Schweitzer Fachinformationen
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Die U-Bahn rast in den Tunnel. Angstfrei stürzt sie sich in das enge schwarze Loch, ohne ihre Geschwindigkeit auch nur ein bisschen zu verringern. Gleichgültig hält sie an Bahnhöfen, spuckt einen Schwall Menschen aus, um gleich darauf andere aufzusaugen. Wenn ich von meinem Manuskript aufblicke und aus Versehen aus dem Fenster schaue, gucken mich große, erschrockene grüne Augen an. Ich weiß nicht, warum mein Spiegelbild in der Scheibe immer diesen Ausdruck hat. Niemand auf der Welt hat Angst vor seinen eigenen Augen, sage ich mir und lese weiter.
Ab und zu fällt mir auf, wie schlecht die Luft hier in den Waggons ist. Beinahe fünf Millionen Menschen nutzen jeden Tag die Londoner U-Bahn, und ich bin einer von ihnen. Ich wohne in einem Vorort von London. Um zur Arbeit zu kommen, nehme ich den Bus und steige in Epping in die Tube, wie die U-Bahn liebevoll von den Briten genannt wird. Es ist die erste Station, weshalb ich immer einen Sitzplatz bekomme. Ich quetsche mich in eine Ecke, um nur einen Sitznachbarn zu haben, und lese. Mein Manuskript verstecke ich in einer Wohnzeitschrift, die inzwischen schon einige Jahre alt ist. Bisher hat das keiner bemerkt. Die Menschen sind immer mit sich selbst beschäftigt.
Das mag ich sehr an London, man lässt sich in Ruhe. Man spricht den anderen nicht an. Jeder in der Tube ist in seiner ganz persönlichen Blase. Viele haben Kopfhörer in den Ohren. Sie lesen, schlafen oder starren in die Gegend. Synchron wackeln alle, wenn der Zug hält und wenn er wieder anfährt. Manchmal denke ich, es ist wie ein gemeinsamer Tanz.
Alles in allem brauche ich über anderthalb Stunden, um die Haltestelle Notting Hill Gate zu erreichen. Ich werde mit dem Menschenstrom an die Oberfläche gespült und betrete eine ganz andere Welt. Londoner Vororte sind grau. Notting Hill ist bunt. An manchen Tagen schreien einen die Farben geradezu an.
Obwohl ich seit vier Jahren hier in der Gegend arbeite, habe ich immer noch das Gefühl, durch eine Filmkulisse zu laufen. Plattenläden wechseln sich mit Vintage- und Einrichtungsläden ab. Alles hat genau die richtige Größe. Alles stimmt. Nie habe ich so perfekte Blautöne gesehen an den Ladenfronten und so unglaublich passende Blumen in den Kästen davor. Als ob sie genau wüssten, dass sie in Notting Hill stehen, leisten sie sich keinen schiefen Wuchs, keine vertrockneten Blätter.
Aber vielleicht kommt nachts auch einfach eine Armee an Gärtnern und tauscht die verblühten, schief gewachsenen gegen perfekte neue aus.
Wenn ich könnte, würde ich die alten retten, so wie ich die Geschichten rette.
Ich gehöre nicht hierhin, genau wie die schiefen Blumen. Trotzdem ist es schön, durch diese Welt zu gehen. George Orwell hat hier gelebt, Jimi Hendrix ist hier gestorben.
Meine Schritte sind beschwingter, wenn ich durch die Portobello Road laufe. Manchmal nehme ich einen Umweg über eine Seitenstraße, um an dem Gewürzladen vorbeizukommen. Wenn man sich nähert, riecht es zuerst nach Curry, und dann glaubt man plötzlich, alles auf einmal zu riechen. Den Chickensalat meiner Oma, die Paella, die ich mal in Spanien am Meer gegessen habe, obwohl ich sie nicht mochte, ein Essen bei einer Freundin zu Hause, als wir noch in die Vorschule gingen. Am Gewürzladen vorbeizugehen, ist eine Zeitreise.
Wenn sich die Nase erholt hat, kommt der verrückte Schuhladen. Ich habe mich noch nie getraut hineinzugehen, aber ich gucke mir immer die Schuhe im Schaufenster an. Jedes Mal stehen andere drin. Heute sind es rote hohe Plateauschuhe, daneben flache plüschige mit Fell und niedliche mit Spitze und Schleifen. Sofort habe ich Geschichten und Menschen dazu im Kopf und weiß genau, wer welche Schuhe tragen würde.
Manchmal stelle ich mir auch vor, wie es wäre, den Laden zu betreten und ein Paar anzuprobieren. Ein ganz verrücktes Paar, das mit dem Kunstrasen und den Plastikblumen dran vielleicht. Ich würde es kaufen und mir zu Hause an einen besonderen Platz stellen, um es jeden Tag anzuschauen.
Man braucht besondere Füße, um solche Schuhe zu tragen. Füße, wie sie die Heldinnen in den Manuskripten haben, die ich ständig lese.
Ich reiße mich los und eile weiter. Ich werde wieder zu spät kommen. Die Zeit ist etwas Abstraktes für mich. Ich kann nicht begreifen, wieso eine Stunde mal unendlich lang ist und dann wieder wie im Flug vorbezieht. Die Minuten kommen mir manchmal so schnell abhanden wie Wassertropfen, die an einer Scheibe heruntergleiten.
Ich jogge die Stufen hoch und stemme die schwere Tür auf, die weiß gestrichen ist, in schönem Kontrast zu dem pinkfarbenen Haus.
Ich liebe diese Farbe. Man kann eigentlich nicht länger traurig sein, wenn man das Verlagshaus sieht. Es strahlt einen an mit seinem Pink, und man muss unwillkürlich zurückstrahlen.
Ich habe mich bei Anderson & Jones beworben, weil der Verleger ein Faible für romantische Romane hat, so wie ich.
Heimlich hatte ich gehofft, jemand würde meine Liebe für Geschichten entdecken. Ich stellte mir vor, jemand würde sagen: »Millie hat das gewisse Etwas. Sie ist wie ein Trüffelschwein für gute Geschichten. Wir sollten sie unbedingt zur Lektorin machen. Wie gut, dass sie da ist und wir gerade eine neue Lektorin brauchen!«
Natürlich ist das nie passiert. Ich bin nichts weiter als eine Bürohilfe, ein Mädchen für alles. Ich koordiniere die Termine für den Verleger, Mr Anderson. Das alleine ist aber nicht wirklich viel Arbeit, da er seit Jahren mit denselben Leuten arbeitet. Also mach ich auch alles andere, was noch so anfällt. Ich kopiere, koche Kaffee, räume die Spülmaschine in der kleinen Küche ein und aus, gehe einkaufen und staube die Bücherregale ab, weil das die Putzfrau immer vergisst. Ich finde, Bücher haben es nicht verdient, staubig zu sein. Dann habe ich noch diesen einen besonderen Job, bei dem sich die Härchen an meinen Armen vor Aufregung aufstellen.
Offiziell heißt es, ich soll den Dachboden aufräumen. Auf den Dachboden kommen alle alten Papiere, die kein Mensch mehr braucht, die aber auch keiner aussortieren will, denn das würde ja Zeit kosten. Also bringt hier jeder im Verlag in unregelmäßigen Abständen sein überflüssiges Papier in kleinen grauen Kartons ohne Deckel nach oben auf den Dachboden.
Aus den Augen, aus dem Sinn. Sollte man dann doch mal etwas vermissen, ist es ja noch da, irgendwo in den Untiefen unterm Dach.
Irgendwann war der kleine Raum voll, und ich hatte eine neue Aufgabe.
Zuerst habe ich mich nicht darum gerissen, bis ich die Schätze entdeckt habe.
Mrs Crane wirft mir ihren tadelnden Blick über ihre Brille hinweg zu, als ich um zehn nach neun an ihrem Pult vorbeilaufe. Ich grüße sie leise. Sie nickt nur und wendet sich wieder ihrem Computerbildschirm zu.
Ich vermute, dass sie ihre Brille nur trägt, um über die Gläser zu linsen. In diesem Blick liegt so ein großer Vorwurf, den könnte man mit Worten überhaupt nicht ausdrücken.
Mrs Crane sitzt an der Rezeption des kleinen Verlags, in dem ich arbeite. Niemand weiß, was genau sie eigentlich macht, denn es kommt nur sehr selten jemand zu Besuch. Sie sitzt am Computer, hat alle Termine im Griff und wirkt immer sehr beschäftigt und streng. Eigentlich mache ich alle Termine für Mr Anderson und schicke Mrs Crane nur die Liste weiter. Trotzdem tut sie so, als sei sie unendlich unentbehrlich.
An Mrs Crane müssen nicht nur die Besucher, sondern auch alle, die hier arbeiten, vorbei. Vermutlich ist das ihre eigentliche Funktion. Sie gibt einem direkt beim Reinkommen das Gefühl, man sollte sich hier lieber keinen Fehler erlauben.
Alterslos sitzt sie da, die Haare hochgesteckt. Sie trägt immer dunkelroten Lippenstift, der nie verwischt. Ich habe sie allerdings auch noch nie etwas essen oder trinken sehen. Mrs Crane ist der Grund, warum ich jeden Abend Herzklopfen habe und den Impuls unterdrücken muss, meine große Umhängetasche fest an mich zu pressen, wenn ich an ihr vorbeigehe. Jedes Mal befürchte ich, sie könnte etwas merken und mit ihrem strengen Blick durch meine geschlossene Tasche mein Geheimnis sehen.
Hinter ihrem weißen Pult geht man ein paar Steinstufen hoch und kommt durch eine Tür auf die Lektoratsetage. Sie sind der Motor unseres Verlags. Sie entscheiden, ob ein Manuskript veröffentlicht wird oder nicht. Sie geben den Geschichten den entscheidenden Schliff. Sie haben den Blick von außen, sehen das, was die Autoren nicht mehr sehen können. Bevor ich hier anfing, stellte ich mir vor, dass jeder Lektor einen Zauberstab besitzt, mit dem er Seite für Seite auf das Geschriebene tippt und die Geschichte so besser und schöner macht.
Wenn ich durch die stets geöffneten Bürotüren schaue, sitzt jeder vor seinem Bildschirm und schüttet Unmengen Kaffee in sich hinein. Das Zaubern ist eine mühsame Arbeit, die lange dauert. Ich bewundere die drei. Sie sind das Bindeglied zu den Autoren.
Von den Autoren wird meist ohne Namen gesprochen. »Mein Autor will das und das, mein Autor meint, der Autor lässt fragen, ob«, heißt es. Sie sprechen über sie, als seien Autoren seltene, seltsame Tiere. Vermutlich sind sie das auch.
Menschen, die Geschichten schreiben, müssen doch anders sein.
So wie die, die sie...
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