ein kleiner Basketballkorb hing.
Valerie spürte, wie die Anspannung der letzten Monate langsam von ihr abfiel. So viel Wut, Trauer und Bedauern lagen hinter ihr. Jetzt konnte sie tatsächlich von vorne anfangen.
Sie rappelte sich zwischen den vielen Kissen zum Sitzen hoch und schaute aus dem Fenster auf den Kanal. Einige alte Kähne lagen am Ufer. Eine Entenfamilie schwamm vorbei. Hier konnte man gar nicht anders, man musste sich einfach entspannen.
Valeries Schwester hätte eigentlich schon vor ihr im Hotel sein müssen. Aus Köln brauchte man mit dem Zug nur knappe drei Stunden, wenn alles glattging. Anne hatte allerdings »Reisepech«, und weil sie fest daran glaubte, hatte jeder Zug und jedes Flugzeug, in das sie stieg, auch prompt stundenlang Verspätung.
Valerie war nach Amsterdam geflogen. Von München wäre es mit dem Zug zu weit gewesen. Zwischen Anne und ihr lagen knapp 600 Kilometer. Sie sahen sich definitiv zu selten. Anne hatte deshalb auch sofort zugestimmt, als Valerie sie fragte, ob sie mit ihr ein Wochenende in Amsterdam verbringen wollte.
Valerie zog ihr Handy aus ihrer Handtasche und wählte Annes Nummer.
»Zugverspätungszentrale, was kann ich für Sie tun?«, meldete sie sich.
»Wie sieht es aus?«, fragte Valerie.
»Erbärmlich. Ich glaube, ich breche meinen letzten Reisepechrekord. Wir sind gerade erst losgefahren und haben jetzt«, etwas schrappte über das Mikro, und ihre Stimme wurde vorübergehend dumpf, »drei Stunden und vierzig Minuten Verspätung!«
»Das ist eine echte Leistung auf so einer kurzen Strecke! Was war denn los?«
Anne ahmte jetzt eine Lautsprecherdurchsage nach: »Sehr geehrte Fahrgäste, leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass sich die Fahrt wegen einer Signalstörung verzögern wird. Wir sagen Ihnen aber nicht, wie lange, weil das für uns so viel lustiger ist. Wir danken für Ihr Verständnis.«
Anne würde also noch eine Weile brauchen, bis sie ankam.
Valerie beschloss, alleine loszuziehen.
Als sie aus dem Hotel trat, begann es zu nieseln. Sie lief die kleinen Gassen entlang, ging mal nach links, mal nach rechts und kam so auf eine Einkaufsstraße. Sie ließ sich von einem Laden zum nächsten treiben.
Überall fand sie etwas, was sich gut in ihrem neuen WG-Zimmer machen würde, aber sie hatte sich gerade von so vielen Dingen getrennt und wollte nicht sofort neue Sachen anhäufen.
Die gemeinsame Wohnung mit Björn war groß und schön gewesen. Altbau, dritter Stock, in der Nähe vom Gärtnerplatz, was für sie beide in München normalerweise unbezahlbar gewesen wäre. Björns Eltern hatten die Wohnung für sie gekauft. Valerie fand es in Ordnung, dass sie das Feld räumen musste, nachdem ihre Ehe gescheitert war.
Sie hatte ihm fast alle Möbelstücke und auch sonst sehr viel von der gemeinsamen Einrichtung überlassen. Es schien ihr unter ihrer Würde zu sein, jede CD in die Hand zu nehmen und zu entscheiden, ob es nun ihre oder seine war.
Außer ihren geliebten Büchern hatte sie fast nichts mitgenommen. Ihre Freundin Lena hatte zwar gesagt, Björn müsste ihr eigentlich eine Ablöse zahlen für alles, was sie gemeinsam angeschafft hatten, aber Valerie hatte keine Energie gehabt, das auch noch mit ihm zu diskutieren.
Björn hatte in den letzten zwei Jahren so viel an ihr rumgenörgelt. Diskussionen über alles und nichts waren an der Tagesordnung gewesen, immer war es darum gegangen, was Björn alles an Valerie verbesserungswürdig fand. Sie sollte sich besser anziehen, mehr Sport treiben und doch endlich das BWL-Studium beenden, das sie abgebrochen hatte, um den Waschsalon von Herrn Peters zu übernehmen. Obwohl sie sich in genau diesem Waschsalon kennengelernt hatten, verstand Björn nie, was er ihr bedeutete.
Die Diskussionen um ihr Leben wurden immer absurder, bis Valerie selbst anfing zu glauben, dass Björn vielleicht recht hatte und sie sich einfach mehr Mühe geben müsste, Dinge erreichen müsste, statt einfach so glücklich zu sein.
Eines Morgens wachte sie mit der glasklaren Gewissheit auf, dass sie tatsächlich etwas Grundlegendes an ihrem Leben ändern musste.
Nicht ihren Job, ihren Körper oder ihren Klamottenstil, sondern ihren Mann.
Björn hatte sich am Abend zuvor einen Spruch geleistet, der das Fass zum Überlaufen brachte. Er hatte gesagt, sie sei für ihn zurzeit eines der Hindernisse, die man im Leben eben manchmal überwinden müsste.
Damit hatte er, ohne es zu wissen, eine Tür in Valerie geöffnet. Die Tür zu einem Leben ohne ihn.
Björn war allerdings fassungslos, dass sie sich trennen wollte. Er hätte doch so viel Zeit investiert, Dinge in ihrem Leben »zu optimieren«, wie er sich ausdrückte. Es begann eine sehr unschöne Zeit mit vielen gegenseitigen Vorwürfen.
Valerie war froh, dass all das nun endlich hinter ihr lag. Sie wollte den ganzen Scherbenhaufen vergessen und neu anfangen.
Das Zimmer in der WG war ein Glücksfall gewesen. Es war günstig und lag in der Nähe ihres Waschsalons. Ihre Mitbewohnerin hatte sie erst einmal getroffen. Sie wusste nur, dass sie Elli hieß und eine Vorliebe für ausgefallene Kleider hatte. Als Valerie zur Besichtigung kam, trug sie einen kurzen abstehenden Petticoat und sah aus, als hätte sie sich zum Fasching als Fliegenpilz verkleidet. Ihre dunklen Haare hatte sie zu einem Dutt oben auf dem Kopf zusammengesteckt, ihre Lippen waren knallrot bemalt. Valerie gefiel das Zimmer, und Elli gefiel, dass Valerie keinen Kaffee wollte, sondern, genau wie sie, am liebsten Chaitee trank, je süßer, desto besser.
Gestern erst war sie eingezogen, wenn man das so nennen konnte. Eigentlich hatte sie nur, mit Lena zusammen, ihre wenigen Kisten in das leere Zimmer gestellt und dann die Nacht, in Ermangelung einer Matratze, bei ihrer Freundin verbracht.
Nach dem Wochenende in Amsterdam wollte sie zu IKEA fahren und alles Nötige besorgen.
Als sie aus dem Laden trat, regnete es in Strömen. Sie hätte doch den Schirm mitnehmen sollen, den ihr der Lockige an der Rezeption angeboten hatte. Valerie hatte abgelehnt, weil sie die Fähigkeit hatte, Schirme in kürzester Zeit zu verlieren. Sie steckte sie in einen beliebigen Schirmständer, und dort entmaterialisierten sie sich sofort.
Der Regen rauschte auf sie herunter. Sie setzte sich ihre Kapuze auf, was sie nur bedingt vor der Nässe schützte, und ging mit schnellem Schritt die Straße entlang und fiel...
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