Schweitzer Fachinformationen
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Meine Zelle ist drei mal vier Meter groß. Ein Stuhl, ein Schreibtisch, mehr Möbel gibt es nicht. Ich putze mir die Nase und finde keinen Papierkorb für mein Taschentuch. Auf der Straße hasten Leute vorbei. Alle haben es eilig nach drinnen zu kommen bei dem Gruselnieselwetter. Nur ich wünsche mich nach draußen. Gefangen im ersten Stock. Ich stelle mir vor, wie ich mich mit dem Ladekabel meines Laptops aus dem Fenster abseile. Probeweise ziehe ich an der dünnen grauen Schnur. Fühlt sich stabiler an, als ich dachte. Meine Jacke und den Laptop selbst würde ich zuerst vorsichtig aus dem Fenster werfen und dann am Kabel hinterherrutschen. Das könnte ich super hier am Fenstergriff festknoten. So ein Ladekabel kann man ja nachkaufen.
Eine kurze Recherche im Netz, und die Suchmaschine teilt mir mit, sie habe kein Ergebnis für »Flucht mit Ladekabel« gefunden. Dann eben nicht.
Noch achtundvierzig Minuten. Wie soll ich die überleben? Ich könnte autogenes Training machen. Aber dazu müsste ich mich auf den Boden legen, und der sieht so gar nicht einladend aus. Ich stehe auf und laufe ein bisschen hin und her. Viel Platz habe ich ja nicht. Da hinten links in dem Gebäude müsste die Kantine sein. Ich könnte mich schnell abseilen und mir einen Kaffee holen. Mit Kaffee in der Hand komme ich nie das Ladekabel wieder hoch. Ich könnte auch einfach raus auf den Flur gehen und nach einem Kaffee fragen, aber die Ansage war ganz klar, bitte hier in diesem Raum zu warten. Eine Stunde, die spinnen doch. Ob jeder eine Stunde in seiner kleinen Zelle sitzen muss, oder nur ich?
Wenigstens ein Glas Wasser hätten sie mir reinstellen können.
Ich will diesmal alles richtig machen, darum reiße ich mich jetzt zusammen und gehe zum achthundertsten Mal meinen Text durch.
Die erste Moderation mache ich im Sitzen, die zweite im Stehen, die dritte am Fenster, bei der vierten versuche ich die Yogaübung »Hund«, aber das geht gar nicht, dazu ist meine Hose zu eng. Ich komme in den Vierfüßlerstand und mache einen Katzenbuckel, dann ein Hohlkreuz. Katzenbuckel, Hohlkreuz, Katzenbuckel. Mein Nacken ist komplett verspannt. Noch immer sechsunddreißig Minuten. Falls sie pünktlich anfangen. Man fängt nie pünktlich an.
Wie viele sie wohl casten? Uns alle zu Einzelhaft zu verpflichten finde ich lächerlich. Niemand soll wissen, wer noch gecastet wird, doch am Ende bekommt man es sowieso heraus. Interessieren würde es mich schon. Ob Hannah Weide wieder dabei ist? Die blonde Allzweckwaffe mit der schrillen Stimme. Ich setze mich auf die Fersen, dazu muss ich einen Hosenknopf öffnen, und strecke die Arme so weit nach vorne, bis meine Stirn fast auf dem unhygienischen Büroboden liegt. Ich angle mir die Laptophülle vom Tisch. Darauf platziere ich meine Stirn. Der Geruch von Gummi steigt mir in die Nase, aber meine Nackenmuskulatur entspannt sich etwas. Stelle mir vor, die nächsten sechsunddreißig Minuten so auszuharren, da geht plötzlich die Tür auf.
»Frau Förster?« Der Aufnahmeleiter streckt seinen Kopf herein. Durch einen schmalen Spalt zwängt er dann seinen Oberkörper in meine Zelle, während seine Füße im Flur bleiben. Ein kleiner Mann mit dunkelbraunen, hip geschnittenen Haaren. Ich schätze ihn auf Mitte zwanzig. Er trägt ein Headset, was darauf hindeutet, dass sie im Studio schon angefangen haben. Ich richte mich so würdevoll wie möglich auf und ziehe mir schnell meine opalblaue Seidenbluse über die geöffnete Hose. Er beschließt nicht nachzufragen und informiert mich: »Wenn Sie soweit sind, können Sie schon in die Maske.«
Er formuliert es als Möglichkeit, dabei ist es ganz klar eine Anweisung. Ich bin froh, dass er mich aus meinem Gefängnis holt, kann aber nicht aufstehen, solange er zuschaut.
»Ich komme. Den Flur runter rechts?«, versuche ich ihn loszuwerden. Er versteht den Wink. »Ich warte vor der Tür.«
Bei meinem ersten Casting vor achtzehn Jahren hat mich keiner gesiezt. Der Aufnahmeleiter war ein kleiner Mann mit blonden, hip geschnittenen Haaren und einige Jahre älter als ich, also Mitte zwanzig. Enge Hosen hatte ich damals keine einzige, und die Yogaübung Hund kannte noch niemand in meinem Alter. Die Casting-Kandidaten wurden auch nicht einzeln in Zellen weggeschlossen, damit sie sich nicht begegneten. Wir saßen alle aufgeregt in einem großen Raum, einem Container. Es gab Cola und Brötchen, und beinahe niemand hatte irgendeine Fernseherfahrung vorzuweisen. Eine dünne Frau machte Polaroid-Fotos von jedem. Wir kreischten alle rum, wie hässlich wir aussähen und ob sie bitte noch ein Foto machen könnte. Nur eine sah auf ihrem Foto phantastisch aus: eine wunderschöne Asiatin, die als Praktikantin der Kindersendung, für die gecastet wurde, ein Heimspiel hatte. Jedem, der es nicht wissen wollte, erzählte sie, dass sie hier alle kannte und jeder ihr geraten hätte mitzumachen, obwohl ihr Wunsch, vor der Kamera zu arbeiten, eher gering sei. Ihre langen schwarzen Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten. Sie trug einen Minirock und Stiefel. Dauernd lehnte sie sich aus unserem Containerfenster, um irgendjemanden lautstark zu begrüßen. Neben ihr kam ich mir vor wie ein Dorftrottel.
Aber ich gewann das Casting auch in Turnschuhen und mit mittelbraunen Haaren. Ich weiß nicht, wann ich danach jemals wieder so unglaublich glücklich war. Ich habe - abgesehen von ein paar schlecht gedrehten Joints - nie Drogen genommen, aber genau so stelle ich mir einen Rausch vor.
Das war der Jackpot. Mit einundzwanzig Jahren wurde ich Moderatorin einer Kindersendung. Mein Partner war ein fusselig niedlicher Handpuppenhund. Ich durfte mit ihm um die Welt reisen und bekam auch noch eine Menge Geld dafür.
Nach der Zusage lief ich zwei Wochen wie auf Wolken herum.
Die Maskenbildnerin heißt Kerstin und kennt mich von einer Koch-Show, für die ich vor Jahren mal in Hamburg gedreht habe. Ich kann mich überhaupt nicht an sie erinnern, finde das aber unhöflich und täusche also vor, sie zu kennen. Ich kann mir generell nicht gut Gesichter merken. Mein Mann Tom weiß das und gibt mir immer dezente Hinweise, wenn wir auf der Straße entfernten Bekannten begegnen.
Als Person des öffentlichen Lebens darfst du nie zugeben, dass du dich nicht an den anderen erinnerst. Das würde ja bedeuten, dass er oder sie weniger wichtig ist als du, nur weil dein Gegenüber, an das du dich leider gar nicht erinnerst, sein Gesicht nicht ständig vor die Kamera hält. Ich bin also ziemlich geübt im So-tun-als-Ob.
Kerstin legt mir einen Umhang um und stellt die Kopfstütze richtig ein. Früher gab es Lockenwickler, heute kommt Hitzeschutzspray ins Haar, und das Glätteisen wird schon mal eingesteckt.
Wir plaudern über alte Zeiten. Ich lenke das Gespräch geschickt auf die Personen, an die ich mich erinnere, und wir lachen gemeinsam über den Regisseur, der immer im selben grauen Norwegerpulli auftauchte, egal ob Sommer oder Winter.
Kerstin reibt mir einen kühlenden Concealer unter die Augen und findet meine Stiefel schön. Ich verschweige, dass ich die extra gestern noch für dieses Casting in einer Hauruckaktion gekauft habe. Ich war bestimmt in vier Läden, bis ich sie gefunden hatte. Graue Wildlederstiefel mit kleinem Absatz, vorne spitz. Ein Hauch von Western, aber trotzdem elegant. Zu einer guten Maskenbildnerin gehört das Komplimenteritual. Nach den Stiefeln ist meine schöne Haut dran.
»Wie ein Pfirsich, Annabel, wirklich, wie ein Pfirsich!«
Routiniert trägt sie das Make-up mit einem pinkfarbenen Schwamm auf, der wie ein Ei geformt ist.
»Wie alt bist du jetzt?«
»Neununddreißig.« Im Zeitalter von Suchmaschinen kann man nicht mehr schummeln. Damit hätte ich dann schon konsequent vor achtzehn Jahren beginnen müssen, und wer denkt mit einundzwanzig daran, sich jünger zu machen?
»Waaaaas? Das hätte ich nicht gedacht. Du siehst aus wie Anfang dreißig!«
Obwohl ich weiß, dass es zu ihrem Komplimenteritual gehört, freue ich mich. Ich sehe tatsächlich nicht aus wie fast vierzig. Gut, Anfang dreißig ist jetzt vielleicht übertrieben, aber als sechsunddreißig gehe ich noch durch.
»Wir betonen wieder die Augen, gell?«, sagt sie vertraulich und schaut einmal unter meinen Umhang, um die Farbe meines Oberteils mit dem Lidschatten abzustimmen.
Klick, klick, klick, klackern die Schminkpinsel aneinander, als sie aus ihrer gut sortierten Tasche, die sorgfältig ausgebreitet auf dem Tisch vor dem Spiegel liegt, den richtigen auswählt. Ich mag dieses Geräusch. Es hat so etwas Beiläufiges, als wäre Fernsehen machen so unspektakulär wie Straße fegen.
Kerstin kann ihren Job. Bald leuchten meine Augen strahlend blau, als Echo meiner Seidenbluse. Ich fange an, mich richtig auf das Casting zu freuen. Ähnlich wie Kerstin kann ich meinen Job ganz gut. Ich war bei unzähligen Castings und weiß, worauf es ankommt. Wenn du richtig gut aussiehst, sind schon siebzig Prozent erfüllt. Die anderen dreißig sind Handwerkszeug.
An den siebzig Prozent habe ich gearbeitet. Ich war jeden zweiten Tag laufen, habe fleißig meine Yogastunden besucht und mir beim Friseur die ersten grauen Haare wegtönen lassen.
Die Produktion hat mir alle Filme, die ich anmoderieren soll, nach Hause geschickt. Ich konnte also mit fertig geschriebenen und gelernten Moderationstexten anreisen. Das ist eigentlich selten. Redakteure haben normalerweise Spaß daran, dir am Casting-Tag einen Stapel Arbeit auf den Tisch zu knallen, und dann hast du gewöhnlich ein, zwei Stunden, in denen du wie eine Wilde Anfänge und Enden der Filme schaust, für mehr ist keine Zeit, Moderationen in die Tastatur hackst und fiktive Interviews vorbereitest.
Das hier wird ein Kinderspiel. Wobei man...
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